Am 15. September 1935 wurde in Nürnberg das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassen. Es stellte Geschlechtsverkehr
und Eheschließungen zwischen „Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“
unter Strafe. Deutsche Anthropologen, die sich fast
ganz der damals äußerst populären „Rassenkunde“
verschrieben hatten, begrüßten das Gesetz. Eugen
FISCHER (1874–1967), Direktor des Kaiser-WilhelmInstituts für „Anthropologie, menschliche Erblehre
und Eugenik“, schloss eine Rede an der Berliner
Universität mit dem „Dank an den Führer, der es
durch die Nürnberger Gesetze den Erbforschern ermöglicht hat, ihre Forschungsergebnisse dem Volksganzen praktisch dienstbar zu machen.“
Welche Forschungsergebnisse hatte FISCHER gemeint? Er selbst hatte 1908 in der damaligen deutschen Kolonie Südwestafrika (heute Namibia) eine
Mischlingspopulation untersucht, um zu überprüfen,
ob die Mendelschen Regeln auch für den Menschen
gelten. Belege dafür, dass „Rassenmischungen“
schädlich sind, konnten aber weder er noch andere
„Erbforscher“ vorlegen. Dennoch beharrte FISCHER
darauf, dass „Neger, Hottentotten und viele andere
minderwertig“ seien und „dass ein Volk, wenn es
seine eigene Art bewahren will, fremdes Rassengut
[…] ausmerzen“ müsse – „zum Schutze des eigenen
Erbgutes“.
Die Wurzeln des wissenschaftlich verbrämten Rassismus reichen tief. Schon Carl von LINNÉ hatte Afrikaner „träge“, „schamlos“ und „von Launen regiert“
genannt. Im 19. Jahrhundert wurde der aufkeimende
Evolutionsgedanke zur willkommenen Rechtfertigung für Kolonialismus und Sklaverei, da er eine Begründung für Rassenunterschiede zu liefern schien.
Besonders einflussreich wurde der Franzose Joseph
Arthur COMTE DE GOBINEAU (1816–1882), der 1853
in einem „Essay über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“ den Mythos von der Überlegenheit
der angeblich besonders edlen „nordischen Rasse“
begründete.
Ganz anderer Meinung war der deutsche Naturforscher Alexander von HUMBOLDT (1769–1859), der
auf seinen Forschungsreisen Angehörige anderer
„Rassen“ kennen gelernt hatte: „Während wir auf
der Einheit der menschlichen Spezies bestehen, weisen wir zugleich die deprimierende Annahme zurück, es gebe höher stehende und tiefer stehende
POLITIK
Rassismus – wissenschaftlich verbrämt
151.1 Rassistische Propaganda (Deutschland, 1942)
Menschenrassen“, schrieb er 1849. „Alle Menschen
sind gleichermaßen für die Freiheit geschaffen.“
Dieser Ansicht war auch Charles DARWIN, der ein
erklärter Gegner der Sklaverei war und die Worte
„höher“ oder „niedriger“ im Zusammenhang mit
seiner Theorie nicht schätzte.
„Untermenschen“ und „minderwertige Rassen“ gab
es nicht nur in den Augen deutscher Politiker. Der
US-Bundesstaat Virginia hatte beispielsweise Eheschließungen zwischen „Personen der kaukasischen
(= europäischen) Rasse und Personen, die mehr als
ein sechzehntel Indianerblut oder eine Spur Negerblut in ihren Adern haben“, schon 1930 verboten.
Aber nur in Deutschland kam es zu einer engen Allianz zwischen einer scheinbar wertfreien Wissenschaft und einer Ideologie, die den Rassismus zur
Staatsdoktrin erhoben hatte. Anthropologen lieferten der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialisten das geistige Rüstzeug und arbeiteten
durch massenhaft erstellte „Rassegutachten“ auch
aktiv am organisierten Massenmord an Juden, Sinti,
Roma und anderen Minderheiten mit.
Nach dem Krieg fühlten die deutschen Anthropologen sich und ihre Wissenschaft von den Nazis
missbraucht. FISCHER wurde zum Ehrenmitglied der
Deutschen Gesellschaft für Anthropologie gewählt
und schrieb seine Memoiren: „Über die Begegnung
mit Toten“. Von toten Juden war darin nicht die Rede.
Die „nordische Rasse“ geistert immer noch durch
manches Lehrbuch. Nur das Adjektiv „edel“ fehlt.
1 Zeigen und bewerten Sie Verflechtungen zwischen
Wissenschaft und Rassismus.
Die Evolution des Menschen
151