Ökologie und Humanität im Zeitalter des Anthropozän

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Ökologie und Humanität im Zeitalter des Anthropozän
Nach Auffassung des Nobelpreisträgers Paul Crutzen (2000) hat das Wirken der Menschen
den Planeten Erde so sehr verändert, dass damit ein eigenes erdgeschichtliches Zeitalter
entstanden ist. Crutzen nannte es Anthropozän (von anthropos = Mensch und cene = neu), das
damit das Zeitalter Holozän (Nacheiszeit) ablöst. In Wissenschaft und Gesellschaft wird
seitdem lebhaft diskutiert, ob das Anthropozän gerechtfertigt und offiziell zu deklarieren sei.
Zum Thema Anthropozän gibt es inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen. Das Deutsche
Museum in München widmete ihm eine Sonderausstellung, und es ist auch Motto der von der
Evangelischen Akademie Tutzing vom 18. bis 20. September 2015 veranstalteten Tagung. Bei
einer rein sachlichen, auf Daten und Beobachtungen gestützten Argumentation überwiegt die
Befürwortung des Anthropozän, doch gefühlsmäßig erzeugt es eher Abneigung, vermischt mit
Schuldgefühlen – weil viele menschliche Veränderungen nachteilig oder schädlich sind und,
wie zum Beispiel der Klimawandel, hätten vermieden werden müssen.
Die Befürworter streiten darüber, mit welchem Ereignis der Menschheitsgeschichte das
Anthropozän angefangen hat. Die Ansichten darüber reichen vom Beginn der Landwirtschaft
vor rund 10.000 Jahren über die auf fossile Energien gegründete industrielle Revolution um
1800 bis zur auf 1945 datierten Einführung der Atomenergie, deren radioaktive Abfälle ja für
lange Zeit geologisch nachweisbar sind.
Für das Anthropozän sind auch ökologische Fragestellungen bedeutsam, welche die Tutzinger
Tagung bevorzugt behandelt. Als Wissenschaft untersucht die Ökologie die Evolution und
Organisation des gesamten Lebens in der Natur und bezieht darin auch die Menschen ein,
wobei sie deren Doppelrolle berücksichtigt. Menschen sind Glieder der Natur und ihrer
Ökosysteme, können sich aber dank ihres Intellekts auch aus solchen Bindungen lösen oder
sie verändern. Mit dieser Fähigkeit haben wir Menschen die Natur, einschließlich aller
anderen Lebewesen, zu unserer Umwelt gemacht, die vorrangig nach unseren Interessen und
Ansprüchen gestaltet worden ist.
Dies begann mit der bewussten Nutzung der Naturerscheinung Feuer als eigener, hoch
wirksamer Energiequelle, die Sonne, Wind und Wasser ergänzt, oft ersetzt und weit übertrifft.
Entscheidend war der Übergang zur Landwirtschaft, vor allem zum Ackerbau, mit dem sich
weit mehr Nahrung erzeugen lässt als man durch Sammeln und Jagen in der Natur gewinnen
kann. Das Mehr an Nahrung erlaubte eine erste Zunahme der menschlichen Bevölkerung und
bewirkte zugleich ihre Aufteilung in Erzeuger (Landwirte) und Verbraucher (Nichtlandwirte).
Die Letztgenannten schufen die Stadtkultur und machten sie zum Zentrum der weiteren
kulturellen Entwicklung. In ihr erfolgte die Transformation in die Moderne mit zum Teil
revolutionären technisch-zivilisatorischen Fortschritten als Merkmalen des Anthropozän.
Jeder von ihnen hat aber sowohl Vorteile wie Nachteile, wobei Nachteile oft nicht beachtet
oder erst mit Zeitverzug erkennbar werden und den jeweiligen Fortschritt in Frage stellen
können.
Aus ökologischer Sicht ist hervorzuheben, dass sowohl das Ackerland (und aller sonstige
Pflanzenbau) als auch die Städte mit dazugehöriger Infrastruktur rein menschlich-technisch
geschaffene Bereiche sind, die auf radikaler Beseitigung der Natur mit ihrer Pflanzen- und
Tierwelt beruhen. Ackerland ist damit zur Haupt-Nahrungsgrundlage der Menschen und die
Stadt zu deren Haupt-Lebensort geworden. Wir leben also von und in einer "künstlichen"
Umwelt. Vor allem das Ackerland musste zur Versorgung der ständig zunehmenden
Stadtbevölkerung flächenmäßig immer weiter ausgedehnt werden, was nur auf Kosten der
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Naturbereiche möglich war, und bestimmt heute mit den Großstädten weithin das
Erscheinungsbild sowie das ökologische Geschehen auf den Kontinenten. Dieses wird
seinerseits durch die oft schädlichen Neben- und Nachwirkungen der menschlichen
Landnutzung verfremdet oder unterbrochen. Allein diese Umgestaltungen der Natur
befürworten das Konzept des Anthropozän.
Die "offizielle" Einführung des Anthropozän hätte eine tief greifende Bedeutung für Natur
und Menschheit. Denn die Abfolge der Erdzeitalter gehört zur natürlichen Evolution, deren
Grundmerkmal die Unumkehrbarbeit ist. Doch in der heutigen Menschheit gibt es, gerade in
unserem Kulturkreis, eine wachsende Sehnsucht nach ursprünglicher, unberührter Natur, oft
auch mit religiösen oder ethischen Motiven wie Bewahrung der Schöpfung verknüpft.
Anthropozän bedeutet aber, dass auch ein Naturschutzgebiet keine Natur, sondern ein
menschliches Konstrukt ist. Hier zeigt sich ein Zwiespalt im menschlichen Denken, der zu
noch viel grundsätzlicheren Überlegungen zum Sinn des Anthropozän führt. Sie gehen aus
von einem Vergleich der Organisation des nicht-menschlichen Lebens – wie sie sich vor dem
Erscheinen des Menschen in über drei Milliarden Jahren entwickelt hat – mit der danach, seit
drei Millionen Jahren entstandenen zunehmend vom Menschen bestimmten Organisation,
oder, kurz gesagt, vom Vergleich von Natur und Kultur.
Die Organisation des vormenschlichen Lebens, dargestellt im Modell des Ökosystems,
entwickelte sich ohne ein steuerndes Zentrum und beruht auf selbst gebildeten, regulierenden
Prozessen, die das Funktionieren der Organisation und zugleich ihre ständigen evolutionären
Fortschritte gewährleisteten. Dabei gibt es keine Rücksichtnahmen auf Leben und
Lebensweisen der Organismen, die dafür auch kein Bewusstsein haben. Über 95 % der in der
Evolution entstandenen, aus Fossilien bekannten Arten sind im Lauf der Zeit, fünf mal auch
durch gewaltige Einwirkungen unbelebter Naturkräfte wieder ausgestorben, was aber das
Leben als Ganzheit nicht in Frage stellte und der Evolution sogar neue Wege öffnete. Als
diese aber den Menschen als ein Säugetier mit der zusätzlichen Ausstattung von Intellekt,
Vorausschau und Gefühlsbewusstsein hervorbrachte, wurden in diese Organisationsform neue
Prinzipien eingebracht, ja eine zweite, als kulturell bezeichnete Evolution begründet.
Als denkendes Wesen konnte und wollte sich der Mensch nicht in ein selbst-reguliertes
System ohne Steuerungszentrum einordnen, das seine Entfaltungschancen beschnitten hätte.
Stattdessen lernte er, selbst die Steuerung des Systems zu übernehmen, ohne aber sein eigenes
Wesen richtig zu verstehen. Das gelang ihm erst in den letzten 500 Jahren mit Hilfe der
Wissenschaft, die auch die Ko-Evolution von Mensch und Natur erhellt hat. Sie zeigt, wie der
Mensch aus seiner intellektuellen und spirituellen Weltsicht die erwähnten neuen Prinzipien
der Lebensorganisation, nämlich Verantwortung, Rücksicht, Rechte und Werte entwickelte
und mit Gewissen, Moral, Ethik oder Religion unterbaute. Daraus schuf er sich das
Grundprinzip Humanität. Dass er aber in seiner physischen Natur und ihren Ansprüchen ein
Säugetier blieb, dessen Triebe oft auch den Intellekt entweder verdrängen oder benutzen und
schwere interne Konflikte verursachten, wurde hingenommen oder missachtet. Es hinderte die
Menschen auch nicht an der Begründung eines humanitären Hauptziels, nämlich jedes
einzelne menschliche Leben mit allen Mitteln zu erhalten und ihm einen möglichst langen,
guten Verlauf zu ermöglichen. Verwirklicht wurde es aber fast immer nur innerhalb des
jeweiligen Sozialverbandes (Stamm, Volk oder Nation), und erforderte, die Menschen von
den natürlichen Ökosystem-Regulierungen, denen alle anderen Lebewesen unterliegen
(Erbeutung, Hunger, Seuchen), soweit möglich zu bewahren. Ergebnis ist eine unnatürliche
Sonderstellung der Menschen, die in besonderem Maße das immer noch zunehmende, weil
nicht oder unzureichend regulierte Bevölkerungswachstum fördert. Weil dieses aber die Natur
immer stärker beansprucht und schädigt, soll eben diese Natur mit allen ihren Bestandteilen,
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vor allem den Tier- und Pflanzenarten, in die ethisch-humanitären Grundregeln menschlich
konzipierter Lebensorganisation einbezogen und geschützt werden. Nutzung und Schutz
lassen sich aber, was ebenfalls humanitär begründet werden kann, nicht gleichrangig und
überall verwirklichen, sondern erfordern Auswahl und Prioritäten. Hier liegt eine vorrangige
Forderung an das Anthropozän.
Schließlich darf nicht verkannt werden, dass diese Darstellung der Humanität den Menschen
in seinen Eigenschaften sowohl verallgemeinert als auch idealisiert. Doch die Menschheit ist
keine Einheit, sondern besteht aus mehreren Kulturkreisen mit ganz unterschiedlichen
Einstellungen zueinander wie zur Natur. Von ihnen hat der so genannte westliche Kulturkreis,
der aus einigen Staaten Europas hervorging, seit dem 14. Jahrhundert fast alle anderen
Kulturkreise kolonial unterworfen und ausgebeutet, ja ganze Kontinente wie Amerika und
Australien für sich erobert. Damit hat er die größten Fortschritte und eine globale
Vorherrschaft erzielt, wobei Humanität wohl stets zurücktrat. Dennoch sind gerade in diesem
Kulturkreis – dank oder trotz seiner technisch-materiellen Fortschritte? – die maßgebenden
humanitären Ideen der Aufklärung, Menschenrechte, der nachhaltige Entwicklung und
planetarischen Grenzen entstanden. Sie harren aber noch der Umsetzung in die Lebenspraxis.
Wird das Vorbild, das die westliche Kultur mit ihren Errungenschaften, ganz gleich wie sie
erreicht wurden, den übrigen Kulturkreisen gesetzt hat, auch diese Ideen einschließen? Wenn
das gelingt, erhält das Anthropozän seine volle Berechtigung.
(Prof. em. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Haber, Landschaftsökologe der TU München, FreisingWeihenstephan)