Buchrezension

194 | Interdisziplinäre Fachzeitschrift | Jahrgang 14 | Heft 2 | 2011
Buchrezension
von Günther Deegener
Dirk Bange
Eltern von sexuell missbrauchten
Kindern. Reaktionen,
psychosoziale Folgen und
Möglichkeiten der Hilfe.
Hogrefe Verlag, Göttingen, 2011
191 Seiten
22,95 EUR/34,40 sFr.
Diese
Neuerscheinung muss als besonders wichtig angesehen
werden unter den aktuellen Veröffentlichungen
über sexuellen Missbrauch, da es das bisher in
Deutschland sehr stark vernachlässigte Thema
nicht missbrauchender Eltern bzw. Elternteile von
sexuell missbrauchten Kindern in den Mittelpunkt
stellt durch die Zielsetzungen, „Helfern zu ermöglichen, betroffene Eltern und ihre Reaktionen
besser zu verstehen und sie unterstützen zu können. Eltern soll es helfen, sich mit ihren eigenen
‚Verstrickungen‘ auseinanderzusetzen und ihre
Kinder bei der Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs effektiver begleiten zu können“ (S. 11).
Das folgende, bewusst ausführlich wiedergegebene Inhaltsverzeichnis soll einen Eindruck davon
vermitteln, wie umfassend Bange diese Thematik
behandelt und damit die erwähnte Lücke schließt
– es wird aber auch bei den LeserInnen wohl oft
den Eindruck „weißer Flecken auf der eigenen
Erkenntnis-Landkarte“ = eher unbekannter, unerforschter Wissensgebiete entstehen lassen:
2.
Vorwürfe an die Eltern:
Schuldzuweisungen an die Mütter
und Nichtbeachtung der Väter
2.1
2.6
Häufige Vorwürfe an die Mütter bei
innerfamilialem sexuellen Missbrauch
Die Sicht der Kinder auf ihre nicht
missbrauchenden Eltern
Traditionelles Mutterbild und Ideologie
der „heiligen Familie“
Mutterbilder bei Helferinnen und
Helfern
Welche Funktion hat die Abwertung
der nicht missbrauchenden Mütter?
Die Väter dürfen nicht ignoriert werden
3.
Der Aufdeckungsprozess
3.1
3.2
3.3
Was bedeutet Aufdeckung?
Formen der Aufdeckung
Wie und wann sprechen Kinder
über sexuellen Missbrauch?
Welche Faktoren beeinflussen die
Aufdeckung?
Wem vertrauen sich betroffene Kinder
und Erwachsene an?
Was nehmen die Eltern wahr?
Was passiert nach der Aufdeckung?
2.2
2.3
2.4
2.5
3.4
3.5
1.
Definitionen und Fakten
1.1
1.2
Was ist sexueller Missbrauch?
Wie häufig ist sexueller Missbrauch
an Kindern?
Die Umstände des sexuellen
Missbrauchs
Folgen bei betroffenen Kindern
1.3
1.4
3.6
3.7
4.
Was bedeutet der sexuelle
Missbrauch für nicht
missbrauchende Eltern?
4.1
Innerfamilialer sexueller Missbrauch
als existentielle Bedrohung
Stress und psychische Auffälligkeiten
4.2
Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention
bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
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4.3
Welche Faktoren nehmen Einfluss
auf das Belastungserleben?
5.
Eltern zwischen Glauben,
Unterstützen und Leugnen
5.1
5.2
Forschungsmethodische Probleme
Glauben und helfen Eltern ihren
Kindern?
Inkonsistentes und ambivalentes
Verhalten
Hintergründe für inkonsistentes und
ambivalentes Verhalten
Reaktionen der Eltern im Wandel
Was bestimmt die Reaktionen
der Eltern?
Umstände des sexuellen Missbrauchs
Eltern-Kind-Beziehung
Eltern und Täter
Familiäre und psychische Faktoren
Materielle Faktoren
5.3
5.4
5.5
5.6
5.6.1
5.6.2
5.6.3
5.6.4
5.6.5
6.
Wie verändert der sexuelle
Missbrauch die Eltern-KindBeziehung?
6.1
6.2
6.3
Verunsicherung über Erziehungsfragen
Vater-Kind-Beziehung
Positive Veränderungen der
Eltern-Kind-Beziehung
7.
Wie verändert der sexuelle
Missbrauch die Elternbeziehung?
7.1
7.2
7.3
7.4
Gegenseitige Schuldvorwürfe
Probleme mit der Sexualität
Der Partner als Täter
Dauerhafte Probleme
8.
Mütter als Opfer (sexuellen)
Kindesmissbrauchs
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
Ausmaß der selbst erlittenen Gewalt
Zyklus der Gewalt
Frühe Mutterschaft
Sexueller Missbrauch und Stillen
Sexueller Missbrauch und
Erziehungsverhalten
Risiko für körperliche Misshandlungen
und sexuellen Missbrauch
8.6
8.7
8.8
Bindung an die eigenen Eltern
Was bedeutet der sexuelle Missbrauch
ihres Kindes für selbst betroffene
Mütter?
8.9
Reaktionen auf den Missbrauch des
eigenen Kindes
8.10 Vorsicht vor einseitigen Zuschreibungen
9.
Täterstrategien
9.1
Aufbau einer Vertrauensbeziehung
zum Kind
Widerstände beim Kind überwinden
Manipulation der Eltern
Nach der Aufdeckung
9.2
9.3
9.4
10.
Missbrauch mit dem Missbrauch
– Mythos oder Realität?
10.1 Untersuchungsergebnisse aus den USA
10.2 Untersuchungsergebnisse aus
Deutschland
11.
Interventionsmöglichkeiten
11.1
11.2
11.3
11.4
11.5
11.7
11.8
11.9
Grundsätze für Beratung und Therapie
Wirkung von Beratung und Therapie
Selbsthilfe
Kinder mit sexuell auffälligem Verhalten
Der erste Schritt der Intervention –
Fakten analysieren
Wann sollten die nicht
missbrauchenden Eltern einbezogen
werden?
Weitere Schritte der Intervention
Themen der Beratung und Therapie
Beratungsangebote für Väter
12.
Prävention mit Eltern
11.6
12.1 Das Wissen von Eltern über sexuellen
Missbrauch
12.2 Grundsätze der Elternbildung
12.3 Inhalte und Ziele der Elternbildung
12.4 Strukturen professioneller Elternbildung
Das Buch ist trotz der Aufführung zahlreicher Forschungsbefunde äußerst verständlich geschrieben
und deswegen nicht nur für die Fachwelt, sondern auch für die weitere Zielgruppe der Eltern
geeignet, zumal durchgängig ein konkreter Bezug
zur Fachpraxis und elterlichen (Er-)Lebenswirklichkeit hergestellt wird sowie durch weitere
Abschnittsüberschriften klare inhaltliche Schwerpunkte gesetzt werden (z. B. im Kapitel 3.4.
‚Welche Faktoren beeinflussen die Aufdeckung?‘
mit folgender Untergliederung: Innerfamilialer
versus außerfamilialer sexueller Missbrauch;
Geschlecht des Kindes; Kinder mit Behinderungen;
Gemeinsam stark für den Kinderschutz!
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Kinder mit Migrationshintergrund; Schwere des
sexuellen Missbrauchs; Angst der Kinder vor Konsequenzen; Verantwortungsübernahme durch
die Kinder, Scham und Schuldgefühle; Alter der
Kinder; Erwartete Reaktionen der Eltern; Verschiedene Formen der Gewalt gegen Kinder; Befragungen durch Professionelle; Widerrufe).
Pflichtlektüre
für Jugendämter
Persönlicher formuliert: Es sollte deutlich erkennbar geworden sein, dass ich das Buch sehr empfehle und es mit großem Gewinn gelesen habe.
Gestolpert bin ich allerdings in der Einleitung über
folgende Feststellungen: „Die Eltern sind verantwortlich für den Schutz ihrer Kinder. Dieser Aufgabe sind sie nicht gerecht geworden, wenn ihr
Kind sexuell missbraucht worden ist. An dieser
Erkenntnis geht kein Weg vorbei“ (S. 10). Eine
solche apodiktisch formulierte, vorwerfende Aussage bereits in der Einleitung birgt die große Gefahr, insbesondere bei der Zielgruppe der Eltern
unnötig und übermäßig Schuldgefühle zu bewirken, auch in der abgemilderten Form (S. 26):
„Den Müttern die Hauptverantwortung für den
sexuellen Missbrauch ihres Kindes zuzuschreiben
und sie zum Eckpfeiler des pathologischen Familiensystems hochzustilisieren, ist jedoch vielfach
schlicht falsch. Mit dieser Feststellung sollen die
nicht missbrauchenden Mütter (und Väter) jedoch
keinen Freibrief ausgestellt bekommen. Es kann
aus Sicht der betroffenen Mädchen und Jungen
nicht darum gehen, die nicht-missbrauchenden
Mütter und Väter von jeder Verantwortung für
das Wohl und Wehe ihrer Kinder zu entlasten. Die
nicht missbrauchenden Eltern sind ihrer Aufgabe,
ihr Kind zu schützen, nicht gerecht geworden“
(S. 26). M. E. wiedersprechen solche Aussagen
aber auch den sonstigen, durchgängig sehr differenzierten und entlastenden Ausführungen,
Intentionen und Einstellungen von Bange in diesem Buch gegenüber den nicht-missbrauchenden
Eltern.
Zusammenfassend schließe ich mich dem Fazit
von Paetzold in seiner Rezension zu diesem Buch
an (www.socialnet.de/rezensionen/11073.php):
Es „sollte in keiner Eltern-, Jugend- und Familienberatungsstelle fehlen und müsste in allen
Jugendämtern als Pflichtlektüre vorhanden
sein.“
Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention
bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
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