Neueste Entwicklungen in der EU-Fusionskontrolle 4. Kartellrecht Summit 2015 in Berlin 23. November 2015 Dr. Jan Heithecker Übersicht Aktuelle Trends in der Kommissionspraxis Mobilfunk-Konsolidierung Geographische Marktabgrenzung Zusagenfälle Verweisungsanträge „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“ Fallstudie Facebook/WhatsApp Entscheidung: Aufgreifschwellen, Marktabgrenzung, Beurteilung Prüfungsmängel laut Monopolkommission Schlussfolgerungen der Kommission US Federal Trade Commission Nationale Wettbewerbsbehörden Empfehlungen der Monopolkommission WilmerHale 1 Mobilfunk-Konsolidierung (I) Artikel 2 Absatz 2 und 3 der EU-Fusionskontroll-VO 139/2004: SIEC-Test („erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“) Beurteilungskriterien für horizontale Zusammenschlüsse ohne Ausgleichsfaktoren • • • • Marktanteile Näheverhältnis der Wettbewerber Ausweichmöglichkeiten der Kunden Kapazitätserhöhungs- und Wachstumsmöglichkeiten der Wettbewerber • Beseitigung einer wichtigen Wettbewerbskraft • Falls koordinierte Wirkungen • • • • Ausgleichsfaktoren • • • • Nachfragemacht Marktzutritt Effizienzvorteile Sanierungsfusion (Counterfactual) Erzielen von Übereinstimmung Überwachung von Abweichungen Abschreckungsmechanismen Reaktionen von Außenstehenden WilmerHale 2 Mobilfunk-Konsolidierung (II) Kommission: „keine magische Zahl“ 5-to-4: AU 2006, UK 2010 4-to-3: ohne Auflagen GR 2006 und NL 2007; mit Auflagen in Phase II AU 2012, IR und D 2014; aktuell: DK gescheitert und UK in Phase II Detaillierte Analyse für „Gap Cases“ Fokus auf Näheverhältnis, früheres Marktverhalten des Zielunternehmens und künftige Wettbewerbsanreize für neue Einheit und Wettbewerber Erweiterte Upward pricing pressure (UPP)/Indicative price rise (IPR)Analyse u.a. anhand von detaillierten Daten zur Rufnummernmitnahme Zusagearten Veräußerung von Spektrum und Network Assets für MNO-Marktzutritt Veräußerung von Netzwerkkapazität oder Referenzangebot an MVNOs Verlängerung bestehender Network Sharing-Verträge mit MNOs Vertragsverlängerung oder Zugang zu (z.B.) 4G für MVNOs WilmerHale 3 Geographische Marktabgrenzung (I) Zweck der Marktabgrenzung Ermittlung, „welche konkurrierenden Unternehmen tatsächlich in der Lage sind, dem Verhalten der beteiligten Unternehmen Schranken zu setzen und sie daran zu hindern, sich einem wirksamen Wettbewerbsdruck zu entziehen.“ Sachliche Marktabgrenzung Austauschbarkeit in funktionaler und wirtschaftlicher Hinsicht aus Sicht des verständigen Verbrauchers (Bedarfsmarktprinzip) Produktionsumstellungsflexibilität SSNIP-Test (hypothetische bleibende Preiserhöhung um 5-10%) Geographische Marktabgrenzung Das Territorium, das aus Sicht der Nachfrage als Bezugsquelle austauschbar ist, weil darin die Wettbewerbsbedingungen (Anbieter, Art und Eigenschaften der Produkte, Preise, Kundenpräferenzen, Sprachen) hinreichend homogen sind und sich von benachbarten Gebieten spürbar unterscheiden. WilmerHale 4 Geographische Marktabgrenzung (II) Empirische Einzelfallentscheidung „Märkte definieren sich selbst“ Dynamische Betrachtung für Prognose Keine Policy für „Europäische Champions“ Trend zu größeren Märkten Wegen Verwirklichung des Binnenmarktes, technologischem Fortschritt, Globalisierung Bsp. EWR-weit statt national: Musikgroßhandel, Bahnstromversorgung, Getränkeautomaten Bsp. regional statt national: Lachsfutter, Zeitungswerbung, Glasverpackungen Aber auch weiterhin nationale Märkte Wegen nationaler Marken, Vorlieben, Vertriebssysteme, nicht harmonisierter Regulierung Bsp. FMCG, frische Milchprodukte WilmerHale 5 Zusagenfälle Zunehmende Tendenz: Weiterhin Präferenz für Veräußerungszusagen Jahr Anmeldungen 2010 Freigabe mit Zusagen Phase I Phase II 274 14 2 2011 309 5 1 2012 283 9 6 2013 277 11 2 2014 303 12 5 2015 (Okt.) 277 10 7 Umfangreiche Pakete auch in Phase I möglich, Bsp. Holcim/Lafarge: Up-front buyer Zusagen bereits in der Pränotifizierungsphase Aber auch andere Arten möglich, z.B. Chiquita/Fyffes: u.a. Streichung von und zehnjähriger Verzicht auf Exklusivvereinbarungen mit Reedern SSAB/Rautaruukki: Veräußerung von Vertriebsstrukturen, um Wettbewerbern den Zugang (auch) zur vorgelagerten Marktebene zu erleichtern WilmerHale 6 Verweisungsanträge Offenbar geänderte Praxis zur Ablehnung von Verweisungsanträgen nationaler Behörden Gemäß Artikel 9 FKVO kann nationale Behörde Verweisung eines bei der Kommission angemeldeten Zusammenschlusses an die nationale Behörde beantragen. Ablehnungen solcher Anträge durch die Kommission erfolgten bisher meist stillschweigend gemäß Artikel 9 Absatz 5 FKVO durch Mitteilung der Beschwerdepunkte innerhalb von 65 Arbeitstagen nach Anmeldung – bis Ende 2013 gab es nur sechs Ablehnungsbeschlüsse gemäß Artikel 9 Absatz 3 FKVO. Seit Anfang 2014 gab es bereits fünf solche Ablehnungsbeschlüsse: Liberty Global/Ziggo, Holcim/Cemex West, Telefónica Deutschland/E-Plus, Orange/Jazztel und Altice/PT Portugal. WilmerHale 7 „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“ Chronik der Reformdiskussion 20.6.2013 bis 12.9.2013: Erste Konsultation Anfang 2014: Inkrafttreten einiger Verfahrensvereinfachungen 9.7.2014 bis 17.10.2014: Weißbuch für zweite Konsultation Ende 2014: Vestager bezweifelt Verhältnismäßigkeit 09/2015: Vestager ordnet „zweiten Blick“ auf Reform an Weißbuchvorschlag zu Minderheitsbeteiligungen Informationspflicht mit 15 Arbeitstagen Vollzugsverbot, wenn – Parteien in Horizontal- oder Vertikalverhältnis stehen und – entweder Beteiligung über ca. 15% (Vorbild UK)/20% liegt – oder Beteiligung über 5% liegt und z.B. eine Sperrminorität, einen Gremiensitz oder Zugang zu sensiblen Informationen gewährt Konsultation: Schutzlücke? – Jedenfalls klar unverhältnismäßig WilmerHale 8 Übersicht Aktuelle Trends in der Kommissionspraxis Mobilfunk-Konsolidierung Geographische Marktabgrenzung Zusagenfälle Verweisungsanträge „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“ Fallstudie Facebook/WhatsApp Entscheidung: Aufgreifschwellen, Marktabgrenzung, Beurteilung Prüfungsmängel laut Monopolkommission Schlussfolgerungen der Kommission US Federal Trade Commission Nationale Wettbewerbsbehörden Empfehlungen der Monopolkommission WilmerHale 9 Aufgreifschwellen Umsatz: USD 7,8 Mrd. Umsatz: EUR 10 Mio. 1,3 Mrd. Nutzer, davon 200-300 Mio. im EWR 600 Mio. Nutzer, davon 50-150 Mio. im EWR 250-350 Mio. Messenger-Nutzer, davon 100-200 Mio. im EWR Kaufpreis: USD 19 Mrd. WilmerHale 10 Marktabgrenzung Facebook Messenger und WhatsApp Mindestens EWR-weiter Markt für Kommunikationsdienste für Verbraucher, ohne Differenzierung nach Geräten, Betriebssystemen oder Funktionsumfang (Text, Bild, Video) Abgrenzung von Kommunikationsdiensten für Unternehmen Abgrenzung von SMS, MMS, Telefonie, E-Mail wegen allenfalls unidirektionaler Austauschbarkeit und Unentgeltlichkeit Facebook Mind. EWR-weiter Markt für soziale Netzwerkdienste: nicht nur Kommunikation, sondern mindestens auch Kernfunktionen Profil und Freundeskreis; genaue Abgrenzung offen gelassen Nationale Märkte für Online-Werbung: Abgrenzung von offline, aber offen gelassen: mobil vs. statisch, suchbezogen vs. andere, in sozialen Netzwerken vs. andere nicht-suchbezogene WilmerHale 11 Beurteilung: Kommunikationsdienste (I) Marktanteile hoch, aber kaum relevant Marktanteilsberechnung aufgrund Unentgeltlichkeit schwierig WhatsApp und Facebook Messenger haben mindestens 20-30% bzw. 10-20% Marktanteil und sind klare Marktführer Markt ist jung, innovativ und offen, wächst (weiter) schnell Viele, auch regelmäßig neue, Wettbewerber Android Messaging, Apple iMessage, Microsoft Skype, Google Hangouts, Samsung ChatON, Blackberry Messenger LINE, Viber, Threema, Telegram, Snapchat, WeChat, Joyn Parteien sind keine engen Wettbewerber Unterschiede bei Benutzer-ID und Kontaktdatenverwaltung WhatsApp ohne Datenanalyse und Netzwerk-Integration WilmerHale 12 Beurteilung: Kommunikationsdienste (II) Minimale Wechselkosten Apps sind unentgeltlich oder günstig und leicht zu finden, zu installieren und zu nutzen, auch parallel (u.a. Push-Funktion) Multi-Homing: 80-90% der Nutzer benutzen jeden Monat und 50-60% jeden Tag mehr als einen Kommunikationsdienst Kein „status quo bias“: WhatsApp und Facebook Messenger sind kaum vorinstalliert und kontrollieren keine Betriebssysteme Datenverlust betrifft nur die meist kurzlebigen Nachrichten, nicht die Kontakte, und findet nur bei Deinstallation einer App statt Niedrige allgemeine Marktzutrittsschranken „Disruptive innovation“ und 203% Marktwachstum im Jahr 2013 Telegram, Whatsapp, LINE, WeChat und Kik als Newcomer Kontaktdaten verfügbar, keine Patente, keine technischen Hindernisse, keine Vertriebshindernisse WilmerHale 13 Beurteilung: Kommunikationsdienste (III) Keine unüberwindlichen Netzwerkeffekte Zweifellos gibt es bei Kommunikationsdiensten (sog. direkte) Netzwerkeffekte, weil ein Dienst umso nützlicher ist, je mehr Menschen durch ihn erreicht werden können (wie beim Telefon) Diese Netzwerkeffekte sind aber überwindbar aufgrund der bereits erwähnten Faktoren: Dynamik und Offenheit des Marktes, Multi-Homing und minimale Wechselkosten Transaktion verstärkt Netzwerkeffekte nicht Keine Integration der Netzwerke von Facebook und Whatsapp – Technisch schwierig wegen unterschiedlicher Identifikatoren (Facebook-ID vs. Telefonnummer) und Plattformarchitekturen – Risiko, dass Nutzer zu anderen Diensten wechseln Ohnehin überschneiden sich beide Netzwerke zu ca. 80% WilmerHale 14 Beurteilung: Soziale Netzwerkdienste Laut internen Unterlagen war WhatsApp vor dem Zusammenschluss kein potenzieller Wettbewerber zu Facebook Falls WhatsApp aktueller Wettbewerber wäre: Facebook ist zwar führend, hat aber zahlreiche nahe Wettbewerber, z.B. Google+, LinkedIn, Twitter, MySpace Parteien sind jedenfalls keine nahen Wettbewerber: – Facebook bietet Homepages, Newsfeeds und Timelines – WhatsApp bietet nur (Echtzeit-)Kommunikation Wenn WhatsApp Wettbewerber wäre, dann wären dies auch die anderen o.g. Kommunikationsdienste Keine Integration von Facebook und WhatsApp zu erwarten WilmerHale 15 Beurteilung: Online-Werbung WhatsApp-Datenbestand untauglich Bisher speichert WhatsApp nur Mobiltelefonnummern, was für gezielte Online-Werbung nicht ausreicht Erweiterte Datensammlung erfordert Änderung der Nutzungsbedingungen und ist kommerziell kaum durchsetzbar Jedenfalls geringe Auswirkungen Facebooks Marktstellung ist begrenzt (20-30% Marktanteil in Deutschland und vielen EU-Mitgliedstaaten, in manchen höher) Wenn WhatsApp künftig selbst Online-Werbung anböte, blieben dennoch genügend weitere Wettbewerber Wenn WhatsApp künftig Daten an Facebook liefern würde: – Integration zwischen WhatsApp und Facebook schwierig (s.o.) – Facebooks Anteil an den im Internet gesammelten Daten liegt bei nur 6,4% (Google: 33%) WilmerHale 16 Übersicht Aktuelle Trends in der Kommissionspraxis Mobilfunk-Konsolidierung Geographische Marktabgrenzung Zusagenfälle Verweisungsanträge „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“ Fallstudie Facebook/WhatsApp Entscheidung: Aufgreifschwellen, Marktabgrenzung, Beurteilung Prüfungsmängel laut Monopolkommission Schlussfolgerungen der Kommission US Federal Trade Commission Nationale Wettbewerbsbehörden Empfehlungen der Monopolkommission WilmerHale 17 Prüfungsmängel laut Monopolkommission Plattforminterdependenzen Zwar wurden soziale Netzwerkdienste (trotz Unentgeltlichkeit) und Online-Werbung abgegrenzt und separat geprüft Aber es wurde nicht geprüft, ob Anbieter ohne Plattform überhaupt Wettbewerber in demselben jeweiligen Markt sind Plattforminhärente Konzentrationstendenzen Geprüft wurden direkte Netzwerkeffekte, d.h. mengenbedingte Attraktivitätssteigerungen auf derselben Plattformseite Wohl nicht geprüft wurden indirekte Netzwerkeffekte, d.h. Attraktivitätssteigerungen anderer Seiten derselben Plattform Kombination von Datenbeständen Geprüft wurde der Anteil an den im Internet gesammelten Daten Nicht geprüft wurde, ob Facebook durch überlegene Nutzerkenntnis sich vom Wettbewerb abschotten bzw. neue Märkte präventiv besetzen und von Wettbewerbern abschotten kann WilmerHale 18 Schlussfolgerungen der Kommission Vestager: Aufgreifschwellen überdenken Esteva Mosso: Statische Preisanalyse ersetzen durch dynamische Analyse künftiger Innovation … … durch die Zusammenschlussparteien … durch aktuelle und potenzielle Wettbewerber hier auch kritische Einzelfallprüfung von Netzwerkeffekten … zur Steigerung der Markteffizienz (Bsp. TomTom/TeleAtlas) Case Team: Daten sind doppelt relevant: Schlüssel-Input auf der entgeltlichen Seite der Plattform – mit „Datenmacht“ kann man Wettbewerber ausschließen Gegenleistung auf der „unentgeltlichen“ Seite der Plattform – bei Wertschätzung durch Kunden kann Datenschutzniveau ein Wettbewerbsfaktor sein (bisher durch Kommission nicht geprüft) WilmerHale 19 US Federal Trade Commission Bedingungslose fusionskontrollrechtliche Freigabe Offener Brief der Abteilung für Verbraucherschutz fordert Einhaltung der WhatsApp Datenschutz-Policy: Aus Adressbüchern nur Mobiltelefonnummern übernehmen Kein Speichern von Positionsdaten oder gesendeten Nachrichten Keine Werbung, kein Verkauf von Daten an Dritte Erforderlich für eventuelle künftige Änderung der Policy: – Ausdrückliche Zustimmung der Verbraucher – Möglichkeit des Opt-out oder zumindest Sonderkündigungsrecht Ramirez: Big Data erfordert keine neuen Fusionskontrollregeln, wird in bestehender Innovationsanalyse erfasst; Datenschutz ist lediglich ein Wettbewerbsfaktor WilmerHale 20 Nationale EU-Wettbewerbsbehörden UK: CMA hat bereits Studie zur „Gewerblichen Nutzung von Verbraucherdaten“ durchgeführt und schätzt die Wettbewerbsintensität hoch und die Marktzutrittsschranken niedrig ein, so dass sie Big Data nicht als Wettbewerbsproblem ansieht. Parlamentarische Untersuchung zu Online-Plattformen läuft gerade an. Frankreich: Datenmacht in Aufgreifschwellen aufnehmen und erforschen, insbesondere Datenportabilität erwägen; eventuell bald Sektoruntersuchung Deutschland: „Think Tank“ in der 6. Beschlussabteilung zu OnlinePlattformen soll dynamischen Wettbewerb, Netzwerkeffekte und Datenmacht (nicht nur in fusionskontrollrechtlicher Hinsicht) erforschen, Interoperabilität und Datenportabilität erwägen WilmerHale 21 Empfehlungen der Monopolkommission Aufgreifschwellen um Transaktionsvolumina ergänzen Plattforminterdependenzen berücksichtigen Plattforminhärente Konzentrationstendenzen prüfen Verstärkungseffekt: Änderungen von Qualitäten oder Preisen auf einer Plattformseite können Nutzung anderer Plattformseiten ändern, was auf erste Plattformseite zurückwirken kann Wettbewerb auf einer Plattformseite kann Marktmacht auf (allen) anderen Plattformseiten beschränken Indirekte Netzwerkeffekte können die Substituierbarkeit des Angebots für Nutzer beschränken und so die Markteintrittshürden für konkurrierende Plattformen erheblich erhöhen (zumal erfolgreiche Plattformen bereits kritische Masse haben) Kombination von Datenbeständen: Fortlaufende genaue Beobachtung möglicher Auswirkungen WilmerHale 22
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