Lilli Zimet, Martin Buber und der Lehnitzsee

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Beiträge zur
deutsch-jüdischen
Geschichte aus dem
Salomon Ludwig
Steinheim-Institut
an der Universität
Duisburg-Essen
18. Jahrgang 2015
Heft 4
Lilli Zimet, Martin Buber und der Lehnitzsee
Carol Ascher
A
uch mit vierundneunzig Jahren hat Lilli Zimet,
schlank und sorgsam zurechtgemacht, ihre
„Berliner Schnauze“, die Scharfzüngigkeit ihrer Geburtsstadt, nicht verloren. Heute lebt sie allein und
großenteils ans Haus gebunden in einem ordentlichen zweistöckigen Haus in Poughkeepsie im Staat
New York. Ihr Ehemann, Rabbiner Erwin Zimet,
übernahm, aus Europa geflohen, im Jahr 1946 die
Leitung der Synagoge Temple Beth El in Poughkeepsie, der damals fünfzehn Familien angehörten. Seine
Ausstrahlung und das lebendige Programm ließen
die konservative Gemeinde bis zu seinem Tod 1989
auf neunhundert Familien anwachsen.
Als ich im Gespräch mit Lilli kürzlich meine intensive Beschäftigung mit einer Biographie Martin
Bubers erwähnte, überraschte sie mich mit ihrer Erinnerung an ihre Begegnung mit Buber, wie er in
den um den Lehnitzsee gelegenen Wäldern bei Berlin mit jüdischen Lehrerinnen und Lehrern sprach.
Es war Buber, der unkonventionelle Denker und
Vermittler des Chassidismus, der angesichts der
psychischen Verwundbarkeit assimilierter deutscher Juden durch Antisemitismus die Dringlichkeit
sah, „Kraft und mentale Stärke“ durch Vertiefung
ins Judentum zu stiften.1
Martin Buber, 1873 in Wien geboren, verbrachte den Großteil seiner Schulzeit bei den Großeltern, frommen Maskilim, in Galizien, unweit chassidischer Gemeinden. Er studierte Philosophie an
verschiedenen Hochschulen Europas, nahm eine
Nichtjüdin zur Frau und besuchte keine synagogalen Gottesdienste. Doch unterrichtete er später Philosophie und Jüdische Religion an der Universität
Frankfurt. Sein Werk Ich und Du, 1923 erschienen,
war bahnbrechend für Juden wie Christen durch
seine These, die tiefgehende „Ich-Du“-Begegnung
mit einem Gegenüber bringe
uns zum „Du“ unserer Beziehung zu Gott. Auch nach
der erzwungenen Emigration aus NS-Deutschland war
Bubers Glaube stark genug,
ihn zu der Behauptung zu
bewegen, dass die wahre Bedeutung von Nächstenliebe
nicht die eines Befehls Gottes sei, dem es zu folgen gelte, sondern wir durch sie
und in ihr Gott selbst träfen.
In ihren Jugendjahren, als 1933 Hitler an die
Macht gelangte, waren Lilli und ihre Cousine, meine Mutter, patriotische Deutsche. Sie besuchten
selbstverständlich deutsche Schulen, interessierten
sich für deutsche Literatur und das Theater und
verehrten die großen deutschen Komponisten. Und
obwohl ihre beiden Familien an den Hohen Feiertagen die beliebte Synagoge Fasanenstraße besuchten und jede Familie ihre eigene, spezifische
Koscher-Version einhielt, bot das Judentum ihnen
nur wenig spirituellen Trost und Geborgenheit im
Alltag. „Vor Hitler waren wir uns unseres Jüdischseins nicht sonderlich bewusst,“ erinnerte sich Lilli,
damals Lilli Gehr. „Er ließ das Jüdischsein sehr viel
wirklicher werden.“
Als der Biologielehrer meiner Mutter, ein Nationalsozialist, im Unterricht die Juden als eine degenerierte Form der Menschheit bezeichnete und die
Freundinnen meiner Mutter die Straßenseite wechselten, um sie zu meiden, brach sie einfach die Schule ab. Lilli aber liebte den Musikunterricht in ihrem
Lyzeum, und ihre Freundinnen hielten zu ihr. Sie
konnte 1935 noch ihren Abschluss machen, unmit-
Foto: Familie Zimet
ZUVERSICHT
2
telbar bevor der NS-Staat mittels der sogenannten
„Nürnberger Gesetze“ die jüdischen Staatsbürger
entrechtete.
Die Ziele von Bubers Bildungsvorstellung waren, das Lehrpersonal und Schülerinnen und Schüler so gut wie irgend möglich bei der Bewältigung
ihres Schicksals, wo immer dies sie hinführen würde, zu unterstützen. Auch angesichts der zunehmend unerträglichen Lebensbedingungen sollte dies
mit „Mut und Zuversicht durch tiefere Bejahung ihres Jüdischseins“ geschehen.2 Judentum, so Buber,
sei nicht in der Ausübung statischer Gebote am
stärksten, sondern als ein lebendiges Judentum, und
das gerade unter den Bedrängnissen seitens des NSRegimes. Menschsein sollte durch Jüdischsein entdeckt werden und auch in Zeiten extremer Not sollten Juden Vertrauen in sich und ihren Glauben finden können.
Detailliert erarbeitete Buber den Lehrplan und
die Pädagogik, welche seiner Arbeit zugrunde liegen würden. Lehrerinnen und Lehrer wie Schülerinnen und Schüler sollten sich in ihren zukünftigen Heimatländern als Juden zurechtfinden und
auch unter schwersten Bedingungen seelisch unantastbar bleiben. In den nächsten Jahren reiste Buber
nach Berlin, Breslau, Frankfurt, Mannheim, München, Stuttgart und in Dutzende weiterer Städte inner- und außerhalb Deutschlands, in welchen er
lehrte, Trost spendete und die Widerstandskraft seiner Zuhörer stärkte.
Große Hoffnungen setzte Buber auf eine geeinte deutsch-jüdische Antwort auf den Nationalsozialismus, und er glaubte fest daran, dass Juden aus einer solchen genuinen, geeinten Gemeinschaft gestärkt hervorgehen würden. Infolgedessen trat er
für die Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern unterschiedlicher Observanz in jüdischen
Schulen ein, an welchen wiederum Schülerinnen
und Schüler traditionsübergreifend unterrichtet
werden sollten. Bloßes Tolerieren von Unterschieden jedoch war Buber nicht genug. Indem sie Uneinigkeit und Konflikte selbst aufarbeiteten, sollten
sie gegenseitige Scheu überwinden und so eine
wahrhaftige Gemeinschaft aus unterschiedlichen
Sichtweisen gründen.3
Auf dem Lehrplan der Schulen sollten Hebräisch, das Studium der Bibel, die Geschichte der Juden sowie die Soziologie deutscher Juden und ihrer
Kultur stehen. Wie Buber sagte: „Laßt niemanden
fragen, für welches Land wir unsere Kinder denn
ausbilden wollen; für Palästina, wenn es so sein
soll; für irgendein anderes fremdes Land, wenn es
sein muß; für Deutschland, wenn es sein kann“.4
Trotz der stetig wachsenden Bedrohung durch
das nationalsozialistische Regime trat Buber für eine bedachte und hinterfragende Bildung mit langem Atem ein, welche in einer Atmosphäre intellektueller Freiheit vermittelt werden sollte. Lehrerinnen und Lehrer würden vor allem durch ihre
Persönlichkeit und ihr Vorbild wirken. Sie sollten
sich ihren Schülerinnen und Schülern in einer „IchDu“-Beziehung öffnen, während sie die vergangenen und gegenwärtigen Manifestationen ihrer
Religion, im Spirituellen wie im Praktischen, mit
ihnen erkundeten.
Die Tora, zu guter Letzt, sollte nach Martin Buber laut und mit Bedacht vorgelesen werden, um
ihren Ruf den Anwesenden hörbar werden zu lassen. „Das biblische Wort,“ so Buber, „ist auch von
den Situationen seiner Gesprochenheit nicht abzulösen, sonst verliert es seine Konkretheit, seine
Leiblichkeit. Ein Gebot ist keine Sentenz, sondern
eine Anrede“.5 Buber und Franz Rosenzweig hatten
die Tora zuvor gemeinsam neu verdeutscht. Da nur
wenige deutsche Juden das Hebräische hatten lesen
können, waren Toralesungen nun weit verbreitet.
Lilli Gehr, die Lehrerin werden wollte, schloss
sich einer Gruppe von fünfzehn Frauen an, die einen von Nelly Wolffheim geleiteten anderthalbjährigen Kurs besuchten. Nelly Wolffheim war Schülerin von Maria Montessori und selbst eine Ausgestoßene unter Hitler. Auch wenn die Schule nicht
staatlich anerkannt war und der Unterricht in einer
Privatwohnung in der Wilmersdorfer Straße stattfand, zeichnete sich Wolffheims Unterricht durch
die intensive Verbindung von jüdischen Studien,
Pädagogik und Psychologie aus. „Zu Beginn,“ erinnerte sich Lilli, „waren die jüdischen Studien eher
zufälliges Beiwerk im Curriculum. Wir waren vor
allem deshalb auf einer jüdischen Schule, weil die
anderen Schulen uns nicht aufnehmen wollten. Mit
der Zeit allerdings wurde uns bewusst, diese jüdische Musik, diese jüdische Kunst gehören uns.
Wir fanden völlig neues Gefallen an unserer Herkunft, und so war es gut, davon zu wissen.“
Als Absolventin von Nelly Wolffheims Kurs wurde Lilli im Jahr 1936 von der Privaten Jüdischen
Waldschule Kaliski angestellt. Lotte Kaliski, eine
junge Frau aus Breslau, war als Lehrerin ausgebildet,
hatte jedoch aufgrund einer schweren Gehbehinde-
FORTBE STEHEN
Foto: Familie Zimet
rung als Folge von Kinderlähmung keine Anstellung
finden können. 1932 hatte sie daraufhin ihre eigene
Schule eröffnet, die den Fokus auf frische Luft und
körperliche Ertüchtigung legte. Nach Hitlers
Machtübernahme konzentrierte sich Lotte Kaliski
bald auf den Unterricht der Kinder vom ersten bis
zum zwölften Schuljahr. Nachdem ihre Schule wegen Beschwerden nichtjüdischer Nachbarn mehrfach hatte umziehen müssen, hatte sich Lotte Kaliski
schließlich in einer kürzlich von einer jüdischen Familie verlassenen Villa in Berlin-Dahlem, Im Dol,
niedergelassen. Dort war Lilli zunächst für das auf
den Unterricht folgende Nachmittagsprogramm der
Kinder zuständig. Lilli erinnerte sich gut an das
große Speisezimmer, worin die Kinder zu Mittag
aßen und das Lehrpersonal sich zu Besprechungen
traf. Auch eine schöne Terrasse gab es, auf welcher
sie mit den jüngeren Kindern handarbeitete und ihnen bei den Hausaufgaben half.
Entsprechend den Grundsätzen Martin Bubers
erhielten die Schülerinnen und Schüler der KaliskiSchule Unterricht in den gängigen Fächern sowie in
Hebräisch, dem Studium der Bibel, dem Zionismus
und der jüdischen Geschichte. Auch den Kreislauf
der jüdischen Feiertage lernten sie an der KaliskiSchule kennen. Das erste Projekt Lillis dort war es,
den Oneg Schabbat, welchen sie durch eine Musiklehrerin Nelly Wolffheims kennengelernt hatte, zu
organisieren, was sie „mit Begeisterung ausrichtete“. Als eine wachsende Zahl von jüdischen Familien begann, ihre Flucht aus Deutschland vorzubereiten, wurde auch die englische Sprache in den
Lehrplan aufgenommen, um die Kinder auf eine
Immatrikulation an britischen oder amerikanischen
Universitäten und Colleges vorzubereiten.
Lilli war es als junger Lehrerin nicht bewusst,
wie eng Martin Bubers Ziele mit dem Lehrplan,
dem sie als Schülerin wie auch als Lehrerin gefolgt
war, verknüpft waren. Doch erinnerte sie sich, wie
durch die Dominanz des „Ariertums“ die innerjüdischen Unterschiede in den Hintergrund zu treten
begannen. Rückblickend erkannte sie, dass „Druck
von außen sich mit der Präsenz Bubers vereint“ hatte und aus dieser Kombination ihre so wirkmächtige
Ausbildung während dieser Zeit erwachsen war.
Eines Nachmittags saßen Lilli und ich auf dem
Sofa und blätterten durch ein altes Fotoalbum, das
sie hervorgeholt hatte. Ordentlich auf Seiten aus
Bastelpapier geklebt befanden sich darin Fotografien von Martin Buber, wie er, entspannt auf einem
Gartenstuhl unter Bäumen sitzend, mit einer Gruppe junger Leute sprach. Mit Wärme in der Stimme
erinnerte sich Lilli: „Ja, das war in Lehnitz am See...“
Schon 1934 war das Erholungsheim am
Lehnitzsee Teil der jüdischen Bildungsbewegung
geworden. Junge Mädchen hatten dort die Möglichkeit, Haushaltsführung und Hauswirtschaftslehre zu erlernen, um sie auf eine Berufstätigkeit in
ihren neuen Heimatländern vorzubereiten. Darüber hinaus fanden über mehrere Sommer Konferenzen zum Thema Jüdische Bildung statt, welche
viele Lehrende aus dem Großraum Berlin nach
Lehnitz brachten. Martin Bubers Vorträge über biblische Erzählformen, die Wichtigkeit jüdischer Erziehung und die Rolle des Lehrpersonals bei der
Bildung einer jüdischen Gemeinschaft zählten zu
den Höhepunkten dieser Konferenzen.
In Lehnitz begegnete Lilli auch Erwin Zimet,
einem Gitarre spielenden Studenten zum Rabbinat
aus Berlin, der Judentum und Hebräisch unterrichtete und für die Gäste des Erholungsheims den
Schabbat- und andere Gottesdienste leitete. Als Bewunderer Bubers war der Jungrabbiner angesichts
der ständig wachsenden Bedrohung darauf bedacht,
Juden Kraft und Mut durch ihren Glauben zu geben. „Wir stammten aus unterschiedlichen Stadtteilen Berlins,“ erzählte Lilli lächelnd und spielte damit auf Zimets Berliner Nachbarschaft an, in welcher die traditionellsten Juden lebten. Darüber hinaus, so erinnerte sich Lilli, „war Erwin vielbeschäftigt mit seinem Studium, weshalb wir uns nicht oft
sahen. Doch natürlich hatte jeder bemerkt, dass es
zwischen uns gefunkt hatte.“
Lillis Fotoalbum enthielt auch Fotografien von
Lehnitz aus dem Jahr 2004, in dem Lilli mit ihrer
Tochter Miriam das Anwesen am Seeufer besucht
hatte, welches für sie mit dem Beginn ihres neuen
Lebens als Ehefrau eines Rabbiners verknüpft ist.
Das einstige Erholungsheim stand leer und war
vom Verfall bedroht. Trotzdem waren Lilli und Miriam die breite Treppe hinaufgestiegen und über
die verlassenen Korridore gelaufen, sie hatten sogar
die kleine Synagoge im Untergeschoss aufgesucht,
die am 9. November 1938 in der „Reichskristallnacht“ zerstört worden war.
Auch schon vor den Verwüstungen der „Kristallnacht“ war 1938 ein Wendepunkt im Leben von
Lilli eingetreten: Sie war in Lotte Kaliskis Schule,
als die Nachricht von der Deportation Erwin Zimets und seines Vaters sie erreichte. Vater und
Foto: Jüdisches Museum Berlin
Erwin Zimet mit den Schülerinnen musizierend, 1935
3
FORTBESTEHEN
Erwin Zimet im Biographischen Handbuch
der Rabbiner, Band II,2, online unter:
http://www.steinheim-institut.de/bhr2.pdf
Bodo Becker: Das „Jüdische
Erholungsheim Lehnitz“. „Ein
Heim wie dieses ist nicht nur
eine leibliche Wohltat“. Berlin
Hentrich und Hentrich
(Jüdische Miniaturen; 130)
2013. 80 S., Abb.
ISBN 978-3-942271-78-3
8,90 Euro
4
Sohn besaßen polnische Pässe und waren in ein Lager im Niemandsland an der polnischen Grenze deportiert worden.6 Nur wenige Wochen später
musste die Kaliski-Schule ihre Türen schließen, als
Reichsaußenminister von Ribbentrop die Villa der
Schule für eigene Zwecke beschlagnahmte. Trotz
abnehmender Schülerzahlen hatte die Schule in ihren fünf Jahren über vierhundert Schülerinnen und
Schüler der Grund- und Sekundarstufe unterrichtet. Ende 1938 emigrierte Lilli nach London, wo
sie Arbeit als Erzieherin fand. Lotte Kaliski war
derweil auf dem Weg nach New York. Und selbst
Martin Buber, der das Fortbestehen jüdischer Bildung und Kultur in Deutschland so lange nur irgend möglich hatte sichern wollen, brach schweren
Herzens nach Jerusalem auf. Dort würde er zu jener Minderheit gehören, die auf einen Dialog mit
den Arabern drängte.
Erwin Zimet und sein Vater konnten Polen im
März 1939 verlassen, und Erwin besuchte Lilli in
London auf dem Weg nach New York, wo er als Assistent von Rabbiner Milton Steinberg an der Park
Avenue Synagogue arbeiten würde. Erwins Vater
und Mutter jedoch, die sich in Holland wiedertrafen, wurden nach der deutschen Invasion Hollands
deportiert und in Auschwitz umgebracht. Lilli und
Erwin heirateten 1940 in New York und zogen
sechs Jahre später nach Poughkeepsie, wo sich Lilli
in den nächsten Jahrzehnten den vielen Verpflichtungen einer Rabbinersfrau widmete. Sie eröffnete
eine Sunday School, gründete mehrere Chöre,
inszenierte Theaterspiele und Musicals und lehrte
über den Holocaust. Lotte Kaliski ließ sich in Riverdale, einem Vorort nördlich von Manhattan am
Hudson, nieder, wo sie fast fünfzig Jahre lang die
Kaliski School for Special Students leitete.
Wenngleich Bildung des Geistes keinen Gegenpol zum Genozid darstellen kann, so sensibilisierte
Buber doch zahlreiche deutsche Juden, ein „sinnhaftes jüdisches Sein“ zu leben und verhalf ihnen zu
neuer moralischer und mentaler Stärke.7 Wie eine
Emigrantin, ehemalige Schülerin der Kaliski-Waldschule, es auf einem Treffen von siebzig Ehemaligen der Schule 1992 in New York beschrieb: „Wir
alle mussten lernen, jüdisch zu werden... Es war ein
wunderbarer Ort in dieser schrecklichen Zeit in
Deutschland.“8
Ich fragte Lilli Zimet, die sowohl Schülerin wie
Lehrerin an Schulen gewesen war, die dank Martin
Buber und manch anderer entstanden waren, wie
sie deren Erfolge heute beurteilte. „Ironischerweise,“ sagte sie, „war der NS dafür verantwortlich,
dass viele von uns Juden jüdischer wurden.“ Dabei
lächelte sie spitzbübisch und für einen Augenblick
sah ich die hübsche junge Frau, die sie damals war.
Die Frage, ob sie die Wendungen bedauerte, die
ihr Leben genommen hatte, konnte entfallen.
Anmerkungen
1. Hugo Bergmann, Nachruf auf Buber, zit. nach:
Aubrey Hodes: Martin Buber. An Intimate Portrait. New York: Viking Press 1971, S. 221.
2. Maurice Friedman: Martin Buber's Life and
Work. The Middle Years 1923-1945. New York:
E.P. Dutton 1983, S. 199.
3. Martin Buber zitiert in Maurice Friedman (1983),
S. 207.
4. Martin Buber zitiert in Gerhard Wehr: Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung. Zürich: Diogenes
1991, S. 236.
5. Martin Buber, „Ein Hinweis für Bibelkurse.“ In:
Martin Buber. Auf die Stimme hören. Ein Lesebuch. Ausgewählt und eingeleitet von Lorenz Wachinger. München: Kösel 1993, S. 92.
6. Dies geschah im Rahmen der sogenannten Polenaktion am 28. Oktober 1938.
7. Maurice Friedman (1983), S. 199.
8. Joseph Berger: „No Ordinary Reunion; Berlin
Stories Fom Special Alumni.“ New York Times,
10. November 1992, Zugriff am 24. Mai 2014
http://www.nytimes.com/1992/11/10/nyregion/
no-ordinary-reunion-berlin-stories-from-specialalumni.html
Aus dem Englischen von Teresa Krull
Carol Ascher wuchs in den 1940er und 50er Jahren
in den USA als Tochter jüdischer Emigranten auf.
Ihr Vater, Lehrer und Psychoanalytiker, stammte aus
Wien, ihre Mutter aus Berlin. Nach Studium der Anthropologie, Religionswissenschaften und Pädagogik
forschte sie über das öffentliche Schulwesen in New
York. Carol Ascher hat Romane, Sachbücher, wissenschaftliche Artikel und Essays veröffentlicht. In
vielen ihrer Texte beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen von Flucht, Exil und Holocaust auf die
zweite Generation, so in den Memoiren „Afterimages“ (2008) und in ihrem neuen Roman „A Call
from Spooner Street“ (2015). 2015 nahm Carol
Ascher am Steinheim Kolloquium „Translated Memories. Transgenerationelle Perspektiven in Texten
zum Holocaust“ teil.
http://www.carolascher.net
„Echte Gebete und echte Flüche“
Dr. med. Richard Koch am 7. Juli 1945 – zürnend wie die „Proletarier“
Richard Koch (geb. 1882) bleibt bedeutend als Medizinhistoriker, -theoretiker und als Arzt. Auch
bleibt sein Name verbunden mit dem Freien Jüdischen Lehrhaus im Frankfurt der 1920er Jahre,
mit Franz Rosenzweig, seinem Patienten, mit Kritik
an Buber-Rosenzweigs Verdeutschung der Schrift,
mit der „Frankfurter Zeitung“ bis 1933, und nicht
zuletzt mit Walter Laqueur (geb. 1921), Schwiegersohn.
Noch unveröffentlichte Aufzeichnungen aus den
zehrenden Exilsjahren in der sowjetischen Provinz
(1936/7–1949) – als Arzt in Essentuki im Kaukasus
und Zqaltubo in Georgien – erweisen Richard Koch
als von Not und Krankheit ungebeugt hoffenden
Denker. Er überdenkt Wissen und Erfahrung als
Arzt, als Jude, als vertriebener und ausgeraubter
Deutscher und als in der SU Geduldeter.
Nicht immer leicht, seinen dieses Spektrum
durchkreisenden Gedankengängen zu folgen.
Einen in sich geschlossenen furiosen Abschnitt
aus dem Essai „Vom Gebet“ (1945) bringen wir
hier. Vor dieser Passage denkt er über „die seelischen Tatbestände“ nach; danach sinniert er in
wieder freundlicher Verwunderung über die Mentalität der ihn umgebenden Menschen und deren Verfasstheit, ihre Gleichgültigkeit gegen „seelische Tatbestände“.
Dazwischen nun die bittere Aufrechnung des
„Vergangenen“. Sie wächst sich zur höchst konkreten Anklage aus, steigert sich in rauschhaft enragierten Zorn, nur rhetorisch gebändigt von den
„Zehn Geboten“ und das krasse Reiche gegen
Elende. Von Reichen und Pfaffen pervertiert, müssen die Gebote vom Aufschrei der Proletarier und
ihres Sprechers verneint werden. Direkt ihren Geber
anredend werden sie zerschmettert. Der Ankläger
wechselt vom beschreibenden „Er“ über zu „man“
und bald zum „Wir“ und „Uns“, von erfahrungsgesättigter Skizzierung des Elends der Versklavten bis
hin zur fast völligen Identifizierung mit ihnen (und
dem eigenen Leid).
Wem waren jene Gebote denn einst gegeben
worden? Den Befreiten, Freien. „Wir aber leben immer noch im Lande Ägypten, im Hause der Knechtschaft.“ Keine Zeichen und Wunder für uns. Dennoch die Hoffnung auf Exodus, auf Freiheit. Neue
Gebote? Nein. Aufschrei, Unfreiheit. Immer noch,
und wieder neu.
Richard Koch erlebte die Mordprozesse der
„Ärzteverschwörung“ 1951/53 nicht mehr.
mb
I
ch lebe in einem Staat, in dem man das Nichtwissen von den seelischen Tatbeständen zum Staatsgrundgesetz und Glaubensbekenntnis gemacht hat.
Mit guten Gründen.
Die Proletarier – Sklaven nach Erklärung der
Menschenrechte – haben den Gott, den Götzen der
Reichen hassen gelernt. Wenn etwas an diesem Gott
sein sollte, so war er also schuld an der eintönigen
Leib, Seele und Geist mordenden Arbeit, die keine
Zeit läßt zum Dasein, an dem sich jedes Tier freuen
darf, er war schuld am elenden Lohn, an Hunger,
Krankheit, frühem Tod, Not, Schmutz, Elend und
Laster. Er war Schuld an dem elenden Quartier, in
dem Boden, Luft und Licht nicht reicht. Hier in diesem stinkenden Knäuel von Menschen, die einander
hassen müssen, die gezwungen sind schamlos miteinander zu leben, sich zu quälen und zu prügeln,
sich um Platz, Nahrung, um jeden Lappen zu raufen,
sich zu betrügen und zu bestehlen, hier, oft im Keller
oder unter dem Dach, zusammengepfercht mit
Hunderten, mit der Aussicht auf einen trüben,
schmutzigen Hof, auf eine hoffnungslos häßliche
Straße, hier war kein menschliches Hausen möglich.
So kann kein Mensch leben. Weiber und Schnaps
vermag etwas zu betäuben, aber der Ekel vor dem
Dasein, vor dem häßlichen andern, dem häßlichen
eigenen Selbst, all das bleibt.
Für die Reichen ist der Proletarier weit weniger
wie das Vieh. Notwendige, verachtete, gemiedene
Unterklasse. Menschen deren Nähe verunreinigt
und vergiftet, mit denen man das Haus, die Straße,
das Wohnviertel nicht teilen darf, mit denen wir
nicht in derselben Straßenbahn, nicht im selben Eisenbahnwagen sitzen können, die wir nicht in unsere Gasthäuser und Speisestätten, nicht in unsere
Badehäuser lassen. Mit denen wir sogar nicht an
derselben Flußstelle baden wollen. Deren Spazierwege wir meiden, an deren Feiertagen und Freistunden und Festen wir zuhause bleiben. Deren Begräbnisstätten kein Ort des Friedens sondern ein
Ort des Grauens sind. All das vom Gott der Reichen. Mit dreißig ist man ein alter, verbrauchter,
verwüsteter Mann, die Frau war mit zwanzig noch
nicht recht erblüht und schon nicht mehr frisch
und jung. [...] Die Kinder häßlich, kränklich, blaß,
aufgeschwemmt mit flachen Brustkörben, dicken
Bäuchen, krummen Gliedern, mit spitzem Kinn,
mißbildetem Schädel und mit frechen Augen. [...]
Jede Misere dieser Art macht Söhne zu Verbrechern und Töchter zu Huren, zu Huren für die, die
5
uns all das im Namen ihres Gottes angetan. Für die
Töchter die Straße, das Bordell, das Spital, für die
Söhne die mächtigen Gefängnisse und Zuchthäuser,
die wir bezahlen und in denen keine Reichen sind
und wenn einer ganz zu der Bestie geworden ist, die
wir unbegreiflicher Weise noch nicht alle sind, der
Henker mit Block und Beil, im Morgendämmern
auf dem öden Gefängnishof, vor dem widerlichen
Staatsanwalt, den widerlichen Wärtern, dem noch
widerlicheren, schmalzigen fetten Pfaffen, vor diesem Gesindel von unseresgleichen sinnlos vor Todesangst, schon fast mehr tot als lebendig, hingeschleppt, um abgemetzt zu werden so wie man kein
Tier mehr metzen darf. Weh dem, der denen einen
Groschen klaut oder ein Haar krümmt, aber ihnen,
die uns all das angetan, alles Gold, alle Ehre, Üppigkeit und Herrlichkeit, alles Prassen, alle Lust alles
Faulenzen, alle Süße des Daseins, von der wir nicht
einmal träumen können. So, solange Friede ist.
Im Krieg – nun da sind sie auch gutgekleidet, essen gut, trinken gut, liegen auf reinlichen Lagern
oder gar in guten Betten, dürfen uns nach Herzenslust schinden und quälen, bekommen die Brust voll
Orden, auch wenn sie den Krieg weit vom Schuß
führen, sind gehegt, gepflegt, geliebt und geehrt,
wenn sie verwundet sind und wenn sie fallen wie unsereiner, dann waren sie Helden und ihres Rühmens
ist kein Ende. Für uns ist im Krieg erst recht Hunger
und Kummer, Drangsal, Strapazen, Elend, Not und
Erbärmlichkeit aller Art. Kriegssklaven, graue stinkende Massen, verdreckt, verschwitzt, verlaust.
Schwerbepackt. Häßlich gekleidet. Im Sommer zu
schwer, im Winter zu leicht. Plump beschuht. Not-
6
dürftig genährt. Mit Pistole und Maschinengewehr
in den Tod getrieben, in unseren jämmerlichen, ekligen, stinkischen Heldentod für dieses Vaterland.
Mit diesem Gott, für diesen König, für dieses Vaterland. Gut, wen so der Teufel geholt hat. Wohl ihm.
Kommt er aber unglückseliger Weise als Krüppel, als Blinder, als Wahnsinniger, als Entstellter mit
dem Leben davon, dann kann er das dankbare Vaterland kennenlernen und alle Engel im Himmel
singen hören. Ein zweites Mal ließe er sich eher auf
der Stelle tot schlagen, als daß er die Knochen noch
einmal hinhalten würde. So und für ihren ver-
fluchten Gott erkämpfen wir dieser Bande ihre
Siege, bei denen für uns nichts herauskommt als
Not und Tod, als Hunger, Kälte, Hitze, Durst,
Krankheit, Schmerz, Erschöpfung, Angst und Verzweiflung, aber nicht ein roter Heller, nicht ein
Lumpen, nicht ein Knochen. Wir leben nach Sieg
und Niederlage bestenfalls wie wir vorher gelebt haben, meist schlechter. Wir vergießen unser Blut, wir
geben unser bißchen Gut für weniger als nichts, für
unsere Todfeinde. Wir kämpfen gegen unseresgleichen, weil wir es unbegreiflicherweise noch immer
nicht fertiggebracht haben mit ihnen, unseren Brüdern und Genossen, zusammen und einträchtig, ruhig, mit Behagen, ohne besondere Gefahr und ganz
ohne Mühe unsern gemeinsamen Todfeind totzuschlagen und auch – sie sind doch auch Menschen –
in gerechter ausgekosteter Rache etwas zu Tode zu
quälen. Aber das Letztere werden wir so wenig tun
wie das Erstere. Sie haben es so weit gebracht sogar
die blutgierige, grausame Bestie in uns zu töten, wir
sind nur noch häßliche, störrige Esel, fressen Disteln, nehmen die Prügel hin, tun unverdrossen unsere Arbeit und beißen niemand. Vielleicht gibt es sogar irgend eine Art von Anstand in uns, der den andern in ihrem Fett erstickt ist. Wenn es nur all das
wäre, dann könnte man vielleicht noch immer seinen Herrgott für das bißchen Sonne, die auch unsereins bescheint, wenn wir Zeit haben in ihr spazieren zu gehen, loben. Das Schlimmste ist, daß sie
nicht fertig bringen wenigstens im Verborgenen,
wenigstens nicht vor unseren Augen zu leben. Wir
müssen sie sehen, hören, riechen. Sie und ihre geputzten Weiber und gepflegten Kinder, auch das
adrette und propere Gesindel, das sie bedient und
beschützt. Sie sind schön, schlank, gesund, wohlgenährt als Kinder, in der Jugend und noch im Greisenalter. Sie sind ansehnlich, würdig, gewichtig,
vornehm. Es ist sehr schwer sie nicht zu bewundern,
keinen Respekt vor ihnen zu haben, nicht vor ihnen
als den gottgewollten Herren zu kuschen. Sie duften
vor Sauberkeit, Wohlanständigkeit, Geordnetheit.
Schon ihre hochnäsigen kleinen Jungen und Mädchen wagt man kaum anzusehen, gewiß nicht mit
unseren Fingern anzurühren. Unseren Töchtern
gibt man einen Taler und sie müssen... ja all das,
rasch und pünktlich und ohne zu mucken. Ihre
Töchter gehen geschützt und behütet durch ihre
blühende Jugend wie Göttinnen und wie Heilige,
denen man sich nicht nahen darf. Weh dem, der sie
berührt. Und sie bilden sich noch etwas darauf ein,
ZU GREIFEN
daß sie ihr paradiesisches Leben, all ihren Reichtum
und ihr Glück, ihr feines Essen, ihre duftigen
Kleider, die weichen Betten, all das und noch viel
mehr sich nicht genug sein lassen, sondern ein paar
Leben lang auf das Bißchen Vergnügen, das sie dann
so bequem, reinlich und reichlich haben wie sie nur
wollen, und ohne unseren Kindersegen und ohne
daß ihnen für die Kinder, die sie nicht bekommen
wollen, Tod und Gefängnis droht.
Wenn man nur nicht in die vornehmen Restaurants hineinsehen müßte, wo die Herrschaften speisen, festlich gekleidet, an blühend weiß gedeckten
Tischen, die von Silber und Kristall glänzen und funkeln, die mit teuren Blumen geschmückt sind. Wenn
man nicht die betauten Sektkübel sehen müßte,
nicht sehen müßte, wie die köstlichsten, unbekannten Gerichte auf silbernen Platten von befracktem Gesindel serviert werden, wie sie satt, steif, gelangweilt, mit geröteten Gesichtern verzehren.
Was meinen sie wohl, was unsereiner denkt,
wenn er im dünnen Röckchen frierend auf dem
Pflaster steht und hinstarrt, wie sie vor dem Theater vorfahren. Ein Luxusauto nach dem andern,
von denen jedes soviel gekostet hat, wie unsereiner,
wenn alles gut geht, im ganzen Leben verdienen
kann. Wie diese Autos geräuschlos bremsen und ihren reichen Inhalt von sich geben. Herren wie aus
dem Modejournal, Damen in Pelzen, die den Hals,
den Busen, die Schultern, die Arme wohlig streicheln. Und auf der Haut all die weiche Seide und
darüber die knisternde Seide, die der klaffende Pelz
sehen und ahnen läßt. Blitzende Brillanten, bunte
Steine, stumpf glänzende, große runde Perlen im
Haar, in den Ohren, um den Hals, am Busen, an
Armen, Handgelenken und Fingern.
Gold tragen sie nicht, das ist zu gemein. Von
dem, was so eine an einem Abend trägt, könnte
man unsereinem reichlich ein großes schönes Haus,
mit Bad und Toilette, mit Garten und Acker, mit
Kuh, Schwein, Ziege, Hühnern, Kaninchen, mit
Hund und Katze kaufen. Die feinen Handschuhe,
die seidenen Strümpfe, sinnenerregenden Schuhe.
Die Schminke, die Wolke von Puder und Wohlgerüchen, die all das umgibt und bis zu uns armen
Teufeln auf die kalte Straße dringt, damit wir wenigstens den Geruch vom Braten haben. Es wird
herausgehoben, gestützt, bekomplimentiert, die
Tür weit aufgerissen. Über den roten Teppich hüpft
das zierliche, kostbar beschuhte Füßchen und
schon ist die ganze Pracht verschwunden und das
nächste Auto bremst geräuschlos.
Würden wir denn wagen, mit unseren roten
rohen Fäusten zuzugreifen und uns endlich einmal
ganz zu sättigen? Würden wir wagen das stoppelige
Kinn, den üblen Atem in die Nähe dieses schwellenden, korallenroten Mundes zu bringen? Wir stehen ja schon da, wir die dummen Jungens, wenn
wir den alten Herrn anreden sollen, ihm eine Beschwerde, eine Bitte vorbringen, oder ihm, was
viel, viel schlimmer ist, zu einem Geschäftsjubiläum
gratulieren, an seinem Sarge einen Kranz niederlegen sollen. Wie stehen wir dann da in unserem besten Staat, der noch viel häßlicher und noch viel lächerlicher ist, als unser Arbeitskleid. Wie stehen
wir da mit unseren eckigen Knochen, unseren ungeschickten, verlegenen Bewegungen, unserer rauhen Stimme, unserer gewöhnlichen Sprache, unserer unrichtigen Rede, unseren unechten Worten.
Wir brauchen nur hinzutreten und den Mund aufzutun, um Mitleid und Spott zu ernten. Wenn es
aber wirklich einmal zu Rede und Gegenrede
kommt, das verdammte Lächeln mit dem ein lässig
hingeworfenes Wort unsere besten Gründe abtut,
obwohl wir wissen, daß wir hundert mal recht haben und er hundert mal unrecht. Aber wir sind ihm
nicht gewachsen, weit, weit davon.
Denn wir wissen nichts, haben nichts gelernt,
sind ungebildet. Auch wenn wir müde und stumpf
statt ins Wirtshaus in die Vorträge und Kurse rennen, auch wenn wir den schweren Lidern den
Schlaf abringen und den harten Kopf über die
schwierigen Bücher hängen. Da sieht man schon,
daß alles, was man so denkt, recht und richtig ist,
aber es will nicht mehr in den Kopf. Man merkt,
was da ist, solange kein tückisches Fremdwort den
Sinn verschließt, aber man kann nichts damit anfangen. Es wird nicht zur Waffe. Braucht man das,
so muß man einen anstellen, der meistens nur halb
zu unsereinem gehört. Er aber hat das alles im Matrosenanzug auf bequemer Schulbank und von gut
bezahlten Hauslehrern gelernt, es sich in munteren
Jahren von seinen Professoren in gefälliger Rede
erzählen lassen, es in Muße und Luxus in hundert
schönen Büchern gelesen. Kein Wunder, daß er damit umgehen kann. Ihm ist sein lieber Gott ein
7
ZERREISSEN
Richard Koch und Franz Rosenzweig- Schriften und Briefe
zu Krankheit, Sterben und Tod.
Hg. Von Frank Töpfer und
Urban Wiesing. Münster 2000.
8
135 S.
guter Mann. Er hat allen Grund auch etwas für seinen Herrgott zu tun, der bei der großen Teilung alles auf seinen Teller geschoben hat.
Und er tut. Wenn man ihn auch zerreißen sollte,
man erliegt immer wieder den Reizen dieser kultivierten Bestie. Nicht aber denen der Pfaffen, die er
bezahlt, damit wir hübsch brav bleiben und es für
das einzige Gute und Schöne halten, daß er das lautere Gold hat und wir das rostige Blech. Seine gut
bezahlten und gefütterten Pfaffen sind nur widerlich. Man möchte brechen, man möchte es wirklich, nicht nur so gesagt, wenn sie in all ihrer
Schamlosigkeit dastehen und wagen unsereinem
mit den zehn Geboten zu kommen.
„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus
Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe.
Du sollst haben keine anderen Götter neben mir.“
Uns hast du nach Ägyptenland ins Haus der Knechtschaft, aber ohne die Fleischtöpfe, geführt und uns
wäre jeder andere Gott recht, der uns hilft.
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein
Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel,
noch des, das unten auf Erden, oder des, das im
Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich der Herr, dein Gott, bin ein
eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat
an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die
mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten.“ Wir verstehen. Unsere Väter haben dich so abgebildet, wie sie dich gesehen haben. Und das Ebenbild mit Schwanz und Krallen und Pferdefuß konnte
dir nicht gefallen. Deshalb verfolgst du uns. Ich würde dich, wenn es dich gäbe, noch viel abscheulicher
abbilden wie die Väter und ich wundere mich auch
nicht, daß dich die Reichen nicht abbilden, weil ihnen kein irdisches Bild an ihren lieben Gott heranreicht, der ihnen alles gegeben hat und sorgt, daß
wir für sie arbeiten, hungern, bluten und sterben,
damit sie leben. Sie haben recht, wenn es dich gibt.
„Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft
lassen, der seinen Namen mißbraucht.“ Das mag
heißen, daß man im Namen dieses Gottes nichts
Böses tun soll. Alles Böse an uns geschieht im Namen dieses Gottes. Wenn es ihn gäbe müßten wir
ihn darum hassen wie den Teufel.
„Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine
Werke verrichten; aber am siebenten Tag ist der Sabbath des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein
Werk tun, noch dein Sohn noch deine Tochter noch
dein Knecht noch deine Magd noch dein Vieh noch
dein Fremdling, der in deinen Toren ist. Denn in
sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist und
ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr
den Sabbathtag und heiligte ihn.“ An das Gebot
wollen wir uns halten. Nur brauchen wir dazu ihren
Gott nicht und erst recht nicht, weil er die Welt für
sie so gut und für uns so schlecht geschaffen hat.
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,
auf daß du lange lebest in dem Land, das dir der
Herr, dein Gott, gibt.“ Ich will sie nicht ehren. Sie
haben mich wegen Gier und Lust eine Minute gezeugt, ohne an mich zu denken, ohne zu denken,
daß ich besser ungeboren geblieben wäre, ohne die
Macht mir ein menschenwürdiges Dasein zu geben.
Ich will sie nicht ehren, weil sie nichts getan haben,
um mein Schicksal zu bessern. Ich will sie nicht ehren, weil sie mich von Kindheit an zu harter Arbeit
gezwungen, weil sie mich an die Arbeit geprügelt
haben. Ich will sie nicht ehren, weil sie den Kindern
im Hause den bösen Feind verkaufen, die Schule,
den Pfaffen, den Schutzmann, den Staat, die Reichen. Ich will sie nicht ehren, weil ich sehe wie sie
sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen, wie
der Vater säuft und im Rausch die Mutter schlägt
und beleidigt und wie die Mutter den Vater quält
und beschimpft. Ich will meine Eltern nicht ehren,
ich will auch gar nicht lange leben, ich will alles andere lieber als alt werden. Alt werden ist gut für die
Reichen, für uns ist es die Hölle nach der Hölle des
Lebens. Hilflos, dreckig, verstunken, immer hungrig, von allen getreten, verachtet, gehöhnt, Kinderspott und doch auf irgendeine Weise ausgebeutet bis
zum letzten Atemzug. Und immer das Lied du hast
lange genug gelebt, wann verreckst du endlich, du
frißt uns das Brot weg. Gut, daß dafür gesorgt ist,
daß unsereiner jung weg muß. Die werden siebzig
und achtzig, wir oft keine fünfzig, selten sechzig.
Das ist noch das Beste. [...] Der Tod ist gut. Wir haben längst genug von diesem beschissenen Leben.
Und ein Land hat uns kein Gott gegeben. Das gehört den andern. Wir dürfen uns darauf für sie
schinden, uns das Mark aus den Knochen rackern,
ZU STEHEN
damit sie fressen und faulenzen können. Wir fluchen dem Vater, der uns gezeugt, der Mutter, die
uns geboren hat. Aber wir wissen auch, warum ihr
Pfaffe predigt, man soll die Eltern ehren. Die Eltern
sind ihre Vögte in unseren Häusern, ihre letzten,
elendsten, alleruntersten Vögte, die ihre Herrschaft,
ihre Autorität, ihre Gewalt uns in den Nacken setzen. Sie quälen unser Blut mit unserem Blut. Der
Stock des Vaters ist ihr Stock. Es sind ihre Prügel,
die wir bekommen. Und dann haben sie Angst vor
ihren eigenen Kindern, ihren Erben. Sie gönnen den
Raub ihren Kindern nicht, bleiben darauf sitzen bis
in die letzte Stunde und fürchten sich vor der Gier
der Jungen, die all die schönen Dinge viel besser gebrauchen können. Unrecht auch im eigenen Hause.
Von der Sorge wollen wir sie befreien. Wir ehren die
Jungen, die den ganzen Kram zusammenschmeißen
und eine bessere Welt errichten werden. Dann wollen wir unseren Sabbath heiligen.
„Du sollst nicht töten“. Wir sollen und müssen
mit Flinten und Kanonen unsere Brüder töten, so
wie unsere Brüder mit Flinten und Kanonen uns töten müssen, damit die Reichen noch reicher werden. Wir wollen aber sie töten, denn wir können so
nicht leben und sie haben es hundert-, tausendmal
verdient. Sie töten uns täglich, sie quälen uns langsam zu Tode, uns, unsere Weiber und unsere Kinder, so daß wir nach einem verfluchten Leben jung
sterben müssen. Sie töten unseren Leib und unsere
Seelen und wir werden sie töten, wie das in unseren
Geboten steht. Haben sie das Recht Mordwaffen
herzustellen und anzuwenden gegen Menschen, die
ihnen nicht das Allergeringste Böse angetan haben,
wie viel Recht, ein wie gutes und starkes Recht haben wir dann, dasselbe gegen sie zu tun. Unsere
Soldaten und unsere Henker werden das Recht auf
ihrer Seite haben, ihre haben auf ihrer Seite das Unrecht. Wir werden töten.
„Du sollst nicht ehebrechen.“ Das heißt wohl,
du sollst die Finger von unseren Weibern lassen,
denn daß ihre versklavten Weiber nicht gegen die
Hörigkeit mucken dürfen, versteht sich gerade so
von selbst, wie daß ihnen so viel Weiber zustehen
wie ihre Lust verlangt. Wir werden ihre Weiber in
Ruhe lassen, weil wir gute, dumme, immer wieder
anständige Kerle sind. Aber könntet ihr uns ernstlich übelnehmen, wenn auch wir einmal unserer
Gier nach euren gepflegten, zarten, duftenden Weibern nachgäben, ihr, die ihr nur in die Westentasche
zu greifen braucht, wenn euch ein Lüstchen nach
den paar blühenden Tagen unserer Frauen und
Töchter anwandelt. Wenn es sich nur um euer unheiliges Herrenrecht handelte, dann wollten wir gewiß ehebrechen, nach Herzenslust ehebrechen, bis
wir satt sind. Wir haben es redlich verdient. Wir tun
es nicht, weil uns das Recht eurer gedrückten, hörigen Weiber heilig ist. Sie gehören auf ihre Weise
und auf unsere Weise zu uns. Wir wollen einmal mit
freien Frauen zusammenleben. Wir wollen uns nicht
in den Schweinestall der Ehe einsperren lassen, um
uns gegenseitig und unsern Kindern die Hölle auf
Erden zu bereiten. Wir brechen aus. Die Ehe habt
ihr erfunden, weil ihr das für eure Kinderzucht
braucht, weil ihr nur eigenem Blut vererben wollt,
weil ihr eine Sklavin im Hause braucht, die keines
Willensvorgangs mehr fähig ist. Ihr braucht die Ehe,
damit wir euch Arbeiter und Soldaten liefern, damit
wir euch die Polizei über die Kinder ersparen. An
unseren Ehen wird nichts zu brechen sein. Die Ehe
dient euch, nicht uns. Sie ist uns unheilig.
„Du sollst nicht stehlen.“ Wir hungrigen haben
das heilige Recht zu stehlen und alles, was ihr zu unrecht besitzt, alles, was ihr besitzt, ist uns gestohlen.
Euer Besitz ist Diebstahl, aber böser Diebstahl aus
Habsucht, nicht guter Diebstahl aus Hunger. Wir
werden die bösen Diebe hängen und die guten laufen lassen, nicht aber sie in Gefängnissen und
Zuchthäusern verfaulen lassen und ins Verbrechen
drängen. Die Gefängnisse und Zuchthäuser bleiben
für die bösen Diebe, wenn sie die Habsucht nicht
beherrschen lernen und das Stehlen lassen. Uns gehört, was wir brauchen, von Rechts wegen. Ihr gebt
her, was ihr nicht braucht, von Rechts wegen. So
wird gut richten sein. Einstweilen müssen wir stehlen und wollen es mit den breiten Gewinnen von
der Welt und vor der Welt tun. Noch sind wir die
kleinen Diebe, die man hängt und ihr die großen,
die man laufen läßt. So lange das noch dauert, wollen wir die feierlichen Worte vermeiden und sachlich bleiben. Wir wollen sprechen wie ein Dieb zum
andern. Ein kleiner, der sonst ganz ordentlich ist, zu
Richard Koch. Zeit vor Eurer
Zeit. Autobiographische
Aufzeichnungen. Mit einem
Vorwort von Walter Laqueur.
Stuttgart-Bad Cannstatt 2004
(Medizin und Philosophie
Bd. 8). 496 S.
9
ZEUGNIS
Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen. Dieses Institut
beherbergt den Nachlass von
Richard Koch. Im Rahmen
eines von der DFG geförderten
Projekts wurde er archivalisch
erfasst und wissenschaftlich
bearbeitet.
Keine Eingriffe in den Text,
Kürzung durch eckige Klammer gekennzeichnet, Satzzeichen gelegentlich ergänzt,
Rechtschreibfehler stillschwei-
10
gend korrigiert.
einem großen, der ein hartgesottener Sünder ist.
„Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen
deinen Nächsten.“ Nein, das wollen wir wirklich
nicht tun. Es soll an unserem wahren Zeugnis über
euch und gegen euch nicht fehlen. Wir wollen unser
rauhes Zeugnis über euch jeden Tag hinausschreien,
bis es alle Gequälten, Gebeugten, Gedrückten, Entwürdigten, Erniedrigten, alle Frierenden und Hungernden gehört haben. Unser Zeugnis gegen euch
soll uns die Waffen schmieden, uns die Helfer waffnen, damit es gegen euch aufsteht und euch vernichtet. Ihr aber legt jeden Tag falsches Zeugnis gegen
uns ab. Ihr wißt, daß wir recht haben und ihr unrecht, ihr wußtet es früher als wir, und trotzdem verkehrt ihr täglich das Recht gegen uns, nennt uns Verbrecher, obwohl ihr wißt, daß wir gute Kämpfer
sind, nennt uns Zerstörer, obwohl ihr wißt, daß wir
an stelle des schlechten Zerstörten ein gutes Neues
aufbauen werden, nennt uns Verführer und Verführte, obwohl ihr wißt, daß wir Lehrer und Schüler
sind. Und darüber hinaus ist jedes Urteil eures Gerichts auf ein falsches Zeugnis gegründet. Es ist
nicht wahr, daß unsere Verbrecher ein Recht gebrochen haben. Erst habt ihr ihnen das Recht gebrochen
und dann taten sie, was sie tun mußten. Schon daß
ihr immer falsches Zeugnis ablegt, im Großen und
Kleinen, wir aber immer wahres Zeugnis, schon das
zeigt, wem die gute Sache und wem die schlechte.
„Laß dich nicht gelüsten nach deines Nächsten
Hause. Laß dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Weibe noch nach seinem Knechte noch nach seiner Magd noch nach seinem Ochsen noch nach seinem Esel noch nach allem, was dein Nächster besitzt.“ Doch. Wir lassen uns nach all dem gelüsten.
Zuerst mit dem Neid des armen Hungrigen, der den
Reichen, der keinen Hunger kennt, prassen sieht,
mit dem Neid des Frierenden auf den, der im Warmen sitzt, mit dem Neid des Bettelkindes auf der
dunklen kalten Gasse, das durch die Scheiben den
Weihnachtsbaum der reichen Kinderstrahlen sieht,
mit dem Neid des schmutzigen höflichen Gedrückten und Erniedrigten, der auf den Reinlichen, Schönen, Stolzen und Mächtigen sieht. Wir lassen uns
weiter gelüsten, weil wir brauchen, was ihr entbehren könnt. Wir lassen uns endlich gelüsten, weil wir
das Unrecht nicht länger tragen, sondern das Recht
verwirklichen wollen. Ihr aber laßt euch nach der
dünnen, schlechten Butter auf unserem Brot, nach
unserem trockenen Brot selber gelüsten, ihr laßt
euch nach unserem Mark und Bein, nach unserem
Bißchen Leben gelüsten. Ihr laßt euch nach allem
gelüsten, was ihr aus uns herauspressen, was ihr von
uns abschinden, was ihr uns abrackern könnt, damit
ihr herrlich und in Freuden leben, damit ihr das uns
allen gemeinsame Gut verprassen und verlottern
könnt, damit wir für euch arbeiten müssen, von da
an, wo wir die Hände regen können, bis dahin, wo
sie uns den Dienst versagen alle Stunden unseres
armseligen Lebens. Euer Gelüsten ist bös und unser
Gelüsten ist gut. Wir wollen sehen wie das wird,
ohne euren Gott, der uns nie geholfen hat, mit unserer eigenen Kraft, die uns helfen wird.Und diese
Gebote hat der widerliche Pfaffe die schamlose
Frechheit uns zu predigen, uns zum Gesetz machen
zu wollen, obwohl er weiß, daß diese Gebote einem
Volk gegeben wurden, nachdem sein Gott es aus
dem Land Ägypten, dem Hause der Knechtschaft,
dem Diensthause durch Zeichen und Wunder herausgeführt hatte. Es waren freie, bewaffnete Leute,
denen diese Gebote gegeben waren. Sie wurden
durch eigene Richter gerichtet, durch eigene Ratgeber beraten, durch einen Führer aus eigenem Blute
geführt. Sie trieben reiche Herden mit sich und waren reich beladen mit Gold und Silber. Hinter ihnen
lag das Elend und vor ihnen der Sieg und die Hoffnung. Wir aber leben noch immer im Lande Ägypten, im Hause der Knechtschaft. An uns sind noch
keine Zeichen und Wunder geschehen. Wenn wir
erst auf dem Wege sind nach dem Lande, das unseren Vätern verheißen ist, wenn auch an uns Zeichen und Wunder geschehen sind, dann wollen wir
sehen, was für Gebote dann für uns gelten. [...]
I
ch lebe in einem Staate, in dem all das der Vergangenheit angehört, in dem schon fast vergessen
ist, daß es so etwas einmal gegeben hat. Der zwanzigjährige Proletarier vom Oktober 1917 ist heute
schon fast acht und vierzig Jahre alt und von den
damals Fünfzigjährigen leben nicht mehr viele. Der
Mensch vergißt rasch. Was heute hier lebt und sich
regt und sich der Sonne und des Lebens freut, kann
unmöglich mehr die Gebete und Flüche des Proletariers der vorrevolutionären Zeit kennen. Es waren echte Gebete und echte Flüche. Sie sind beide
in Erfüllung gegangen.
Buchgestöber
Tiefschürfende Studien zum Buch Exodus als der Grün-
dungserzählung der modernen Welt – zu seinen
„Schlüsselszenen der Heilsgeschichte, die in Judentum, Christentum und Islam, aber auch in Kunst
und Literatur vielfältige Wirkung entfaltet haben“.
Eine beeindruckende und überzeugende Leistung,
etwas zu lang geraten, doch durchaus spannend
und flüssig lesbar.
Die „vielfältige Wirkung“ kommt zu kurz.
Islam wird nur sehr selten und pauschal erwähnt.
G.F. Händels Oratorium ‚Israel in Egypt‘ und
A.Schönbergs ‚Mose und Aron‘ nehmen weitaus
Es musste Deutsch sein. Die deutsche Sprache nach
der Nazizeit musste sich jüdisch besinnen, sich selbst
einholen. Nicht nur die Hölle war deutsch geplant
und ausstaffiert, auch das Entrinnen aus der Hölle
bedurfte des deutschen Ausdrucks.““
Elazar Benyoëtz - Korrespondenzen. Hgg.
von Bernhard Fetz, Michael Hansel, Gerhard Langer. Profile 17 (2014), 21. Zsolnay. 272 S. ISBN 978-3-552-05696-1,
21,90 Euro
Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der
alten Welt. München, C.H. Beck 2015.
493 S., 40 Abb. ISBN 978-3-406-67430-3,
Euro 29,95
mehr Raum ein, was kein Schaden ist. Völlig ignoriert aber wird die nachbiblisch-christliche, die
scharf antijüdische Interpretation der biblischen
Exodus- und Wüstenzeit-Schilderungen in der
christlichen Lehre und Liturgie (Melito von Sardis,
5. Esra, Kirchenväter, Karfreitags-Improperien,
Passionspredigten usw.) Kapitel 9: „Widerstand –
Mose und das gewaltsame Geschick der Propheten“ bringt es nicht über Lukas 13,34 („Jerusalem,
die du tötest die Propheten...“) und eine wichtige,
fünfzig Jahre alte Dissertation von O. H. Steck hinaus. Und das, obwohl Assmann immer wieder gern
von den „Resonanzen durch die Jahrtausende“ redet. So bleibt alles friedlich-freundlich im grünen
Bereich. Dennoch nachdrücklich empfohlen. mb
„Ich wollte kein Deutscher sein, auch kein deutscher Jude
werden – ich wollte ein neues Gehör aus altem Sprachgut
für das Einmal-Und-Nie-Wieder schaffen.“ Diese Worte
des 1937 in Wiener Neustadt geborenen und 1939
nach Israel emigrierten Aphoristikers und Essayisten Elazar Benyoëtz weisen auf das hin, was den Dichter in besonderer Weise auszeichnet: ...das sich Hineinversenken in die deutsche Sprache, wie es vielleicht nur bei einem Autor gefunden werden kann,
der aus dieser Sprache vertrieben wurde und der sich
das Deutsche über den Umweg intensiver Lektüren
deutsch-jüdischer Schriftsteller wieder angeeignet
hat. …Über den ebenfalls deutsch schreibenden jüdischen Dichter Paul Celan schrieb Benyoëtz einmal:
So beginnt einer der Herausgeber eines neu erschienenen Sammelbandes, Bernhard Fetz, seine
Einführung in den Briefwechsel zwischen Elazar
Benyoëtz und dem Sprachwissenschaftler Harald
Weinrich. Unterschiedliche Autoren beleuchten das
literarische Werk des „Weisen“, des „Midraschisten“, des „Briefeschreibers“ Benyoëtz und denken
nach über seinen künstlerischen Umgang mit der
deutschen Sprache, seine „poetische Interpretation
der Tora“, sein Verhältnis zu Karl Kraus und vieles
andere mehr.
Der Band, der mit einem Beitrag von Benyoëtz
selbst eröffnet und beschlossen wird, enthält darüber hinaus eine 16-seitige Fotofolge zu Lebensstationen und Weggefährten des Autors.
som
Auf drei weitere Veröffentlichungen von Elazar
Benyoëtz möchten wir aufmerksam machen:
Auch Kürze hat ihre Maßlosigkeit, erschienen im Universitäts-Verlag Brockmeyer: Elazar Benyoëtz's Lesung anlässlich der Jüdischen Kulturtage 2015
NRW in Hilden. Ein sehr spezielles Buch, behandelt es insbesondere die Stellung des Aphorismus
im Verbund der Literaturgattungen. Es enthält
noch ein Referat der Herren Spicker und Wilbert
zum Aphorismus, das ebenfalls im Rahmen der jüdischen Kulturtage gehalten wurde. 12,90 Euro
Das Prachtbuch Das Feuer ist nicht das ganze Licht und
dazu eine Doppel-CD, „Hell- und dunkelhörig“,
erschienen in der Edition Eupalinos/Schweiz, hat
nicht nur seinen Charme durch die großzügige, geschmackvolle Gestaltung – etwas Besonderes sind 9
Farbminiaturen von Metavel. Die CDs, in einem
Schweizer Tonstudio entstanden, enthalten zwei
Lesungen, unterbrochen von gekonnt dezent dar-
11
gebotener Flötenmusik eines sehr guten Flötisten.
In dem Buch taucht der Leser in vier von Elazar
Benyoëtz gehaltene Lesungen ein: in Berlin anlässlich der Ehrung durch die Ökumenische Stiftung
Bibel und Kultur (plus Laudatio von Professorin
Dr. Verena Lenzen), 2012; in Wien – 2009 Ehrenkreuzverleihung; Schaan 2014; Chur 2014. Das
Buch stellt Lebensabschnitte Elazars dar.
Der Preis komplett: 50 Euro, jedoch kann man
das Buch auch einzeln bestellen – Preis 30 Euro,
und die Doppel-CD in einem sehr schön und informativ gestalteten Papp-Einband 24 Euro
Ein ganz ‚feines‘ Büchlein, Am Anfang steht das Ziel
und legt die Wege frei, ist bei Hentrich&Hentrich erschienen – ebenfalls mit CD – ein Live-Mitschnitt
der Lesung, die in Bochum im März 2015 stattfand. Die Aufnahmequalität ist erstaunlich gut, der
Tontechniker hat gute Arbeit geleistet – was sehr
berührt, ist die sich entfaltende Intimität zwischen
Wort und Musik – die Ufermann-Formation spielt.
Verblüffend ist die Aktualität der Texte – es ist sicher kein politisches Buch, aber die traurige Großwetterlage in der Welt schwingt zwischen den Zeilen. Der Preis kpl. 19,90 Euro.
red
Im Brennpunkt Mittelfranken trafen sich die relativ
große jüdische Gemeinde und die NSDAP-Hochburg mit dem Gauleiter und antisemitischen „StürStefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen
und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919–1939, Göttingen, Wallstein 2014, 368 S., 16 Abb.
ISBN 978-3-8353-1239-5, 34,90 Euro
en als psychologische Basis des Viehhandels. Hierbei schließt sie an die wirtschaftspsychologischen
Studien des Wirtschaftshistorikers Christian Hillen
an. Dieses Vertrauen vermag sie anhand der Auswertung einschlägiger Handelsverträge überzeugend nachzuweisen. So zählten auch nationalsozialistisch organisierte Bauern und Funktionäre, z.B.
Bezirksbauernführer, entgegen ideologischer Prämissen zu den Kunden jüdischer Viehhändler. Viele
Einzelfälle, z.B. in Ansbach, Gunzenhausen, Ellingen oder Rothenburg ob der Tauber, verdeutlichen die Dimensionen sowohl des christlich-jüdischen Viehhandels als auch seiner behördlichen
Bekämpfung. Die bei dem Ersatz jüdischen durch
christlichen Viehhandel auftretenden Probleme untersucht Fischer in ihrem großen Kapitel über die
Zerstörung der Vertrauensbeziehungen, die dort
vorübergehend signifikante wirtschaftliche Lücken
rissen.
Fischers Studie liefert wesentliche Erkenntnisse
über den jüdischen Viehhandel in der NS-Zeit und
weist auf den Handel generell und über Mittelfranken hinaus, etwa auf das Rheinland. Horst Sassin
Zwischen „erlaubter Privatgesellschaft“ und „Körperschaft
des öffentlichen Rechts“
Eine juristische Dissertation, die nicht die historische Bedeutung, sondern die rechtlichen Zusammenhänge zwischen der allgemeinen Rechtsgebung
(besonders dem Status der christlichen Konfessionen) und dem Rechtsstatus der jüdischen GemeinRenate Penßel: Jüdische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Von 1800 bis 1919. Köln
[u.a.], Böhlau (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht; 33) 2014. 553 S. ISBN 978-3-
12
mer“-Herausgeber Julius Streicher an der Spitze.
In ihrem ersten Kapitel widerlegt die Autorin das
Vorurteil, Juden hätten den Viehhandel dominiert.
Auch mit beachtlichen 37,2 Prozent der mittelfränkischen Viehhändler waren sie 1925 klare Minderheit. Die geografische Verteilung deutet auf eine
stärkere jüdische Händlerschaft in Kleinstädten hin.
Selbst in Fürth, dem „fränkischen Jerusalem“, waren
nur 5 von 29 Viehhändlern jüdischer Herkunft.
Wie untauglich das Klischee vom gerissenen jüdischen Händler ist, der seine christliche Kundschaft nach Strich und Faden ausnimmt, verdeutlicht Fischer in ihrem großen Kapitel über Vertrau-
412-22231-4,. 74,90 Euro
den untersucht. Diese Kontextualisierung der einzelnen die jüdischen Gemeinschaften betreffenden
Gesetze erlaubt es ja tatsächlich, ihre Bedeutung und
Tendenz besser zu verstehen. Interessant sind auch
die Erläuterungen zum Perspektivenwechsel im Bezug auf die jüdischen Gemeinschaften: von dem Verständnis als Nation (Judenordnungen) hin zur Religionsgemeinschaft (Anwendung des Kirchenrechts).
Die Abhandlung konzentriert sich auf die Befugnisse der Gemeinden bezüglich ihrer Vermögensangelegenheiten, Disziplinargewalt, Rechtsset-
zung und Selbstorganisation in ihrem hoheitlichen
Charakter. Da die Autorin zu Beginn die Frage
nach dem Körperschaftsstatus der jüdischen Religionsgemeinschaften „in sämtlichen deutschen Teilrechtsordnungen“ stellt, enttäuscht es, dass sie z.B.
bezüglich Preußen die dort bis 1847 mehr als
zwanzig geltenden Provinzialrechtsordnungen zwar
erwähnt, aber als zu umfangreich nicht untersucht.
Trotzdem ist diese Arbeit eine gute Darstellung für
eine schnelle Orientierung in der Rechtslage der Juden in deutschen Territorien im 19. Jahrhundert.
mac
Eingegangene Bücher (Besprechung vorbehalten)
Berger, Shlomo: Margins and Centers in Yiddish
Culture and Literature. Amsterdam, Menasseh ben
Israel Inst. (Amsterdam Yiddish Symposium 9)
2014. 67 S. ISBN 978-3-90-822655-1-4, 7,00 Euro
ge, Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich, New York, Olms (Kamenzer Lessing-Studien 1) 2015. 472 S. ISBN 978-3-48714750-5, 58,00 Euro
Rosenfeld, Alvin H.: Das Ende des Holocaust. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015. Übersetzt
von Manford Hanowell. 273 S. ISBN 978-3-52554042-8, 39,99 Euro
Ruch, Martin: „Isac, Abram und Jacob“: Quellen
zur Geschichte der Offenburger Juden im 17. Jahrhundert. Norderstedt, Books on Demand 2015.
120 S. ISBN 978-3-7392-0336-2, 15,00 Euro
Miskotte, Kornelis H.; Braunschweiger, Heinrich:
Edda und Thora. Ein Vergleich germanischer und israelischer Religion. Münster, LIT 2015. 310 S. ISBN 978-3-643-12993-2, 39,90 Euro
Bauschinger, Sigrid: Die Cassirers. Unternehmer,
Kunsthändler, Philosophen. München, C.H. Beck
2015. 480 S., Abb. ISBN 978-3-406-67714-4,
29,95 Euro
Esberg, Joachim: „Nun wisst ihr, was soll es bedeuten“. Gedichte und Briefe vor Auschwitz. Braunschweig, Appelhans 2015. 160 S. ISBN 978-3944939-13-1, 14,80 Euro
Gryglewski, Elke; Haug, Verena; Kößler, Gottfried; Lutz, Thomas; Schikorra, Christa: Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der
Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin, Metropol
Verl. 2015. 363 S. ISBN 978-3-86331-243-5,
22,00 Euro
Schmidt, Peter Wilhelm A.: Nussbaum-Inspirationen – Felix Nussbaum als Maler, Seher und Opfer
nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Krumbac,. Frick Kreativbüro 2015. 204 S., Bilderbeilage.
ISBN 978-3-00-049858-9, 18,00 Euro (Bestellung
beim Verfasser)
Hirsch, Frank: Juden in Merzig zwischen Beharrung
und Fortschritt. Eine kleinstädtische Gemeinde im
19. Jahrhundert. Trier, Kliomedia (Geschichte und
Kultur. Saarbrücker Reihe 4) 2014. 341 S. ISBN
978-3-89890-188-8, 52,00 Euro
Niefanger, Dirk; Och, Gunnar; Siwczyk, Birka
(Hg.): Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialo-
Der Synagogenchor (oben) sowie die Karnevalsgesellschaft,
die auch jüdische (Vorstands-)
Mitglieder hatte, aus: F. Hirsch,
Juden in Merzig..., S. 169, 175
13
Mitteilungen
Impressum
Herausgeber
Salomon Ludwig Steinheim-Institut
für deutsch-jüdische Geschichte
an der Universität Duisburg-Essen
Mit Bedauern nimmt Kalonymos zur Kenntnis, dass
das Bundesministerium des Innern (Referat GI 4,
Kirchen und Religionsgemeinschaften), uns (und
wohl nicht allein uns) den Zuschuss für 2016 streichen wird. Eine bislang verlässliche Unterstützung,
die es uns ermöglicht, eines der vier jährlichen Kalonymos-Hefte, die wir weltweit unseren Lesern zustellen, zu finanzieren. Das ist ein harter Schlag für
uns, der uns die Veröffentlichung von Kalonymos
als Quartalsschrift nicht erlauben wird. Ein Schlag,
der nicht dadurch abgemildert wird, dass
diese Maßnahmen erfolgt, um „Großveranstaltungen der Evangelischen und Katholischen Kirche“
finanzieren zu helfen (Luther-Dekade /Hundert
Jahre Katholikentag).
Jüdische Jugendbewegung und jüdische Wohlfahrt war
ISSN
1436–1213
Redaktion
Prof. Dr. Michael Brocke
Dipl.-Soz.-Wiss. Harald Lordick
Dr. Beata Mache
Annette Sommer
das Thema einer Tagung des Arbeitskreises Geschichte der Jüdischen Wohlfahrt in Deutschland
und des Steinheim-Instituts (6./7. November
2015). Vierzig auch international angereiste diskussionsfreudige Teilnehmerinnen und Teilnehmer
widmeten sich an zwei Tagen dieser, wie sich
zeigte, vielfältigen Fragestellung.
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Harald Lordick · Beata Mache
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Zum Auftakt der Konferenz trafen sich die Teilnehmer in dem bemerkenswerten Gebäude der Alten Synagoge Essen / Haus jüdischer Kultur. Großen
Anklang fand die hier von Uri Kaufmann geleitete
Führung durch die Ausstellung, die nicht nur historisch orientiert ist, sondern auch einen besonderen
Akzent auf den Jewish Way of Life setzt.
Im Seminarraum des Steinheim-Instituts im
Rabbinerhaus startete dann, nach kurzer Begrüßung, das mit zwölf Vorträgen sehr dichte Tagungsprogramm. Den durchaus komplexen Zusammenhängen von jüdischer Jugendbewegung und jüdischer Wohlfahrt, Sozial- und Reformpädagogik
widmeten sich Beiträge von Franz Michael Konrad,
Knut Bergbauer, Manja Herrmann und Martin
Arndt. Ein Film von Jim Tobias, „Die Vergessenen
Kinder von Strüth“ (Ansbach), führte eindrucksvoll
das Schicksal gestrandeter Holocaust-Waisen vor
Augen, die sich durch halb Europa hatten durch-
schlagen müssen, und deren jahrelange Odyssee
sich auf dem international bekannt gewordenen
Schiff Exodus from Europe 1947 noch fortsetzte.
Die Beiträge des zweiten Tages brachten Analysen der Sprache und Bildsprache der Jugendbewegung und der zionistischen Jugend (Manfred Kappeler, Ulrike Pilarczyk). Regionale und lokale Perspektiven, zu Polen, Berlin und Rheinland/Westfalen (Anna Szyba, Beate Lehmann, Harald Lordick),
kamen ebenso in den Blick wie Zukunftserwartungen an die jüdische Jugend (Anna Michaelis).
Natürlich spielten in den Vorträgen und Diskussionen biografische Aspekte eine Rolle, Siegfried
Bernfeld, Moses Calvary, Siegfried Lehmann, Cora
Berliner oder Hugo Hahn etwa, und aus der bunten Vielfalt der Gruppen und Strömungen in der
jüdischen Jugendbewegung kamen die jüdischen
Pfadfinder (Katharina Schulz) und der Wanderbund „Blau-Weiß“ (Joachim Wolschke-Bulmahn)
noch einmal ausführlich zur Sprache.
Besonders erfreulich schließlich, dass es wie geplant gelungen war, insbesondere auch den wissenschaftlichen Nachwuchs einzubinden, mit anspruchsvollen Beiträgen und engagierter Mitwirkung. Die Konferenz (organisiert von Sabine Hering, Gerd Stecklina und Harald Lordick) fand in
Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung NRW
statt und wurde nicht zuletzt durch die Förderung
der Bank für Sozialwirtschaft (Essen) ermöglicht.
Ein Tagungsband ist in Vorbereitung, er wird in
der Reihe des Arbeitskreises beim Fachhochschulverlag Frankfurt/M. erscheinen.
hl
Einen Querschnitt durch unsere Aktivitäten im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften brachte
die Ausstellung Digital Humanities und deutsch-jüdische
Geschichte in der Universitätsbibliothek am Campus
Essen (9. November bis 15. Dezember 2015). Editionen wie die Datenbank hebräischer Inschriften
epidat oder die Neuausgabe der Universal-Kirchenzeitung im Zusammenhang deutsch-jüdischer Publizistik, Online-Datenbanken wie die Bibliografie
Deutsch-Jüdische Geschichte Nordrhein-Westfalen –
das Steinheim-Institut hat seit Jahren gerade auch
digital viel zu bieten.
Wie lassen sich Daten zusammenführen, wie
lassen sie sich vernetzen, in einen gemeinsamen,
ebenso dynamischen wie stabilen Zusammenhang
fassen? Was bringt das für die Forschung? Und wie
erreichen wir den nachhaltigen Bestand der schein-
bar eher flüchtigen digitalen Formen? Wer digital
forscht und publiziert, kommt um die Auseinandersetzung mit solchen Fragen nicht herum.
Wie eine Recherche nach dem Rabbiner Ludwig
Philippson von den Fortschritten des Semantic Web
profitiert, zeigt ein Poster zum Thema Normdaten
und Schnittstellen, und wie Annotation als Kulturtechnik nun auch digital zu ihrem Recht kommt, ein
anderes – am Beispiel von Online-Dokumenten zum
jüdischen Aufklärer Lazarus Bendavid.
Das Projekt Relationen im Raum erschließt Geschichte in ganz neuer Art und Weise, erlaubt es, jüdische Friedhöfe als Ensemble von Zeugnissen und
Quellen in ihrem räumlichen Zusammenhang zu
erforschen. Gerade diese für die Geisteswissenschaften noch sehr neue digitale Technik der Georeferenzierung bietet uns innovatives Potenzial, das
wir auch in weiteren Anwendungen wie der NRWBibliografie nutzen. Forschung ist das eine, Vermittlung mindestens ebenso wichtig: Die multimediale
Lehr- und Lernplattform Spurensuche – Jüdische
Friedhöfe in Deutschland macht Wissenschaft insbesondere auch für Schüler anschaulich und zugänglich, und mit der App Orte jüdischer Geschichte lassen sich dank Open Access Orte in ganz Europa erkunden.
Die Poster der Ausstellung vermitteln so die verschiedenen Aspekte und Blickwinkel, aus denen Digital Humanities im Steinheim-Institut längst eine
selbstverständliche Rolle spielen. Sie präsentieren
akzeptierte Beiträge auf wissenschaftlichen Konferenzen, sowohl institutseigene Initiativen als auch
BMBF- und DFG-geförderte Drittmittelprojekte
und nicht zuletzt Kooperationsprojekte wie DARIAH-DE, die sich einer auch von uns so dringend
nachgefragten digitalen Infrastruktur für die Geisteswissenschaften annehmen.
mac / hl
Dieses Jahr haben wir einen Schwerpunkt unserer
epigrafischen Arbeit auf unsere direkte Nachbarschaft
gelegt: Bereits in epidat erschienen ist die Dokumentation des Friedhofs in Essen-Steele, gefördert
von der Sparkasse Essen aus Mitteln der Lotterie
"PS-Sparen und Gewinnen". Anfang kommenden
Jahres werden die in Kooperation mit der Gedenkhalle Stadt Oberhausen und dem dortigen Stadtarchiv erarbeiteten Dokumentationen der Friedhöfe
in Oberhausen-Holten und -Lirich, die von der
Sparkassen-Bürgerstiftung Oberhausen gefördert
wurden, veröffentlicht. Dann ist auch die Veröf-
fentlichung der Dokumentation des großen Segeroth-Friedhofs in Essen zu erwarten, gefördert
aus Mitteln der Regionalen Kulturförderung des
Landschaftsverbands Rheinland, dessen Präsentation im Frühjahr durch eine Ausstellung in der Alten
Synagoge Essen begleitet wird.
Nachdem wir mit epidat im Rheinland inzwischen sehr gut vertreten sind, konnten wir dieses
Jahr auch in Westfalen wieder aktiv werden: Zum
9. November ging die Dokumentation des Friedhofs in Lage (Lippe) online. 2012 waren dort alte,
in einer Böschung vergrabene Grabsteine geborgen,
restauriert und auf dem alten Teil des jüdischen
Friedhofs am Ort wieder aufgestellt worden. Beeindruckt von diesen wunderschönen Grabsteinen aus
dem 18. Jahrhundert beauftragte die Stadt Lage
uns mit der Dokumentation des Friedhofs, unterstützt vom Förderverein für Freizeit, Kultur und
Sport in Lage e.V. Auf eine private Initiative
schließlich geht die von der Stadt Dortmund geförderte Dokumentation der beiden kleinen jüdischen
Friedhöfe in Dortmund-Aplerbeck zurück, die 2016
durch die Dokumentation des Friedhofs Dortmund-Dorstfeld ergänzt werden wird.
nh
Überrest der in der NS-Zeit verwüsteten Synagoge in Lage
(Lippe) auf dem dortigen
jüdischen Friedhof.
Online ist nun die Webseite der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft. Die Vereinigung von fünfzehn
außeruniversitären Instituten zielt auf Forschungskooperation, wissenschaftliche Nachwuchsförderung, Öffentlichkeitsarbeit und Evaluation. Als
Mitglied ist das Steinheim-Institut natürlich auf der
JRF-Seite präsent, und, wie wir finden, gelungen
und ansprechend in Szene gesetzt. Werfen Sie doch
mal einen Blick darauf, es lohnt: www.jrf.nrw. red
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Malte Rabbiner Dr. Julius Cohn „Heimatlos“?
Mehr zu Rabbiner Dr. Julius
Cohn im RHB, 2.1,
online unter:
http://www.steinheim-institut.de/bhr2.pdf
Julius Cohn wurde am 5. Dezember 1878 in Graudenz geboren. Er studierte an der Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums und an der Universität Berlin orientalische Philologie, Geschichte,
Philosophie und Medizin. Er war liberaler Rabbiner in Hoppstädten, Karlsruhe, Stuttgart; 1928 bis
1939 Bezirksrabbiner in Ulm. In der Nacht vom
10. Nov. 1938 wurde er misshandelt. Im ärztlichen
Befund ist die Schwere der Verletzungen beschrieben: „Schädelhälfte verbunden, nach Abnahme des
Verbandes ausserordentlich starke Haematome in
der ganzen lk. Gesichtshälfte einschl. Nase, Augenlider und lk. Ohr. Das lk. Auge ist vollkommen zu-
geschwollen und blutet, die Conjunctiva zeigt
grosses Haematom. Lippen stark geschwollen.
Grosses Haematom unterhalb am Hals ...“ (Zit.
nach: Rudi Kübler, Südwest Presse, 9.11.2013).
Im Mai 1939 emigrierte Julius Cohn mit seiner
Frau Dorothea nach England. 1940 starb er an den
Folgen der Misshandlungen.
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Als Student hatte Cohn auch künstlerische Neigungen. Bei dem Preisausschreiben der Redaktion
von Ost und West (1902) erhielt sein Gemälde Uwo
Lezion Goël („Es kommt der Erlöser nach Zion“)
von den erlesenen Preisrichtern, E.M. Lilien, Hermann Struck und Lesser Ury, „als relativ beste Arbeit“ den zweiten Preis (der erste Preis wurde nicht
vergeben). Im November-Heft wurde es unter dem
Titel Heimatlos abgebildet.
Aber war das Cohns Absicht?