Seite 11 charmant gelesen Seite 5 zornig geschrieben Seite 16 naiv gemalt Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen 18. Jahrgang 2015 Heft 4 Lilli Zimet, Martin Buber und der Lehnitzsee Carol Ascher A uch mit vierundneunzig Jahren hat Lilli Zimet, schlank und sorgsam zurechtgemacht, ihre „Berliner Schnauze“, die Scharfzüngigkeit ihrer Geburtsstadt, nicht verloren. Heute lebt sie allein und großenteils ans Haus gebunden in einem ordentlichen zweistöckigen Haus in Poughkeepsie im Staat New York. Ihr Ehemann, Rabbiner Erwin Zimet, übernahm, aus Europa geflohen, im Jahr 1946 die Leitung der Synagoge Temple Beth El in Poughkeepsie, der damals fünfzehn Familien angehörten. Seine Ausstrahlung und das lebendige Programm ließen die konservative Gemeinde bis zu seinem Tod 1989 auf neunhundert Familien anwachsen. Als ich im Gespräch mit Lilli kürzlich meine intensive Beschäftigung mit einer Biographie Martin Bubers erwähnte, überraschte sie mich mit ihrer Erinnerung an ihre Begegnung mit Buber, wie er in den um den Lehnitzsee gelegenen Wäldern bei Berlin mit jüdischen Lehrerinnen und Lehrern sprach. Es war Buber, der unkonventionelle Denker und Vermittler des Chassidismus, der angesichts der psychischen Verwundbarkeit assimilierter deutscher Juden durch Antisemitismus die Dringlichkeit sah, „Kraft und mentale Stärke“ durch Vertiefung ins Judentum zu stiften.1 Martin Buber, 1873 in Wien geboren, verbrachte den Großteil seiner Schulzeit bei den Großeltern, frommen Maskilim, in Galizien, unweit chassidischer Gemeinden. Er studierte Philosophie an verschiedenen Hochschulen Europas, nahm eine Nichtjüdin zur Frau und besuchte keine synagogalen Gottesdienste. Doch unterrichtete er später Philosophie und Jüdische Religion an der Universität Frankfurt. Sein Werk Ich und Du, 1923 erschienen, war bahnbrechend für Juden wie Christen durch seine These, die tiefgehende „Ich-Du“-Begegnung mit einem Gegenüber bringe uns zum „Du“ unserer Beziehung zu Gott. Auch nach der erzwungenen Emigration aus NS-Deutschland war Bubers Glaube stark genug, ihn zu der Behauptung zu bewegen, dass die wahre Bedeutung von Nächstenliebe nicht die eines Befehls Gottes sei, dem es zu folgen gelte, sondern wir durch sie und in ihr Gott selbst träfen. In ihren Jugendjahren, als 1933 Hitler an die Macht gelangte, waren Lilli und ihre Cousine, meine Mutter, patriotische Deutsche. Sie besuchten selbstverständlich deutsche Schulen, interessierten sich für deutsche Literatur und das Theater und verehrten die großen deutschen Komponisten. Und obwohl ihre beiden Familien an den Hohen Feiertagen die beliebte Synagoge Fasanenstraße besuchten und jede Familie ihre eigene, spezifische Koscher-Version einhielt, bot das Judentum ihnen nur wenig spirituellen Trost und Geborgenheit im Alltag. „Vor Hitler waren wir uns unseres Jüdischseins nicht sonderlich bewusst,“ erinnerte sich Lilli, damals Lilli Gehr. „Er ließ das Jüdischsein sehr viel wirklicher werden.“ Als der Biologielehrer meiner Mutter, ein Nationalsozialist, im Unterricht die Juden als eine degenerierte Form der Menschheit bezeichnete und die Freundinnen meiner Mutter die Straßenseite wechselten, um sie zu meiden, brach sie einfach die Schule ab. Lilli aber liebte den Musikunterricht in ihrem Lyzeum, und ihre Freundinnen hielten zu ihr. Sie konnte 1935 noch ihren Abschluss machen, unmit- Foto: Familie Zimet ZUVERSICHT 2 telbar bevor der NS-Staat mittels der sogenannten „Nürnberger Gesetze“ die jüdischen Staatsbürger entrechtete. Die Ziele von Bubers Bildungsvorstellung waren, das Lehrpersonal und Schülerinnen und Schüler so gut wie irgend möglich bei der Bewältigung ihres Schicksals, wo immer dies sie hinführen würde, zu unterstützen. Auch angesichts der zunehmend unerträglichen Lebensbedingungen sollte dies mit „Mut und Zuversicht durch tiefere Bejahung ihres Jüdischseins“ geschehen.2 Judentum, so Buber, sei nicht in der Ausübung statischer Gebote am stärksten, sondern als ein lebendiges Judentum, und das gerade unter den Bedrängnissen seitens des NSRegimes. Menschsein sollte durch Jüdischsein entdeckt werden und auch in Zeiten extremer Not sollten Juden Vertrauen in sich und ihren Glauben finden können. Detailliert erarbeitete Buber den Lehrplan und die Pädagogik, welche seiner Arbeit zugrunde liegen würden. Lehrerinnen und Lehrer wie Schülerinnen und Schüler sollten sich in ihren zukünftigen Heimatländern als Juden zurechtfinden und auch unter schwersten Bedingungen seelisch unantastbar bleiben. In den nächsten Jahren reiste Buber nach Berlin, Breslau, Frankfurt, Mannheim, München, Stuttgart und in Dutzende weiterer Städte inner- und außerhalb Deutschlands, in welchen er lehrte, Trost spendete und die Widerstandskraft seiner Zuhörer stärkte. Große Hoffnungen setzte Buber auf eine geeinte deutsch-jüdische Antwort auf den Nationalsozialismus, und er glaubte fest daran, dass Juden aus einer solchen genuinen, geeinten Gemeinschaft gestärkt hervorgehen würden. Infolgedessen trat er für die Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern unterschiedlicher Observanz in jüdischen Schulen ein, an welchen wiederum Schülerinnen und Schüler traditionsübergreifend unterrichtet werden sollten. Bloßes Tolerieren von Unterschieden jedoch war Buber nicht genug. Indem sie Uneinigkeit und Konflikte selbst aufarbeiteten, sollten sie gegenseitige Scheu überwinden und so eine wahrhaftige Gemeinschaft aus unterschiedlichen Sichtweisen gründen.3 Auf dem Lehrplan der Schulen sollten Hebräisch, das Studium der Bibel, die Geschichte der Juden sowie die Soziologie deutscher Juden und ihrer Kultur stehen. Wie Buber sagte: „Laßt niemanden fragen, für welches Land wir unsere Kinder denn ausbilden wollen; für Palästina, wenn es so sein soll; für irgendein anderes fremdes Land, wenn es sein muß; für Deutschland, wenn es sein kann“.4 Trotz der stetig wachsenden Bedrohung durch das nationalsozialistische Regime trat Buber für eine bedachte und hinterfragende Bildung mit langem Atem ein, welche in einer Atmosphäre intellektueller Freiheit vermittelt werden sollte. Lehrerinnen und Lehrer würden vor allem durch ihre Persönlichkeit und ihr Vorbild wirken. Sie sollten sich ihren Schülerinnen und Schülern in einer „IchDu“-Beziehung öffnen, während sie die vergangenen und gegenwärtigen Manifestationen ihrer Religion, im Spirituellen wie im Praktischen, mit ihnen erkundeten. Die Tora, zu guter Letzt, sollte nach Martin Buber laut und mit Bedacht vorgelesen werden, um ihren Ruf den Anwesenden hörbar werden zu lassen. „Das biblische Wort,“ so Buber, „ist auch von den Situationen seiner Gesprochenheit nicht abzulösen, sonst verliert es seine Konkretheit, seine Leiblichkeit. Ein Gebot ist keine Sentenz, sondern eine Anrede“.5 Buber und Franz Rosenzweig hatten die Tora zuvor gemeinsam neu verdeutscht. Da nur wenige deutsche Juden das Hebräische hatten lesen können, waren Toralesungen nun weit verbreitet. Lilli Gehr, die Lehrerin werden wollte, schloss sich einer Gruppe von fünfzehn Frauen an, die einen von Nelly Wolffheim geleiteten anderthalbjährigen Kurs besuchten. Nelly Wolffheim war Schülerin von Maria Montessori und selbst eine Ausgestoßene unter Hitler. Auch wenn die Schule nicht staatlich anerkannt war und der Unterricht in einer Privatwohnung in der Wilmersdorfer Straße stattfand, zeichnete sich Wolffheims Unterricht durch die intensive Verbindung von jüdischen Studien, Pädagogik und Psychologie aus. „Zu Beginn,“ erinnerte sich Lilli, „waren die jüdischen Studien eher zufälliges Beiwerk im Curriculum. Wir waren vor allem deshalb auf einer jüdischen Schule, weil die anderen Schulen uns nicht aufnehmen wollten. Mit der Zeit allerdings wurde uns bewusst, diese jüdische Musik, diese jüdische Kunst gehören uns. Wir fanden völlig neues Gefallen an unserer Herkunft, und so war es gut, davon zu wissen.“ Als Absolventin von Nelly Wolffheims Kurs wurde Lilli im Jahr 1936 von der Privaten Jüdischen Waldschule Kaliski angestellt. Lotte Kaliski, eine junge Frau aus Breslau, war als Lehrerin ausgebildet, hatte jedoch aufgrund einer schweren Gehbehinde- FORTBE STEHEN Foto: Familie Zimet rung als Folge von Kinderlähmung keine Anstellung finden können. 1932 hatte sie daraufhin ihre eigene Schule eröffnet, die den Fokus auf frische Luft und körperliche Ertüchtigung legte. Nach Hitlers Machtübernahme konzentrierte sich Lotte Kaliski bald auf den Unterricht der Kinder vom ersten bis zum zwölften Schuljahr. Nachdem ihre Schule wegen Beschwerden nichtjüdischer Nachbarn mehrfach hatte umziehen müssen, hatte sich Lotte Kaliski schließlich in einer kürzlich von einer jüdischen Familie verlassenen Villa in Berlin-Dahlem, Im Dol, niedergelassen. Dort war Lilli zunächst für das auf den Unterricht folgende Nachmittagsprogramm der Kinder zuständig. Lilli erinnerte sich gut an das große Speisezimmer, worin die Kinder zu Mittag aßen und das Lehrpersonal sich zu Besprechungen traf. Auch eine schöne Terrasse gab es, auf welcher sie mit den jüngeren Kindern handarbeitete und ihnen bei den Hausaufgaben half. Entsprechend den Grundsätzen Martin Bubers erhielten die Schülerinnen und Schüler der KaliskiSchule Unterricht in den gängigen Fächern sowie in Hebräisch, dem Studium der Bibel, dem Zionismus und der jüdischen Geschichte. Auch den Kreislauf der jüdischen Feiertage lernten sie an der KaliskiSchule kennen. Das erste Projekt Lillis dort war es, den Oneg Schabbat, welchen sie durch eine Musiklehrerin Nelly Wolffheims kennengelernt hatte, zu organisieren, was sie „mit Begeisterung ausrichtete“. Als eine wachsende Zahl von jüdischen Familien begann, ihre Flucht aus Deutschland vorzubereiten, wurde auch die englische Sprache in den Lehrplan aufgenommen, um die Kinder auf eine Immatrikulation an britischen oder amerikanischen Universitäten und Colleges vorzubereiten. Lilli war es als junger Lehrerin nicht bewusst, wie eng Martin Bubers Ziele mit dem Lehrplan, dem sie als Schülerin wie auch als Lehrerin gefolgt war, verknüpft waren. Doch erinnerte sie sich, wie durch die Dominanz des „Ariertums“ die innerjüdischen Unterschiede in den Hintergrund zu treten begannen. Rückblickend erkannte sie, dass „Druck von außen sich mit der Präsenz Bubers vereint“ hatte und aus dieser Kombination ihre so wirkmächtige Ausbildung während dieser Zeit erwachsen war. Eines Nachmittags saßen Lilli und ich auf dem Sofa und blätterten durch ein altes Fotoalbum, das sie hervorgeholt hatte. Ordentlich auf Seiten aus Bastelpapier geklebt befanden sich darin Fotografien von Martin Buber, wie er, entspannt auf einem Gartenstuhl unter Bäumen sitzend, mit einer Gruppe junger Leute sprach. Mit Wärme in der Stimme erinnerte sich Lilli: „Ja, das war in Lehnitz am See...“ Schon 1934 war das Erholungsheim am Lehnitzsee Teil der jüdischen Bildungsbewegung geworden. Junge Mädchen hatten dort die Möglichkeit, Haushaltsführung und Hauswirtschaftslehre zu erlernen, um sie auf eine Berufstätigkeit in ihren neuen Heimatländern vorzubereiten. Darüber hinaus fanden über mehrere Sommer Konferenzen zum Thema Jüdische Bildung statt, welche viele Lehrende aus dem Großraum Berlin nach Lehnitz brachten. Martin Bubers Vorträge über biblische Erzählformen, die Wichtigkeit jüdischer Erziehung und die Rolle des Lehrpersonals bei der Bildung einer jüdischen Gemeinschaft zählten zu den Höhepunkten dieser Konferenzen. In Lehnitz begegnete Lilli auch Erwin Zimet, einem Gitarre spielenden Studenten zum Rabbinat aus Berlin, der Judentum und Hebräisch unterrichtete und für die Gäste des Erholungsheims den Schabbat- und andere Gottesdienste leitete. Als Bewunderer Bubers war der Jungrabbiner angesichts der ständig wachsenden Bedrohung darauf bedacht, Juden Kraft und Mut durch ihren Glauben zu geben. „Wir stammten aus unterschiedlichen Stadtteilen Berlins,“ erzählte Lilli lächelnd und spielte damit auf Zimets Berliner Nachbarschaft an, in welcher die traditionellsten Juden lebten. Darüber hinaus, so erinnerte sich Lilli, „war Erwin vielbeschäftigt mit seinem Studium, weshalb wir uns nicht oft sahen. Doch natürlich hatte jeder bemerkt, dass es zwischen uns gefunkt hatte.“ Lillis Fotoalbum enthielt auch Fotografien von Lehnitz aus dem Jahr 2004, in dem Lilli mit ihrer Tochter Miriam das Anwesen am Seeufer besucht hatte, welches für sie mit dem Beginn ihres neuen Lebens als Ehefrau eines Rabbiners verknüpft ist. Das einstige Erholungsheim stand leer und war vom Verfall bedroht. Trotzdem waren Lilli und Miriam die breite Treppe hinaufgestiegen und über die verlassenen Korridore gelaufen, sie hatten sogar die kleine Synagoge im Untergeschoss aufgesucht, die am 9. November 1938 in der „Reichskristallnacht“ zerstört worden war. Auch schon vor den Verwüstungen der „Kristallnacht“ war 1938 ein Wendepunkt im Leben von Lilli eingetreten: Sie war in Lotte Kaliskis Schule, als die Nachricht von der Deportation Erwin Zimets und seines Vaters sie erreichte. Vater und Foto: Jüdisches Museum Berlin Erwin Zimet mit den Schülerinnen musizierend, 1935 3 FORTBESTEHEN Erwin Zimet im Biographischen Handbuch der Rabbiner, Band II,2, online unter: http://www.steinheim-institut.de/bhr2.pdf Bodo Becker: Das „Jüdische Erholungsheim Lehnitz“. „Ein Heim wie dieses ist nicht nur eine leibliche Wohltat“. Berlin Hentrich und Hentrich (Jüdische Miniaturen; 130) 2013. 80 S., Abb. ISBN 978-3-942271-78-3 8,90 Euro 4 Sohn besaßen polnische Pässe und waren in ein Lager im Niemandsland an der polnischen Grenze deportiert worden.6 Nur wenige Wochen später musste die Kaliski-Schule ihre Türen schließen, als Reichsaußenminister von Ribbentrop die Villa der Schule für eigene Zwecke beschlagnahmte. Trotz abnehmender Schülerzahlen hatte die Schule in ihren fünf Jahren über vierhundert Schülerinnen und Schüler der Grund- und Sekundarstufe unterrichtet. Ende 1938 emigrierte Lilli nach London, wo sie Arbeit als Erzieherin fand. Lotte Kaliski war derweil auf dem Weg nach New York. Und selbst Martin Buber, der das Fortbestehen jüdischer Bildung und Kultur in Deutschland so lange nur irgend möglich hatte sichern wollen, brach schweren Herzens nach Jerusalem auf. Dort würde er zu jener Minderheit gehören, die auf einen Dialog mit den Arabern drängte. Erwin Zimet und sein Vater konnten Polen im März 1939 verlassen, und Erwin besuchte Lilli in London auf dem Weg nach New York, wo er als Assistent von Rabbiner Milton Steinberg an der Park Avenue Synagogue arbeiten würde. Erwins Vater und Mutter jedoch, die sich in Holland wiedertrafen, wurden nach der deutschen Invasion Hollands deportiert und in Auschwitz umgebracht. Lilli und Erwin heirateten 1940 in New York und zogen sechs Jahre später nach Poughkeepsie, wo sich Lilli in den nächsten Jahrzehnten den vielen Verpflichtungen einer Rabbinersfrau widmete. Sie eröffnete eine Sunday School, gründete mehrere Chöre, inszenierte Theaterspiele und Musicals und lehrte über den Holocaust. Lotte Kaliski ließ sich in Riverdale, einem Vorort nördlich von Manhattan am Hudson, nieder, wo sie fast fünfzig Jahre lang die Kaliski School for Special Students leitete. Wenngleich Bildung des Geistes keinen Gegenpol zum Genozid darstellen kann, so sensibilisierte Buber doch zahlreiche deutsche Juden, ein „sinnhaftes jüdisches Sein“ zu leben und verhalf ihnen zu neuer moralischer und mentaler Stärke.7 Wie eine Emigrantin, ehemalige Schülerin der Kaliski-Waldschule, es auf einem Treffen von siebzig Ehemaligen der Schule 1992 in New York beschrieb: „Wir alle mussten lernen, jüdisch zu werden... Es war ein wunderbarer Ort in dieser schrecklichen Zeit in Deutschland.“8 Ich fragte Lilli Zimet, die sowohl Schülerin wie Lehrerin an Schulen gewesen war, die dank Martin Buber und manch anderer entstanden waren, wie sie deren Erfolge heute beurteilte. „Ironischerweise,“ sagte sie, „war der NS dafür verantwortlich, dass viele von uns Juden jüdischer wurden.“ Dabei lächelte sie spitzbübisch und für einen Augenblick sah ich die hübsche junge Frau, die sie damals war. Die Frage, ob sie die Wendungen bedauerte, die ihr Leben genommen hatte, konnte entfallen. Anmerkungen 1. Hugo Bergmann, Nachruf auf Buber, zit. nach: Aubrey Hodes: Martin Buber. An Intimate Portrait. New York: Viking Press 1971, S. 221. 2. Maurice Friedman: Martin Buber's Life and Work. The Middle Years 1923-1945. New York: E.P. Dutton 1983, S. 199. 3. Martin Buber zitiert in Maurice Friedman (1983), S. 207. 4. Martin Buber zitiert in Gerhard Wehr: Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung. Zürich: Diogenes 1991, S. 236. 5. Martin Buber, „Ein Hinweis für Bibelkurse.“ In: Martin Buber. Auf die Stimme hören. Ein Lesebuch. Ausgewählt und eingeleitet von Lorenz Wachinger. München: Kösel 1993, S. 92. 6. Dies geschah im Rahmen der sogenannten Polenaktion am 28. Oktober 1938. 7. Maurice Friedman (1983), S. 199. 8. Joseph Berger: „No Ordinary Reunion; Berlin Stories Fom Special Alumni.“ New York Times, 10. November 1992, Zugriff am 24. Mai 2014 http://www.nytimes.com/1992/11/10/nyregion/ no-ordinary-reunion-berlin-stories-from-specialalumni.html Aus dem Englischen von Teresa Krull Carol Ascher wuchs in den 1940er und 50er Jahren in den USA als Tochter jüdischer Emigranten auf. Ihr Vater, Lehrer und Psychoanalytiker, stammte aus Wien, ihre Mutter aus Berlin. Nach Studium der Anthropologie, Religionswissenschaften und Pädagogik forschte sie über das öffentliche Schulwesen in New York. Carol Ascher hat Romane, Sachbücher, wissenschaftliche Artikel und Essays veröffentlicht. In vielen ihrer Texte beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen von Flucht, Exil und Holocaust auf die zweite Generation, so in den Memoiren „Afterimages“ (2008) und in ihrem neuen Roman „A Call from Spooner Street“ (2015). 2015 nahm Carol Ascher am Steinheim Kolloquium „Translated Memories. Transgenerationelle Perspektiven in Texten zum Holocaust“ teil. http://www.carolascher.net „Echte Gebete und echte Flüche“ Dr. med. Richard Koch am 7. Juli 1945 – zürnend wie die „Proletarier“ Richard Koch (geb. 1882) bleibt bedeutend als Medizinhistoriker, -theoretiker und als Arzt. Auch bleibt sein Name verbunden mit dem Freien Jüdischen Lehrhaus im Frankfurt der 1920er Jahre, mit Franz Rosenzweig, seinem Patienten, mit Kritik an Buber-Rosenzweigs Verdeutschung der Schrift, mit der „Frankfurter Zeitung“ bis 1933, und nicht zuletzt mit Walter Laqueur (geb. 1921), Schwiegersohn. Noch unveröffentlichte Aufzeichnungen aus den zehrenden Exilsjahren in der sowjetischen Provinz (1936/7–1949) – als Arzt in Essentuki im Kaukasus und Zqaltubo in Georgien – erweisen Richard Koch als von Not und Krankheit ungebeugt hoffenden Denker. Er überdenkt Wissen und Erfahrung als Arzt, als Jude, als vertriebener und ausgeraubter Deutscher und als in der SU Geduldeter. Nicht immer leicht, seinen dieses Spektrum durchkreisenden Gedankengängen zu folgen. Einen in sich geschlossenen furiosen Abschnitt aus dem Essai „Vom Gebet“ (1945) bringen wir hier. Vor dieser Passage denkt er über „die seelischen Tatbestände“ nach; danach sinniert er in wieder freundlicher Verwunderung über die Mentalität der ihn umgebenden Menschen und deren Verfasstheit, ihre Gleichgültigkeit gegen „seelische Tatbestände“. Dazwischen nun die bittere Aufrechnung des „Vergangenen“. Sie wächst sich zur höchst konkreten Anklage aus, steigert sich in rauschhaft enragierten Zorn, nur rhetorisch gebändigt von den „Zehn Geboten“ und das krasse Reiche gegen Elende. Von Reichen und Pfaffen pervertiert, müssen die Gebote vom Aufschrei der Proletarier und ihres Sprechers verneint werden. Direkt ihren Geber anredend werden sie zerschmettert. Der Ankläger wechselt vom beschreibenden „Er“ über zu „man“ und bald zum „Wir“ und „Uns“, von erfahrungsgesättigter Skizzierung des Elends der Versklavten bis hin zur fast völligen Identifizierung mit ihnen (und dem eigenen Leid). Wem waren jene Gebote denn einst gegeben worden? Den Befreiten, Freien. „Wir aber leben immer noch im Lande Ägypten, im Hause der Knechtschaft.“ Keine Zeichen und Wunder für uns. Dennoch die Hoffnung auf Exodus, auf Freiheit. Neue Gebote? Nein. Aufschrei, Unfreiheit. Immer noch, und wieder neu. Richard Koch erlebte die Mordprozesse der „Ärzteverschwörung“ 1951/53 nicht mehr. mb I ch lebe in einem Staat, in dem man das Nichtwissen von den seelischen Tatbeständen zum Staatsgrundgesetz und Glaubensbekenntnis gemacht hat. Mit guten Gründen. Die Proletarier – Sklaven nach Erklärung der Menschenrechte – haben den Gott, den Götzen der Reichen hassen gelernt. Wenn etwas an diesem Gott sein sollte, so war er also schuld an der eintönigen Leib, Seele und Geist mordenden Arbeit, die keine Zeit läßt zum Dasein, an dem sich jedes Tier freuen darf, er war schuld am elenden Lohn, an Hunger, Krankheit, frühem Tod, Not, Schmutz, Elend und Laster. Er war Schuld an dem elenden Quartier, in dem Boden, Luft und Licht nicht reicht. Hier in diesem stinkenden Knäuel von Menschen, die einander hassen müssen, die gezwungen sind schamlos miteinander zu leben, sich zu quälen und zu prügeln, sich um Platz, Nahrung, um jeden Lappen zu raufen, sich zu betrügen und zu bestehlen, hier, oft im Keller oder unter dem Dach, zusammengepfercht mit Hunderten, mit der Aussicht auf einen trüben, schmutzigen Hof, auf eine hoffnungslos häßliche Straße, hier war kein menschliches Hausen möglich. So kann kein Mensch leben. Weiber und Schnaps vermag etwas zu betäuben, aber der Ekel vor dem Dasein, vor dem häßlichen andern, dem häßlichen eigenen Selbst, all das bleibt. Für die Reichen ist der Proletarier weit weniger wie das Vieh. Notwendige, verachtete, gemiedene Unterklasse. Menschen deren Nähe verunreinigt und vergiftet, mit denen man das Haus, die Straße, das Wohnviertel nicht teilen darf, mit denen wir nicht in derselben Straßenbahn, nicht im selben Eisenbahnwagen sitzen können, die wir nicht in unsere Gasthäuser und Speisestätten, nicht in unsere Badehäuser lassen. Mit denen wir sogar nicht an derselben Flußstelle baden wollen. Deren Spazierwege wir meiden, an deren Feiertagen und Freistunden und Festen wir zuhause bleiben. Deren Begräbnisstätten kein Ort des Friedens sondern ein Ort des Grauens sind. All das vom Gott der Reichen. Mit dreißig ist man ein alter, verbrauchter, verwüsteter Mann, die Frau war mit zwanzig noch nicht recht erblüht und schon nicht mehr frisch und jung. [...] Die Kinder häßlich, kränklich, blaß, aufgeschwemmt mit flachen Brustkörben, dicken Bäuchen, krummen Gliedern, mit spitzem Kinn, mißbildetem Schädel und mit frechen Augen. [...] Jede Misere dieser Art macht Söhne zu Verbrechern und Töchter zu Huren, zu Huren für die, die 5 uns all das im Namen ihres Gottes angetan. Für die Töchter die Straße, das Bordell, das Spital, für die Söhne die mächtigen Gefängnisse und Zuchthäuser, die wir bezahlen und in denen keine Reichen sind und wenn einer ganz zu der Bestie geworden ist, die wir unbegreiflicher Weise noch nicht alle sind, der Henker mit Block und Beil, im Morgendämmern auf dem öden Gefängnishof, vor dem widerlichen Staatsanwalt, den widerlichen Wärtern, dem noch widerlicheren, schmalzigen fetten Pfaffen, vor diesem Gesindel von unseresgleichen sinnlos vor Todesangst, schon fast mehr tot als lebendig, hingeschleppt, um abgemetzt zu werden so wie man kein Tier mehr metzen darf. Weh dem, der denen einen Groschen klaut oder ein Haar krümmt, aber ihnen, die uns all das angetan, alles Gold, alle Ehre, Üppigkeit und Herrlichkeit, alles Prassen, alle Lust alles Faulenzen, alle Süße des Daseins, von der wir nicht einmal träumen können. So, solange Friede ist. Im Krieg – nun da sind sie auch gutgekleidet, essen gut, trinken gut, liegen auf reinlichen Lagern oder gar in guten Betten, dürfen uns nach Herzenslust schinden und quälen, bekommen die Brust voll Orden, auch wenn sie den Krieg weit vom Schuß führen, sind gehegt, gepflegt, geliebt und geehrt, wenn sie verwundet sind und wenn sie fallen wie unsereiner, dann waren sie Helden und ihres Rühmens ist kein Ende. Für uns ist im Krieg erst recht Hunger und Kummer, Drangsal, Strapazen, Elend, Not und Erbärmlichkeit aller Art. Kriegssklaven, graue stinkende Massen, verdreckt, verschwitzt, verlaust. Schwerbepackt. Häßlich gekleidet. Im Sommer zu schwer, im Winter zu leicht. Plump beschuht. Not- 6 dürftig genährt. Mit Pistole und Maschinengewehr in den Tod getrieben, in unseren jämmerlichen, ekligen, stinkischen Heldentod für dieses Vaterland. Mit diesem Gott, für diesen König, für dieses Vaterland. Gut, wen so der Teufel geholt hat. Wohl ihm. Kommt er aber unglückseliger Weise als Krüppel, als Blinder, als Wahnsinniger, als Entstellter mit dem Leben davon, dann kann er das dankbare Vaterland kennenlernen und alle Engel im Himmel singen hören. Ein zweites Mal ließe er sich eher auf der Stelle tot schlagen, als daß er die Knochen noch einmal hinhalten würde. So und für ihren ver- fluchten Gott erkämpfen wir dieser Bande ihre Siege, bei denen für uns nichts herauskommt als Not und Tod, als Hunger, Kälte, Hitze, Durst, Krankheit, Schmerz, Erschöpfung, Angst und Verzweiflung, aber nicht ein roter Heller, nicht ein Lumpen, nicht ein Knochen. Wir leben nach Sieg und Niederlage bestenfalls wie wir vorher gelebt haben, meist schlechter. Wir vergießen unser Blut, wir geben unser bißchen Gut für weniger als nichts, für unsere Todfeinde. Wir kämpfen gegen unseresgleichen, weil wir es unbegreiflicherweise noch immer nicht fertiggebracht haben mit ihnen, unseren Brüdern und Genossen, zusammen und einträchtig, ruhig, mit Behagen, ohne besondere Gefahr und ganz ohne Mühe unsern gemeinsamen Todfeind totzuschlagen und auch – sie sind doch auch Menschen – in gerechter ausgekosteter Rache etwas zu Tode zu quälen. Aber das Letztere werden wir so wenig tun wie das Erstere. Sie haben es so weit gebracht sogar die blutgierige, grausame Bestie in uns zu töten, wir sind nur noch häßliche, störrige Esel, fressen Disteln, nehmen die Prügel hin, tun unverdrossen unsere Arbeit und beißen niemand. Vielleicht gibt es sogar irgend eine Art von Anstand in uns, der den andern in ihrem Fett erstickt ist. Wenn es nur all das wäre, dann könnte man vielleicht noch immer seinen Herrgott für das bißchen Sonne, die auch unsereins bescheint, wenn wir Zeit haben in ihr spazieren zu gehen, loben. Das Schlimmste ist, daß sie nicht fertig bringen wenigstens im Verborgenen, wenigstens nicht vor unseren Augen zu leben. Wir müssen sie sehen, hören, riechen. Sie und ihre geputzten Weiber und gepflegten Kinder, auch das adrette und propere Gesindel, das sie bedient und beschützt. Sie sind schön, schlank, gesund, wohlgenährt als Kinder, in der Jugend und noch im Greisenalter. Sie sind ansehnlich, würdig, gewichtig, vornehm. Es ist sehr schwer sie nicht zu bewundern, keinen Respekt vor ihnen zu haben, nicht vor ihnen als den gottgewollten Herren zu kuschen. Sie duften vor Sauberkeit, Wohlanständigkeit, Geordnetheit. Schon ihre hochnäsigen kleinen Jungen und Mädchen wagt man kaum anzusehen, gewiß nicht mit unseren Fingern anzurühren. Unseren Töchtern gibt man einen Taler und sie müssen... ja all das, rasch und pünktlich und ohne zu mucken. Ihre Töchter gehen geschützt und behütet durch ihre blühende Jugend wie Göttinnen und wie Heilige, denen man sich nicht nahen darf. Weh dem, der sie berührt. Und sie bilden sich noch etwas darauf ein, ZU GREIFEN daß sie ihr paradiesisches Leben, all ihren Reichtum und ihr Glück, ihr feines Essen, ihre duftigen Kleider, die weichen Betten, all das und noch viel mehr sich nicht genug sein lassen, sondern ein paar Leben lang auf das Bißchen Vergnügen, das sie dann so bequem, reinlich und reichlich haben wie sie nur wollen, und ohne unseren Kindersegen und ohne daß ihnen für die Kinder, die sie nicht bekommen wollen, Tod und Gefängnis droht. Wenn man nur nicht in die vornehmen Restaurants hineinsehen müßte, wo die Herrschaften speisen, festlich gekleidet, an blühend weiß gedeckten Tischen, die von Silber und Kristall glänzen und funkeln, die mit teuren Blumen geschmückt sind. Wenn man nicht die betauten Sektkübel sehen müßte, nicht sehen müßte, wie die köstlichsten, unbekannten Gerichte auf silbernen Platten von befracktem Gesindel serviert werden, wie sie satt, steif, gelangweilt, mit geröteten Gesichtern verzehren. Was meinen sie wohl, was unsereiner denkt, wenn er im dünnen Röckchen frierend auf dem Pflaster steht und hinstarrt, wie sie vor dem Theater vorfahren. Ein Luxusauto nach dem andern, von denen jedes soviel gekostet hat, wie unsereiner, wenn alles gut geht, im ganzen Leben verdienen kann. Wie diese Autos geräuschlos bremsen und ihren reichen Inhalt von sich geben. Herren wie aus dem Modejournal, Damen in Pelzen, die den Hals, den Busen, die Schultern, die Arme wohlig streicheln. Und auf der Haut all die weiche Seide und darüber die knisternde Seide, die der klaffende Pelz sehen und ahnen läßt. Blitzende Brillanten, bunte Steine, stumpf glänzende, große runde Perlen im Haar, in den Ohren, um den Hals, am Busen, an Armen, Handgelenken und Fingern. Gold tragen sie nicht, das ist zu gemein. Von dem, was so eine an einem Abend trägt, könnte man unsereinem reichlich ein großes schönes Haus, mit Bad und Toilette, mit Garten und Acker, mit Kuh, Schwein, Ziege, Hühnern, Kaninchen, mit Hund und Katze kaufen. Die feinen Handschuhe, die seidenen Strümpfe, sinnenerregenden Schuhe. Die Schminke, die Wolke von Puder und Wohlgerüchen, die all das umgibt und bis zu uns armen Teufeln auf die kalte Straße dringt, damit wir wenigstens den Geruch vom Braten haben. Es wird herausgehoben, gestützt, bekomplimentiert, die Tür weit aufgerissen. Über den roten Teppich hüpft das zierliche, kostbar beschuhte Füßchen und schon ist die ganze Pracht verschwunden und das nächste Auto bremst geräuschlos. Würden wir denn wagen, mit unseren roten rohen Fäusten zuzugreifen und uns endlich einmal ganz zu sättigen? Würden wir wagen das stoppelige Kinn, den üblen Atem in die Nähe dieses schwellenden, korallenroten Mundes zu bringen? Wir stehen ja schon da, wir die dummen Jungens, wenn wir den alten Herrn anreden sollen, ihm eine Beschwerde, eine Bitte vorbringen, oder ihm, was viel, viel schlimmer ist, zu einem Geschäftsjubiläum gratulieren, an seinem Sarge einen Kranz niederlegen sollen. Wie stehen wir dann da in unserem besten Staat, der noch viel häßlicher und noch viel lächerlicher ist, als unser Arbeitskleid. Wie stehen wir da mit unseren eckigen Knochen, unseren ungeschickten, verlegenen Bewegungen, unserer rauhen Stimme, unserer gewöhnlichen Sprache, unserer unrichtigen Rede, unseren unechten Worten. Wir brauchen nur hinzutreten und den Mund aufzutun, um Mitleid und Spott zu ernten. Wenn es aber wirklich einmal zu Rede und Gegenrede kommt, das verdammte Lächeln mit dem ein lässig hingeworfenes Wort unsere besten Gründe abtut, obwohl wir wissen, daß wir hundert mal recht haben und er hundert mal unrecht. Aber wir sind ihm nicht gewachsen, weit, weit davon. Denn wir wissen nichts, haben nichts gelernt, sind ungebildet. Auch wenn wir müde und stumpf statt ins Wirtshaus in die Vorträge und Kurse rennen, auch wenn wir den schweren Lidern den Schlaf abringen und den harten Kopf über die schwierigen Bücher hängen. Da sieht man schon, daß alles, was man so denkt, recht und richtig ist, aber es will nicht mehr in den Kopf. Man merkt, was da ist, solange kein tückisches Fremdwort den Sinn verschließt, aber man kann nichts damit anfangen. Es wird nicht zur Waffe. Braucht man das, so muß man einen anstellen, der meistens nur halb zu unsereinem gehört. Er aber hat das alles im Matrosenanzug auf bequemer Schulbank und von gut bezahlten Hauslehrern gelernt, es sich in munteren Jahren von seinen Professoren in gefälliger Rede erzählen lassen, es in Muße und Luxus in hundert schönen Büchern gelesen. Kein Wunder, daß er damit umgehen kann. Ihm ist sein lieber Gott ein 7 ZERREISSEN Richard Koch und Franz Rosenzweig- Schriften und Briefe zu Krankheit, Sterben und Tod. Hg. Von Frank Töpfer und Urban Wiesing. Münster 2000. 8 135 S. guter Mann. Er hat allen Grund auch etwas für seinen Herrgott zu tun, der bei der großen Teilung alles auf seinen Teller geschoben hat. Und er tut. Wenn man ihn auch zerreißen sollte, man erliegt immer wieder den Reizen dieser kultivierten Bestie. Nicht aber denen der Pfaffen, die er bezahlt, damit wir hübsch brav bleiben und es für das einzige Gute und Schöne halten, daß er das lautere Gold hat und wir das rostige Blech. Seine gut bezahlten und gefütterten Pfaffen sind nur widerlich. Man möchte brechen, man möchte es wirklich, nicht nur so gesagt, wenn sie in all ihrer Schamlosigkeit dastehen und wagen unsereinem mit den zehn Geboten zu kommen. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe. Du sollst haben keine anderen Götter neben mir.“ Uns hast du nach Ägyptenland ins Haus der Knechtschaft, aber ohne die Fleischtöpfe, geführt und uns wäre jeder andere Gott recht, der uns hilft. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten.“ Wir verstehen. Unsere Väter haben dich so abgebildet, wie sie dich gesehen haben. Und das Ebenbild mit Schwanz und Krallen und Pferdefuß konnte dir nicht gefallen. Deshalb verfolgst du uns. Ich würde dich, wenn es dich gäbe, noch viel abscheulicher abbilden wie die Väter und ich wundere mich auch nicht, daß dich die Reichen nicht abbilden, weil ihnen kein irdisches Bild an ihren lieben Gott heranreicht, der ihnen alles gegeben hat und sorgt, daß wir für sie arbeiten, hungern, bluten und sterben, damit sie leben. Sie haben recht, wenn es dich gibt. „Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.“ Das mag heißen, daß man im Namen dieses Gottes nichts Böses tun soll. Alles Böse an uns geschieht im Namen dieses Gottes. Wenn es ihn gäbe müßten wir ihn darum hassen wie den Teufel. „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke verrichten; aber am siebenten Tag ist der Sabbath des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein Werk tun, noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd noch dein Vieh noch dein Fremdling, der in deinen Toren ist. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbathtag und heiligte ihn.“ An das Gebot wollen wir uns halten. Nur brauchen wir dazu ihren Gott nicht und erst recht nicht, weil er die Welt für sie so gut und für uns so schlecht geschaffen hat. „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, gibt.“ Ich will sie nicht ehren. Sie haben mich wegen Gier und Lust eine Minute gezeugt, ohne an mich zu denken, ohne zu denken, daß ich besser ungeboren geblieben wäre, ohne die Macht mir ein menschenwürdiges Dasein zu geben. Ich will sie nicht ehren, weil sie nichts getan haben, um mein Schicksal zu bessern. Ich will sie nicht ehren, weil sie mich von Kindheit an zu harter Arbeit gezwungen, weil sie mich an die Arbeit geprügelt haben. Ich will sie nicht ehren, weil sie den Kindern im Hause den bösen Feind verkaufen, die Schule, den Pfaffen, den Schutzmann, den Staat, die Reichen. Ich will sie nicht ehren, weil ich sehe wie sie sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen, wie der Vater säuft und im Rausch die Mutter schlägt und beleidigt und wie die Mutter den Vater quält und beschimpft. Ich will meine Eltern nicht ehren, ich will auch gar nicht lange leben, ich will alles andere lieber als alt werden. Alt werden ist gut für die Reichen, für uns ist es die Hölle nach der Hölle des Lebens. Hilflos, dreckig, verstunken, immer hungrig, von allen getreten, verachtet, gehöhnt, Kinderspott und doch auf irgendeine Weise ausgebeutet bis zum letzten Atemzug. Und immer das Lied du hast lange genug gelebt, wann verreckst du endlich, du frißt uns das Brot weg. Gut, daß dafür gesorgt ist, daß unsereiner jung weg muß. Die werden siebzig und achtzig, wir oft keine fünfzig, selten sechzig. Das ist noch das Beste. [...] Der Tod ist gut. Wir haben längst genug von diesem beschissenen Leben. Und ein Land hat uns kein Gott gegeben. Das gehört den andern. Wir dürfen uns darauf für sie schinden, uns das Mark aus den Knochen rackern, ZU STEHEN damit sie fressen und faulenzen können. Wir fluchen dem Vater, der uns gezeugt, der Mutter, die uns geboren hat. Aber wir wissen auch, warum ihr Pfaffe predigt, man soll die Eltern ehren. Die Eltern sind ihre Vögte in unseren Häusern, ihre letzten, elendsten, alleruntersten Vögte, die ihre Herrschaft, ihre Autorität, ihre Gewalt uns in den Nacken setzen. Sie quälen unser Blut mit unserem Blut. Der Stock des Vaters ist ihr Stock. Es sind ihre Prügel, die wir bekommen. Und dann haben sie Angst vor ihren eigenen Kindern, ihren Erben. Sie gönnen den Raub ihren Kindern nicht, bleiben darauf sitzen bis in die letzte Stunde und fürchten sich vor der Gier der Jungen, die all die schönen Dinge viel besser gebrauchen können. Unrecht auch im eigenen Hause. Von der Sorge wollen wir sie befreien. Wir ehren die Jungen, die den ganzen Kram zusammenschmeißen und eine bessere Welt errichten werden. Dann wollen wir unseren Sabbath heiligen. „Du sollst nicht töten“. Wir sollen und müssen mit Flinten und Kanonen unsere Brüder töten, so wie unsere Brüder mit Flinten und Kanonen uns töten müssen, damit die Reichen noch reicher werden. Wir wollen aber sie töten, denn wir können so nicht leben und sie haben es hundert-, tausendmal verdient. Sie töten uns täglich, sie quälen uns langsam zu Tode, uns, unsere Weiber und unsere Kinder, so daß wir nach einem verfluchten Leben jung sterben müssen. Sie töten unseren Leib und unsere Seelen und wir werden sie töten, wie das in unseren Geboten steht. Haben sie das Recht Mordwaffen herzustellen und anzuwenden gegen Menschen, die ihnen nicht das Allergeringste Böse angetan haben, wie viel Recht, ein wie gutes und starkes Recht haben wir dann, dasselbe gegen sie zu tun. Unsere Soldaten und unsere Henker werden das Recht auf ihrer Seite haben, ihre haben auf ihrer Seite das Unrecht. Wir werden töten. „Du sollst nicht ehebrechen.“ Das heißt wohl, du sollst die Finger von unseren Weibern lassen, denn daß ihre versklavten Weiber nicht gegen die Hörigkeit mucken dürfen, versteht sich gerade so von selbst, wie daß ihnen so viel Weiber zustehen wie ihre Lust verlangt. Wir werden ihre Weiber in Ruhe lassen, weil wir gute, dumme, immer wieder anständige Kerle sind. Aber könntet ihr uns ernstlich übelnehmen, wenn auch wir einmal unserer Gier nach euren gepflegten, zarten, duftenden Weibern nachgäben, ihr, die ihr nur in die Westentasche zu greifen braucht, wenn euch ein Lüstchen nach den paar blühenden Tagen unserer Frauen und Töchter anwandelt. Wenn es sich nur um euer unheiliges Herrenrecht handelte, dann wollten wir gewiß ehebrechen, nach Herzenslust ehebrechen, bis wir satt sind. Wir haben es redlich verdient. Wir tun es nicht, weil uns das Recht eurer gedrückten, hörigen Weiber heilig ist. Sie gehören auf ihre Weise und auf unsere Weise zu uns. Wir wollen einmal mit freien Frauen zusammenleben. Wir wollen uns nicht in den Schweinestall der Ehe einsperren lassen, um uns gegenseitig und unsern Kindern die Hölle auf Erden zu bereiten. Wir brechen aus. Die Ehe habt ihr erfunden, weil ihr das für eure Kinderzucht braucht, weil ihr nur eigenem Blut vererben wollt, weil ihr eine Sklavin im Hause braucht, die keines Willensvorgangs mehr fähig ist. Ihr braucht die Ehe, damit wir euch Arbeiter und Soldaten liefern, damit wir euch die Polizei über die Kinder ersparen. An unseren Ehen wird nichts zu brechen sein. Die Ehe dient euch, nicht uns. Sie ist uns unheilig. „Du sollst nicht stehlen.“ Wir hungrigen haben das heilige Recht zu stehlen und alles, was ihr zu unrecht besitzt, alles, was ihr besitzt, ist uns gestohlen. Euer Besitz ist Diebstahl, aber böser Diebstahl aus Habsucht, nicht guter Diebstahl aus Hunger. Wir werden die bösen Diebe hängen und die guten laufen lassen, nicht aber sie in Gefängnissen und Zuchthäusern verfaulen lassen und ins Verbrechen drängen. Die Gefängnisse und Zuchthäuser bleiben für die bösen Diebe, wenn sie die Habsucht nicht beherrschen lernen und das Stehlen lassen. Uns gehört, was wir brauchen, von Rechts wegen. Ihr gebt her, was ihr nicht braucht, von Rechts wegen. So wird gut richten sein. Einstweilen müssen wir stehlen und wollen es mit den breiten Gewinnen von der Welt und vor der Welt tun. Noch sind wir die kleinen Diebe, die man hängt und ihr die großen, die man laufen läßt. So lange das noch dauert, wollen wir die feierlichen Worte vermeiden und sachlich bleiben. Wir wollen sprechen wie ein Dieb zum andern. Ein kleiner, der sonst ganz ordentlich ist, zu Richard Koch. Zeit vor Eurer Zeit. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einem Vorwort von Walter Laqueur. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Medizin und Philosophie Bd. 8). 496 S. 9 ZEUGNIS Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen. Dieses Institut beherbergt den Nachlass von Richard Koch. Im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts wurde er archivalisch erfasst und wissenschaftlich bearbeitet. Keine Eingriffe in den Text, Kürzung durch eckige Klammer gekennzeichnet, Satzzeichen gelegentlich ergänzt, Rechtschreibfehler stillschwei- 10 gend korrigiert. einem großen, der ein hartgesottener Sünder ist. „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.“ Nein, das wollen wir wirklich nicht tun. Es soll an unserem wahren Zeugnis über euch und gegen euch nicht fehlen. Wir wollen unser rauhes Zeugnis über euch jeden Tag hinausschreien, bis es alle Gequälten, Gebeugten, Gedrückten, Entwürdigten, Erniedrigten, alle Frierenden und Hungernden gehört haben. Unser Zeugnis gegen euch soll uns die Waffen schmieden, uns die Helfer waffnen, damit es gegen euch aufsteht und euch vernichtet. Ihr aber legt jeden Tag falsches Zeugnis gegen uns ab. Ihr wißt, daß wir recht haben und ihr unrecht, ihr wußtet es früher als wir, und trotzdem verkehrt ihr täglich das Recht gegen uns, nennt uns Verbrecher, obwohl ihr wißt, daß wir gute Kämpfer sind, nennt uns Zerstörer, obwohl ihr wißt, daß wir an stelle des schlechten Zerstörten ein gutes Neues aufbauen werden, nennt uns Verführer und Verführte, obwohl ihr wißt, daß wir Lehrer und Schüler sind. Und darüber hinaus ist jedes Urteil eures Gerichts auf ein falsches Zeugnis gegründet. Es ist nicht wahr, daß unsere Verbrecher ein Recht gebrochen haben. Erst habt ihr ihnen das Recht gebrochen und dann taten sie, was sie tun mußten. Schon daß ihr immer falsches Zeugnis ablegt, im Großen und Kleinen, wir aber immer wahres Zeugnis, schon das zeigt, wem die gute Sache und wem die schlechte. „Laß dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Hause. Laß dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Weibe noch nach seinem Knechte noch nach seiner Magd noch nach seinem Ochsen noch nach seinem Esel noch nach allem, was dein Nächster besitzt.“ Doch. Wir lassen uns nach all dem gelüsten. Zuerst mit dem Neid des armen Hungrigen, der den Reichen, der keinen Hunger kennt, prassen sieht, mit dem Neid des Frierenden auf den, der im Warmen sitzt, mit dem Neid des Bettelkindes auf der dunklen kalten Gasse, das durch die Scheiben den Weihnachtsbaum der reichen Kinderstrahlen sieht, mit dem Neid des schmutzigen höflichen Gedrückten und Erniedrigten, der auf den Reinlichen, Schönen, Stolzen und Mächtigen sieht. Wir lassen uns weiter gelüsten, weil wir brauchen, was ihr entbehren könnt. Wir lassen uns endlich gelüsten, weil wir das Unrecht nicht länger tragen, sondern das Recht verwirklichen wollen. Ihr aber laßt euch nach der dünnen, schlechten Butter auf unserem Brot, nach unserem trockenen Brot selber gelüsten, ihr laßt euch nach unserem Mark und Bein, nach unserem Bißchen Leben gelüsten. Ihr laßt euch nach allem gelüsten, was ihr aus uns herauspressen, was ihr von uns abschinden, was ihr uns abrackern könnt, damit ihr herrlich und in Freuden leben, damit ihr das uns allen gemeinsame Gut verprassen und verlottern könnt, damit wir für euch arbeiten müssen, von da an, wo wir die Hände regen können, bis dahin, wo sie uns den Dienst versagen alle Stunden unseres armseligen Lebens. Euer Gelüsten ist bös und unser Gelüsten ist gut. Wir wollen sehen wie das wird, ohne euren Gott, der uns nie geholfen hat, mit unserer eigenen Kraft, die uns helfen wird.Und diese Gebote hat der widerliche Pfaffe die schamlose Frechheit uns zu predigen, uns zum Gesetz machen zu wollen, obwohl er weiß, daß diese Gebote einem Volk gegeben wurden, nachdem sein Gott es aus dem Land Ägypten, dem Hause der Knechtschaft, dem Diensthause durch Zeichen und Wunder herausgeführt hatte. Es waren freie, bewaffnete Leute, denen diese Gebote gegeben waren. Sie wurden durch eigene Richter gerichtet, durch eigene Ratgeber beraten, durch einen Führer aus eigenem Blute geführt. Sie trieben reiche Herden mit sich und waren reich beladen mit Gold und Silber. Hinter ihnen lag das Elend und vor ihnen der Sieg und die Hoffnung. Wir aber leben noch immer im Lande Ägypten, im Hause der Knechtschaft. An uns sind noch keine Zeichen und Wunder geschehen. Wenn wir erst auf dem Wege sind nach dem Lande, das unseren Vätern verheißen ist, wenn auch an uns Zeichen und Wunder geschehen sind, dann wollen wir sehen, was für Gebote dann für uns gelten. [...] I ch lebe in einem Staate, in dem all das der Vergangenheit angehört, in dem schon fast vergessen ist, daß es so etwas einmal gegeben hat. Der zwanzigjährige Proletarier vom Oktober 1917 ist heute schon fast acht und vierzig Jahre alt und von den damals Fünfzigjährigen leben nicht mehr viele. Der Mensch vergißt rasch. Was heute hier lebt und sich regt und sich der Sonne und des Lebens freut, kann unmöglich mehr die Gebete und Flüche des Proletariers der vorrevolutionären Zeit kennen. Es waren echte Gebete und echte Flüche. Sie sind beide in Erfüllung gegangen. Buchgestöber Tiefschürfende Studien zum Buch Exodus als der Grün- dungserzählung der modernen Welt – zu seinen „Schlüsselszenen der Heilsgeschichte, die in Judentum, Christentum und Islam, aber auch in Kunst und Literatur vielfältige Wirkung entfaltet haben“. Eine beeindruckende und überzeugende Leistung, etwas zu lang geraten, doch durchaus spannend und flüssig lesbar. Die „vielfältige Wirkung“ kommt zu kurz. Islam wird nur sehr selten und pauschal erwähnt. G.F. Händels Oratorium ‚Israel in Egypt‘ und A.Schönbergs ‚Mose und Aron‘ nehmen weitaus Es musste Deutsch sein. Die deutsche Sprache nach der Nazizeit musste sich jüdisch besinnen, sich selbst einholen. Nicht nur die Hölle war deutsch geplant und ausstaffiert, auch das Entrinnen aus der Hölle bedurfte des deutschen Ausdrucks.““ Elazar Benyoëtz - Korrespondenzen. Hgg. von Bernhard Fetz, Michael Hansel, Gerhard Langer. Profile 17 (2014), 21. Zsolnay. 272 S. ISBN 978-3-552-05696-1, 21,90 Euro Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der alten Welt. München, C.H. Beck 2015. 493 S., 40 Abb. ISBN 978-3-406-67430-3, Euro 29,95 mehr Raum ein, was kein Schaden ist. Völlig ignoriert aber wird die nachbiblisch-christliche, die scharf antijüdische Interpretation der biblischen Exodus- und Wüstenzeit-Schilderungen in der christlichen Lehre und Liturgie (Melito von Sardis, 5. Esra, Kirchenväter, Karfreitags-Improperien, Passionspredigten usw.) Kapitel 9: „Widerstand – Mose und das gewaltsame Geschick der Propheten“ bringt es nicht über Lukas 13,34 („Jerusalem, die du tötest die Propheten...“) und eine wichtige, fünfzig Jahre alte Dissertation von O. H. Steck hinaus. Und das, obwohl Assmann immer wieder gern von den „Resonanzen durch die Jahrtausende“ redet. So bleibt alles friedlich-freundlich im grünen Bereich. Dennoch nachdrücklich empfohlen. mb „Ich wollte kein Deutscher sein, auch kein deutscher Jude werden – ich wollte ein neues Gehör aus altem Sprachgut für das Einmal-Und-Nie-Wieder schaffen.“ Diese Worte des 1937 in Wiener Neustadt geborenen und 1939 nach Israel emigrierten Aphoristikers und Essayisten Elazar Benyoëtz weisen auf das hin, was den Dichter in besonderer Weise auszeichnet: ...das sich Hineinversenken in die deutsche Sprache, wie es vielleicht nur bei einem Autor gefunden werden kann, der aus dieser Sprache vertrieben wurde und der sich das Deutsche über den Umweg intensiver Lektüren deutsch-jüdischer Schriftsteller wieder angeeignet hat. …Über den ebenfalls deutsch schreibenden jüdischen Dichter Paul Celan schrieb Benyoëtz einmal: So beginnt einer der Herausgeber eines neu erschienenen Sammelbandes, Bernhard Fetz, seine Einführung in den Briefwechsel zwischen Elazar Benyoëtz und dem Sprachwissenschaftler Harald Weinrich. Unterschiedliche Autoren beleuchten das literarische Werk des „Weisen“, des „Midraschisten“, des „Briefeschreibers“ Benyoëtz und denken nach über seinen künstlerischen Umgang mit der deutschen Sprache, seine „poetische Interpretation der Tora“, sein Verhältnis zu Karl Kraus und vieles andere mehr. Der Band, der mit einem Beitrag von Benyoëtz selbst eröffnet und beschlossen wird, enthält darüber hinaus eine 16-seitige Fotofolge zu Lebensstationen und Weggefährten des Autors. som Auf drei weitere Veröffentlichungen von Elazar Benyoëtz möchten wir aufmerksam machen: Auch Kürze hat ihre Maßlosigkeit, erschienen im Universitäts-Verlag Brockmeyer: Elazar Benyoëtz's Lesung anlässlich der Jüdischen Kulturtage 2015 NRW in Hilden. Ein sehr spezielles Buch, behandelt es insbesondere die Stellung des Aphorismus im Verbund der Literaturgattungen. Es enthält noch ein Referat der Herren Spicker und Wilbert zum Aphorismus, das ebenfalls im Rahmen der jüdischen Kulturtage gehalten wurde. 12,90 Euro Das Prachtbuch Das Feuer ist nicht das ganze Licht und dazu eine Doppel-CD, „Hell- und dunkelhörig“, erschienen in der Edition Eupalinos/Schweiz, hat nicht nur seinen Charme durch die großzügige, geschmackvolle Gestaltung – etwas Besonderes sind 9 Farbminiaturen von Metavel. Die CDs, in einem Schweizer Tonstudio entstanden, enthalten zwei Lesungen, unterbrochen von gekonnt dezent dar- 11 gebotener Flötenmusik eines sehr guten Flötisten. In dem Buch taucht der Leser in vier von Elazar Benyoëtz gehaltene Lesungen ein: in Berlin anlässlich der Ehrung durch die Ökumenische Stiftung Bibel und Kultur (plus Laudatio von Professorin Dr. Verena Lenzen), 2012; in Wien – 2009 Ehrenkreuzverleihung; Schaan 2014; Chur 2014. Das Buch stellt Lebensabschnitte Elazars dar. Der Preis komplett: 50 Euro, jedoch kann man das Buch auch einzeln bestellen – Preis 30 Euro, und die Doppel-CD in einem sehr schön und informativ gestalteten Papp-Einband 24 Euro Ein ganz ‚feines‘ Büchlein, Am Anfang steht das Ziel und legt die Wege frei, ist bei Hentrich&Hentrich erschienen – ebenfalls mit CD – ein Live-Mitschnitt der Lesung, die in Bochum im März 2015 stattfand. Die Aufnahmequalität ist erstaunlich gut, der Tontechniker hat gute Arbeit geleistet – was sehr berührt, ist die sich entfaltende Intimität zwischen Wort und Musik – die Ufermann-Formation spielt. Verblüffend ist die Aktualität der Texte – es ist sicher kein politisches Buch, aber die traurige Großwetterlage in der Welt schwingt zwischen den Zeilen. Der Preis kpl. 19,90 Euro. red Im Brennpunkt Mittelfranken trafen sich die relativ große jüdische Gemeinde und die NSDAP-Hochburg mit dem Gauleiter und antisemitischen „StürStefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919–1939, Göttingen, Wallstein 2014, 368 S., 16 Abb. ISBN 978-3-8353-1239-5, 34,90 Euro en als psychologische Basis des Viehhandels. Hierbei schließt sie an die wirtschaftspsychologischen Studien des Wirtschaftshistorikers Christian Hillen an. Dieses Vertrauen vermag sie anhand der Auswertung einschlägiger Handelsverträge überzeugend nachzuweisen. So zählten auch nationalsozialistisch organisierte Bauern und Funktionäre, z.B. Bezirksbauernführer, entgegen ideologischer Prämissen zu den Kunden jüdischer Viehhändler. Viele Einzelfälle, z.B. in Ansbach, Gunzenhausen, Ellingen oder Rothenburg ob der Tauber, verdeutlichen die Dimensionen sowohl des christlich-jüdischen Viehhandels als auch seiner behördlichen Bekämpfung. Die bei dem Ersatz jüdischen durch christlichen Viehhandel auftretenden Probleme untersucht Fischer in ihrem großen Kapitel über die Zerstörung der Vertrauensbeziehungen, die dort vorübergehend signifikante wirtschaftliche Lücken rissen. Fischers Studie liefert wesentliche Erkenntnisse über den jüdischen Viehhandel in der NS-Zeit und weist auf den Handel generell und über Mittelfranken hinaus, etwa auf das Rheinland. Horst Sassin Zwischen „erlaubter Privatgesellschaft“ und „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ Eine juristische Dissertation, die nicht die historische Bedeutung, sondern die rechtlichen Zusammenhänge zwischen der allgemeinen Rechtsgebung (besonders dem Status der christlichen Konfessionen) und dem Rechtsstatus der jüdischen GemeinRenate Penßel: Jüdische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Von 1800 bis 1919. Köln [u.a.], Böhlau (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht; 33) 2014. 553 S. ISBN 978-3- 12 mer“-Herausgeber Julius Streicher an der Spitze. In ihrem ersten Kapitel widerlegt die Autorin das Vorurteil, Juden hätten den Viehhandel dominiert. Auch mit beachtlichen 37,2 Prozent der mittelfränkischen Viehhändler waren sie 1925 klare Minderheit. Die geografische Verteilung deutet auf eine stärkere jüdische Händlerschaft in Kleinstädten hin. Selbst in Fürth, dem „fränkischen Jerusalem“, waren nur 5 von 29 Viehhändlern jüdischer Herkunft. Wie untauglich das Klischee vom gerissenen jüdischen Händler ist, der seine christliche Kundschaft nach Strich und Faden ausnimmt, verdeutlicht Fischer in ihrem großen Kapitel über Vertrau- 412-22231-4,. 74,90 Euro den untersucht. Diese Kontextualisierung der einzelnen die jüdischen Gemeinschaften betreffenden Gesetze erlaubt es ja tatsächlich, ihre Bedeutung und Tendenz besser zu verstehen. Interessant sind auch die Erläuterungen zum Perspektivenwechsel im Bezug auf die jüdischen Gemeinschaften: von dem Verständnis als Nation (Judenordnungen) hin zur Religionsgemeinschaft (Anwendung des Kirchenrechts). Die Abhandlung konzentriert sich auf die Befugnisse der Gemeinden bezüglich ihrer Vermögensangelegenheiten, Disziplinargewalt, Rechtsset- zung und Selbstorganisation in ihrem hoheitlichen Charakter. Da die Autorin zu Beginn die Frage nach dem Körperschaftsstatus der jüdischen Religionsgemeinschaften „in sämtlichen deutschen Teilrechtsordnungen“ stellt, enttäuscht es, dass sie z.B. bezüglich Preußen die dort bis 1847 mehr als zwanzig geltenden Provinzialrechtsordnungen zwar erwähnt, aber als zu umfangreich nicht untersucht. Trotzdem ist diese Arbeit eine gute Darstellung für eine schnelle Orientierung in der Rechtslage der Juden in deutschen Territorien im 19. Jahrhundert. mac Eingegangene Bücher (Besprechung vorbehalten) Berger, Shlomo: Margins and Centers in Yiddish Culture and Literature. Amsterdam, Menasseh ben Israel Inst. (Amsterdam Yiddish Symposium 9) 2014. 67 S. ISBN 978-3-90-822655-1-4, 7,00 Euro ge, Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich, New York, Olms (Kamenzer Lessing-Studien 1) 2015. 472 S. ISBN 978-3-48714750-5, 58,00 Euro Rosenfeld, Alvin H.: Das Ende des Holocaust. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015. Übersetzt von Manford Hanowell. 273 S. ISBN 978-3-52554042-8, 39,99 Euro Ruch, Martin: „Isac, Abram und Jacob“: Quellen zur Geschichte der Offenburger Juden im 17. Jahrhundert. Norderstedt, Books on Demand 2015. 120 S. ISBN 978-3-7392-0336-2, 15,00 Euro Miskotte, Kornelis H.; Braunschweiger, Heinrich: Edda und Thora. Ein Vergleich germanischer und israelischer Religion. Münster, LIT 2015. 310 S. ISBN 978-3-643-12993-2, 39,90 Euro Bauschinger, Sigrid: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. München, C.H. Beck 2015. 480 S., Abb. ISBN 978-3-406-67714-4, 29,95 Euro Esberg, Joachim: „Nun wisst ihr, was soll es bedeuten“. Gedichte und Briefe vor Auschwitz. Braunschweig, Appelhans 2015. 160 S. ISBN 978-3944939-13-1, 14,80 Euro Gryglewski, Elke; Haug, Verena; Kößler, Gottfried; Lutz, Thomas; Schikorra, Christa: Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin, Metropol Verl. 2015. 363 S. ISBN 978-3-86331-243-5, 22,00 Euro Schmidt, Peter Wilhelm A.: Nussbaum-Inspirationen – Felix Nussbaum als Maler, Seher und Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Krumbac,. Frick Kreativbüro 2015. 204 S., Bilderbeilage. ISBN 978-3-00-049858-9, 18,00 Euro (Bestellung beim Verfasser) Hirsch, Frank: Juden in Merzig zwischen Beharrung und Fortschritt. Eine kleinstädtische Gemeinde im 19. Jahrhundert. Trier, Kliomedia (Geschichte und Kultur. Saarbrücker Reihe 4) 2014. 341 S. ISBN 978-3-89890-188-8, 52,00 Euro Niefanger, Dirk; Och, Gunnar; Siwczyk, Birka (Hg.): Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialo- Der Synagogenchor (oben) sowie die Karnevalsgesellschaft, die auch jüdische (Vorstands-) Mitglieder hatte, aus: F. Hirsch, Juden in Merzig..., S. 169, 175 13 Mitteilungen Impressum Herausgeber Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen Mit Bedauern nimmt Kalonymos zur Kenntnis, dass das Bundesministerium des Innern (Referat GI 4, Kirchen und Religionsgemeinschaften), uns (und wohl nicht allein uns) den Zuschuss für 2016 streichen wird. Eine bislang verlässliche Unterstützung, die es uns ermöglicht, eines der vier jährlichen Kalonymos-Hefte, die wir weltweit unseren Lesern zustellen, zu finanzieren. Das ist ein harter Schlag für uns, der uns die Veröffentlichung von Kalonymos als Quartalsschrift nicht erlauben wird. Ein Schlag, der nicht dadurch abgemildert wird, dass diese Maßnahmen erfolgt, um „Großveranstaltungen der Evangelischen und Katholischen Kirche“ finanzieren zu helfen (Luther-Dekade /Hundert Jahre Katholikentag). Jüdische Jugendbewegung und jüdische Wohlfahrt war ISSN 1436–1213 Redaktion Prof. Dr. Michael Brocke Dipl.-Soz.-Wiss. Harald Lordick Dr. Beata Mache Annette Sommer das Thema einer Tagung des Arbeitskreises Geschichte der Jüdischen Wohlfahrt in Deutschland und des Steinheim-Instituts (6./7. November 2015). Vierzig auch international angereiste diskussionsfreudige Teilnehmerinnen und Teilnehmer widmeten sich an zwei Tagen dieser, wie sich zeigte, vielfältigen Fragestellung. Satz und Layout Harald Lordick · Beata Mache Postanschrift der Redaktion Edmund-Körner-Platz 2 45127 Essen Telefon +49(0)201-82162900 Fax +49(0)201-82162916 E - M ai l [email protected] Internet www.steinheim-institut.de Druck Brendow Printmedien 47443 Moers Versand Vierteljährlich im Postzeitungsdienst kostenlos für unsere Leser Spendenkonto IBAN DE42 3505 0000 0238 000343 BIC DUISDE33XXX Stadtsparkasse Duisburg 14 Zum Auftakt der Konferenz trafen sich die Teilnehmer in dem bemerkenswerten Gebäude der Alten Synagoge Essen / Haus jüdischer Kultur. Großen Anklang fand die hier von Uri Kaufmann geleitete Führung durch die Ausstellung, die nicht nur historisch orientiert ist, sondern auch einen besonderen Akzent auf den Jewish Way of Life setzt. Im Seminarraum des Steinheim-Instituts im Rabbinerhaus startete dann, nach kurzer Begrüßung, das mit zwölf Vorträgen sehr dichte Tagungsprogramm. Den durchaus komplexen Zusammenhängen von jüdischer Jugendbewegung und jüdischer Wohlfahrt, Sozial- und Reformpädagogik widmeten sich Beiträge von Franz Michael Konrad, Knut Bergbauer, Manja Herrmann und Martin Arndt. Ein Film von Jim Tobias, „Die Vergessenen Kinder von Strüth“ (Ansbach), führte eindrucksvoll das Schicksal gestrandeter Holocaust-Waisen vor Augen, die sich durch halb Europa hatten durch- schlagen müssen, und deren jahrelange Odyssee sich auf dem international bekannt gewordenen Schiff Exodus from Europe 1947 noch fortsetzte. Die Beiträge des zweiten Tages brachten Analysen der Sprache und Bildsprache der Jugendbewegung und der zionistischen Jugend (Manfred Kappeler, Ulrike Pilarczyk). Regionale und lokale Perspektiven, zu Polen, Berlin und Rheinland/Westfalen (Anna Szyba, Beate Lehmann, Harald Lordick), kamen ebenso in den Blick wie Zukunftserwartungen an die jüdische Jugend (Anna Michaelis). Natürlich spielten in den Vorträgen und Diskussionen biografische Aspekte eine Rolle, Siegfried Bernfeld, Moses Calvary, Siegfried Lehmann, Cora Berliner oder Hugo Hahn etwa, und aus der bunten Vielfalt der Gruppen und Strömungen in der jüdischen Jugendbewegung kamen die jüdischen Pfadfinder (Katharina Schulz) und der Wanderbund „Blau-Weiß“ (Joachim Wolschke-Bulmahn) noch einmal ausführlich zur Sprache. Besonders erfreulich schließlich, dass es wie geplant gelungen war, insbesondere auch den wissenschaftlichen Nachwuchs einzubinden, mit anspruchsvollen Beiträgen und engagierter Mitwirkung. Die Konferenz (organisiert von Sabine Hering, Gerd Stecklina und Harald Lordick) fand in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung NRW statt und wurde nicht zuletzt durch die Förderung der Bank für Sozialwirtschaft (Essen) ermöglicht. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung, er wird in der Reihe des Arbeitskreises beim Fachhochschulverlag Frankfurt/M. erscheinen. hl Einen Querschnitt durch unsere Aktivitäten im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften brachte die Ausstellung Digital Humanities und deutsch-jüdische Geschichte in der Universitätsbibliothek am Campus Essen (9. November bis 15. Dezember 2015). Editionen wie die Datenbank hebräischer Inschriften epidat oder die Neuausgabe der Universal-Kirchenzeitung im Zusammenhang deutsch-jüdischer Publizistik, Online-Datenbanken wie die Bibliografie Deutsch-Jüdische Geschichte Nordrhein-Westfalen – das Steinheim-Institut hat seit Jahren gerade auch digital viel zu bieten. Wie lassen sich Daten zusammenführen, wie lassen sie sich vernetzen, in einen gemeinsamen, ebenso dynamischen wie stabilen Zusammenhang fassen? Was bringt das für die Forschung? Und wie erreichen wir den nachhaltigen Bestand der schein- bar eher flüchtigen digitalen Formen? Wer digital forscht und publiziert, kommt um die Auseinandersetzung mit solchen Fragen nicht herum. Wie eine Recherche nach dem Rabbiner Ludwig Philippson von den Fortschritten des Semantic Web profitiert, zeigt ein Poster zum Thema Normdaten und Schnittstellen, und wie Annotation als Kulturtechnik nun auch digital zu ihrem Recht kommt, ein anderes – am Beispiel von Online-Dokumenten zum jüdischen Aufklärer Lazarus Bendavid. Das Projekt Relationen im Raum erschließt Geschichte in ganz neuer Art und Weise, erlaubt es, jüdische Friedhöfe als Ensemble von Zeugnissen und Quellen in ihrem räumlichen Zusammenhang zu erforschen. Gerade diese für die Geisteswissenschaften noch sehr neue digitale Technik der Georeferenzierung bietet uns innovatives Potenzial, das wir auch in weiteren Anwendungen wie der NRWBibliografie nutzen. Forschung ist das eine, Vermittlung mindestens ebenso wichtig: Die multimediale Lehr- und Lernplattform Spurensuche – Jüdische Friedhöfe in Deutschland macht Wissenschaft insbesondere auch für Schüler anschaulich und zugänglich, und mit der App Orte jüdischer Geschichte lassen sich dank Open Access Orte in ganz Europa erkunden. Die Poster der Ausstellung vermitteln so die verschiedenen Aspekte und Blickwinkel, aus denen Digital Humanities im Steinheim-Institut längst eine selbstverständliche Rolle spielen. Sie präsentieren akzeptierte Beiträge auf wissenschaftlichen Konferenzen, sowohl institutseigene Initiativen als auch BMBF- und DFG-geförderte Drittmittelprojekte und nicht zuletzt Kooperationsprojekte wie DARIAH-DE, die sich einer auch von uns so dringend nachgefragten digitalen Infrastruktur für die Geisteswissenschaften annehmen. mac / hl Dieses Jahr haben wir einen Schwerpunkt unserer epigrafischen Arbeit auf unsere direkte Nachbarschaft gelegt: Bereits in epidat erschienen ist die Dokumentation des Friedhofs in Essen-Steele, gefördert von der Sparkasse Essen aus Mitteln der Lotterie "PS-Sparen und Gewinnen". Anfang kommenden Jahres werden die in Kooperation mit der Gedenkhalle Stadt Oberhausen und dem dortigen Stadtarchiv erarbeiteten Dokumentationen der Friedhöfe in Oberhausen-Holten und -Lirich, die von der Sparkassen-Bürgerstiftung Oberhausen gefördert wurden, veröffentlicht. Dann ist auch die Veröf- fentlichung der Dokumentation des großen Segeroth-Friedhofs in Essen zu erwarten, gefördert aus Mitteln der Regionalen Kulturförderung des Landschaftsverbands Rheinland, dessen Präsentation im Frühjahr durch eine Ausstellung in der Alten Synagoge Essen begleitet wird. Nachdem wir mit epidat im Rheinland inzwischen sehr gut vertreten sind, konnten wir dieses Jahr auch in Westfalen wieder aktiv werden: Zum 9. November ging die Dokumentation des Friedhofs in Lage (Lippe) online. 2012 waren dort alte, in einer Böschung vergrabene Grabsteine geborgen, restauriert und auf dem alten Teil des jüdischen Friedhofs am Ort wieder aufgestellt worden. Beeindruckt von diesen wunderschönen Grabsteinen aus dem 18. Jahrhundert beauftragte die Stadt Lage uns mit der Dokumentation des Friedhofs, unterstützt vom Förderverein für Freizeit, Kultur und Sport in Lage e.V. Auf eine private Initiative schließlich geht die von der Stadt Dortmund geförderte Dokumentation der beiden kleinen jüdischen Friedhöfe in Dortmund-Aplerbeck zurück, die 2016 durch die Dokumentation des Friedhofs Dortmund-Dorstfeld ergänzt werden wird. nh Überrest der in der NS-Zeit verwüsteten Synagoge in Lage (Lippe) auf dem dortigen jüdischen Friedhof. Online ist nun die Webseite der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft. Die Vereinigung von fünfzehn außeruniversitären Instituten zielt auf Forschungskooperation, wissenschaftliche Nachwuchsförderung, Öffentlichkeitsarbeit und Evaluation. Als Mitglied ist das Steinheim-Institut natürlich auf der JRF-Seite präsent, und, wie wir finden, gelungen und ansprechend in Szene gesetzt. Werfen Sie doch mal einen Blick darauf, es lohnt: www.jrf.nrw. red 15 Malte Rabbiner Dr. Julius Cohn „Heimatlos“? Mehr zu Rabbiner Dr. Julius Cohn im RHB, 2.1, online unter: http://www.steinheim-institut.de/bhr2.pdf Julius Cohn wurde am 5. Dezember 1878 in Graudenz geboren. Er studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und an der Universität Berlin orientalische Philologie, Geschichte, Philosophie und Medizin. Er war liberaler Rabbiner in Hoppstädten, Karlsruhe, Stuttgart; 1928 bis 1939 Bezirksrabbiner in Ulm. In der Nacht vom 10. Nov. 1938 wurde er misshandelt. Im ärztlichen Befund ist die Schwere der Verletzungen beschrieben: „Schädelhälfte verbunden, nach Abnahme des Verbandes ausserordentlich starke Haematome in der ganzen lk. Gesichtshälfte einschl. Nase, Augenlider und lk. Ohr. Das lk. Auge ist vollkommen zu- geschwollen und blutet, die Conjunctiva zeigt grosses Haematom. Lippen stark geschwollen. Grosses Haematom unterhalb am Hals ...“ (Zit. nach: Rudi Kübler, Südwest Presse, 9.11.2013). Im Mai 1939 emigrierte Julius Cohn mit seiner Frau Dorothea nach England. 1940 starb er an den Folgen der Misshandlungen. 16 Als Student hatte Cohn auch künstlerische Neigungen. Bei dem Preisausschreiben der Redaktion von Ost und West (1902) erhielt sein Gemälde Uwo Lezion Goël („Es kommt der Erlöser nach Zion“) von den erlesenen Preisrichtern, E.M. Lilien, Hermann Struck und Lesser Ury, „als relativ beste Arbeit“ den zweiten Preis (der erste Preis wurde nicht vergeben). Im November-Heft wurde es unter dem Titel Heimatlos abgebildet. Aber war das Cohns Absicht?
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