Der FDGB, die Gewerkschaft der DDR, in der über 9 Millionen

Der FDGB – untätig und
unfähig zur „Wende“
Die kritische Aktivität der meisten Gewerkschaftsmitglieder beschränkte sich darauf, die
Mitgliedschaft zu beenden oder den Gewerkschaftsbeitrag nicht mehr zu zahlen bzw. auf einem Sperrkonto zu deponieren. Das traf den Apparat empfindlich, kann jedoch nicht mit einer
Erneuerung der Gewerkschaften von der Basis
verwechselt werden.
Seit dem Rücktritt des Bundevorstandes des
FDGB Anfang Dezember ’89 war der gesamte
Apparat vor allem damit beschäftigt, einen ausserordentlichen Gewerkschaftskongreß vorzubereiten, auf dem einerseits mit der Vergangenheit abgerechnet und andererseits die neue Gewerkschaftspolitik vorgestellt werden sollte. Die
gewerkschaftliche Basis in den Betrieben und
Einrichtungen interessierte dabei kaum. Zu ihr
wurden Funktionäre aus den Kreisvorständen
geschickt, die allerdings selbst oft nicht wußten,
was sie dort tun und sagen sollten. Auf die SituaWo sind die Gewerkschaften geblieben?
tion in den Betrieben gab es vom FDGB keine
Antworten.
Der FDGB, die Gewerkschaft der DDR, in der
über 9 Millionen „Werktätige“ organisiert waren,
In dieser Situation ergriffen einzelne betriebli-
spielte im Herbst ’89 als Organisation keine re-
che Gewerkschaftsfunktionäre, Vertrauensleute
volutionäre, nicht einmal eine aktive Rolle. Un-
und Mitglieder der Betriebsgewerkschaftslei-
gerührt von der Entwicklung im Land stellte sich
tungen die Initiative. Sie sammelten aktive
der Bundesvorstand des FDGB noch immer an
KollegInnen um sich, nutzten die vorhandenen
die Seite von Partei und Staat, als dort bereits
Strukturen oder Räume und versuchten, die Ar-
die sogenannte Dialogpolitik angesagt war. Den
beit fortzusetzen oder neu zu gestalten. Der
FDGB-Bundesvorstand
zahlreiche
Bundesvorstand des FDGB, seine Bezirks- und
Proteste und Aufforderungen, endlich eine Wen-
Branchenvorstände waren mit sich und der neu-
de in der Politik einzuleiten. Forderungen nach
en Machtverteilung beschäftigt. Einer Erneue-
Rücktritt von Harry Tisch wurden immer massi-
rung von der Mitgliederbasis aus standen sie
ver. Am 2. November trat der FDGB-Vorsitzende
eher mißtrauisch gegenüber. Auch die Versuche
von seiner Funktion zurück, am 9. Dezember
von Reformern im FDGB, die sich im Umkreis
folgte ihm der gesamte Bundesvorstand. Die
der
Empörung der Gewerkschaftsmitglieder aber
Bernau gesammelt hatten, mußten letztlich am
steigerte sich erst richtig, als in rascher Folge
Beharrungsvermögen des hauptamtlichen Ap-
ab Ende Oktober Veruntreuungen von Gewerk-
parates scheitern. Eine halbherzige Organisa-
schaftsgeldern und diverse Funktionärsprivile-
tionsreform auf dem außerordentlichen FDGB-
gien bekannt werden.
Kongreß am 31. Januar und 1. Februar 1990 er-
erreichten
gewerkschaftseigenen
Hochschule
in
wies sich für den FDGB als „Wende zum Ende“.
Die Branchengewerkschaften waren längst mit
dem Übergang in die entsprechende Westgewerkschaft befaßt. Abgesehen von einzelnen
Funktionären hatte der FDGB keinen Beitrag für
eine Erneuerung betrieblicher Interessenvertretung geleistet, nicht zuletzt seine historisch gewachsene Angst vor der eigenen Mitgliedschaft
verhinderte ’89 einen gewerkschaftlichen Neuanfang.
Heute wie damals mutet es etwas seltsam an, mit welcher Leidenschaft sich die Mitglieder über die
privilegierte Lebensweise ihrer Gewerkschaftsfunktionäre empörten. In diesen Äußerungen schwingt
immer auch das Gefühl mit, sich nun nicht mehr betrügen zu lassen, nicht mehr der dumme Mitläufer
und Befehlsempfänger zu sein. Der Ärger über die eigene Passivität steigerte den Frust erheblich.