Hermann Kurzke Thomas Mann: Tonio Kröger Reclam Thomas Mann: Tonio Kröger Von Hermann Kurzke Dietrich Bode zum Sechzigsten Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten. Novalis I Thomas Mann schrieb an Tonio Kröger im Zeitraum vom Dezember 1900 bis etwa November 1902, also ziemlich lange; es war ein mühsamer Prozess. Der große Roman Buddenbrooks war zwar fertig, aber der Ruhm stand noch aus. Thomas Mann litt, sprach am 13. Februar 1901 in einem Brief an den Bruder gar von »vollkommen ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen«, die er hinter sich habe, die aber auch mit »einem unbeschreiblichen, reinen und unverhofften Herzensglück« gewechselt hätten.1 Er meint damit die Liebe zu dem jungen Maler Paul Ehrenberg, die ihm bewiesen habe, »daß es in mir doch noch etwas Ehrliches, Warmes und Gutes giebt und nicht bloß ›Ironie‹, daß in mir noch nicht Alles von der verfluchten Litteratur verödet, verkünstelt 1 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hermann Kurzke Thomas Mann: Tonio Kröger Reclam und zerfressen ist. Ach, die Litteratur ist der Tod!« Die Erlösung vom Tode durch die Liebe zu Paul Ehrenberg wollte aber nicht anhalten. Mann erkannte, dass er sein Leben nicht auf der Homosexualität aufbauen wollte. Das Ehrenberg-Erlebnis wird abgelöst durch die Werbung um Katja Pringsheim, die im Oktober 1904 zur Verlobung und im Februar 1905 zur Hochzeit führt. Diese Erprobungs-, Krisen- und Umbruchsjahre, Jahre unmittelbar vor einer großen Lebenswende, bilden den biographischen Hintergrund zu Tonio Kröger (1903). Es ist die Erzählung eines Mannes, dessen ziellose Erfahrungen den ihnen bestimmten Ausweg noch nicht gefunden haben, das Produkt einer unbestimmten Sehnsucht nach dem »Leben«, die erst durch die Heirat einigermaßen pazifiziert wird. Üblicherweise pflegt eine Tonio-Kröger-Interpretation auf die Polarität von Künstler und Bürger abzuheben. Man kann dann erst einmal autobiographisch ansetzen und die Thematik der Erzählung aus dem Leben Thomas Manns ableiten, soweit er es offenkundig verwendet hat. Denn nicht nur Einzelheiten wie den Walnussbaum oder die Reise nach Aalsgaard gab es wirklich, sondern die ganze Grundkonstellation ist fast ungefiltert autobiographisch. Auch Thomas Mann war ja, wie Tonio Kröger, ein Lübecker Patriziersohn und ein indolenter Gymnasiast; auch seine Mutter war exotischer Herkunft, auch sein Vater starb früh, worauf die Firma aufgelöst wurde und die Mutter in den Süden zog, auch er wurde dann Literat in München-Schwabing. Auch er pflegte sich ordentlich anzuziehen und zur Boheme eine gewisse Distanz zu halten. Auch er ist, wie Lisaweta von Tonio sagt, »ein verirrter Bürger« (305).2 Allerdings läuft eine solche Interpretation Gefahr, die Erzählung zu einer reinen Privatgeschichte zu machen, die im Extremfall nur noch für entwurzelte Lübecker Patriziersöhne von Interesse wäre. Sollte man also, um vom Individuellen aufs Generelle zu kommen, lieber sozialgeschichtlich ansetzen? Man könnte dann auf den zeittypischen Gegensatz 2 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hermann Kurzke Thomas Mann: Tonio Kröger Reclam zwischen der leistungsstolzen gründerzeitlichen Bourgeoisie und einem BohemeKünstlertum verweisen, das auf seine Unabhängigkeit vom Leben, vom Markte und von der spießbürgerlichen Moralität stolz ist. Wichtige Szenen des Tonio Kröger spielen ja in der Schwabinger Boheme. Das Atelier der Lisaweta Iwanowna ist ein typischer Boheme-Schauplatz, und Adalbert der Novellist ist ein typischer Kaffeehausliterat. Das Kaffeehaus3 ist die Sphäre, in der man vom Frühling und vom »Leben« nicht gestört wird und insofern reiner Künstler sein kann. Es stellt »die entrückte und erhabene Sphäre des Literarischen dar« (294). Im Kaffeehaus entsteht Literatur für Literaten. Die literarische Welt unterhält sich mit sich selbst. Die bürgerliche Gesellschaft und die soziale Realität sind fern und unwirklich. Die Kunst ist das Einzige, was zählt. Sie ist frei von den stets kompromittierenden Ansprüchen der Wirklichkeit. Auch Tonio Kröger ist ein Ästhetizist dieses Sinnes. Er hält es für einen Kunstfehler, wenn das Wirkliche, eine Empfindung, eine Tendenz, ein nichtkünstlerisches Wollen oder ein Bekenntnis ins Kunstwerk eindringen. Künstlerisch sei nicht das warm Empfundene, sondern nur die kalte Ekstase des artistischen Nervensystems (295). Zu bemängeln fand Thomas Mann in diesem Sinne sogar seine eigene Erzählung. Das Bekenntnis zum Leben gehe in seiner Deutlichkeit und Direktheit bis zum Unkünstlerischen, schrieb er an Kurt Martens.4 Sozialgeschichtlich betrachtet könnte die Erzählung als Versuch der Versöhnung von Boheme und Bourgeoisie verstanden werden, sofern das reine Bohemedasein zurückgewiesen wird und Thomas Mann seine Kunstfigur darauf bestehen lässt, dass nur die Bürgerliebe zum Gewöhnlichen aus einem Literaten einen Dichter mache (338).5 Ein Literat in diesem Sinne ist der dem Leben nicht verpflichtete, »wirklichkeitsrein« ästhetizistische Bohemien. Der »Dichter« hingegen fühlt sich dem bürgerlichen Leben verbunden und verpflichtet. 3 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hermann Kurzke Thomas Mann: Tonio Kröger Reclam Die sozialgeschichtliche Deutung geht allerdings schon deshalb nicht ganz auf, weil die gründerzeitliche Bourgeoisie in der Erzählung kaum vorkommt. Es gibt zwar Tonios Vater, den langen, sinnenden Herrn mit der Feldblume im Knopfloch, aber er ist eine Verfallsfigur wie Thomas Buddenbrook, von Storm und Turgenjew beeinflusst,6 und tritt als Kapitalist im Grunde nicht in Erscheinung. Auch im übrigen Verlauf treten »Bürger« nur als Randfiguren auf. Eine repräsentative Gegenfigur zum »Künstler« Tonio Kröger fehlt. Wie immer bei Thomas Mann ist auch hier das Sozialgeschichtliche sekundär. Wenn man rein strukturanalytisch die Motive betrachtet, die Thomas Mann dem Bürgerlichen einerseits, dem Künstlerischen andererseits zuordnet, dann zeigt sich auch ein anderes Bild. Jeder verständigen Lektüre fällt ja schnell auf, dass die Motive einer Art von allegorischer Syntax folgen. Sie lassen sich in der Regel einer Antithesenkette zuordnen, die im Prinzip nach dem folgenden Schema funktioniert: Künstler Geist Erkenntnis Durchschauen »Tonio« Mutter (liederlich) Zigeuner im grünen Wagen Süden, Italien München-Schwabing Fixativ Magdalena Vermehren Hamlet, Don Carlos, Immensee 4 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Bürger Leben Empfindung Naivität »Kröger« Vater (korrekt) Konsul Krögers Sohn Norden, Dänemark Lübeck Frühlingsarom Ingeborg Holm Pferdebücher usw. Hermann Kurzke Thomas Mann: Tonio Kröger Reclam Zum Bürgerlichen gehört danach wesentlich die sich selbst nicht reflektierende Naivität des Lebens, zum Künstlerischen hingegen der Geist im Sinne einer reflexiven Distanz zum Leben. Hinter dem soziologischen Begriff des Bürgers wird ein philosophischmetaphysischer sichtbar: der von Nietzsche inspirierte Begriff des Lebens. Dass Ingeborg Holm »auf eine gewisse übermütige Art lachend den Kopf zur Seite warf, auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht besonders schmale, gar nicht besonders feine Kleinmädchenhand zum Hinterkopfe führte« (281 f.), deutet nicht auf etwas Soziologisches, sondern auf den Begriff des Lebens. Das isolierte Lebensdetail, der flüchtig vorbeihuschende Lebensausschnitt, der irrationale, sich in kein Begriffssystem einfügende, der zergliedernden Erkenntnis widerstehende Augenblick, das unvorhergesehene Erlebnis: sie konstituieren »Leben«, nicht Bürgerlichkeit. »Geist« und »Leben« bilden insofern die fundamentalere Antithese als »Künstler« und »Bürger«. Weil der Grundgegensatz dieser Erzählung also ein philosophischer ist, ist es konsequent, dass auch ihr entstehungsgeschichtlicher Ausgangspunkt nicht irgendeine Handlung oder ein Charakter war, sondern ein theoretisches Problem. Sie sollte nicht von ungefähr ursprünglich den Titel Litteratur tragen.7 Ihre Mitte bildet ein Kunstgespräch. Die dort entfaltete Theorie strukturiert die erzählenden Passagen, nicht umgekehrt. Das Goethesche »Bilde, Künstler, rede nicht« hat Thomas Mann hier außer Acht gelassen. Er hat vielmehr exzessiv »geredet«. Infolge dieser von einer philosophischen Antithese bestimmten Anlage weist die Struktur der Erzählung eine eigentümliche Statik auf. Am deutlichsten zeigen dies die Leitmotive. Leitmotive werden als solche erkennbar durch Wiederholung. Wiederholungen von präfigurativen Ursituationen prägen, anstelle von Handlungsfortschritten, den Bau des Tonio Kröger. Das erste Kapitel (Liebe zu Hans 5 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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