Kritikpunkte am Neuland-Sachcomic zum Thema Stillen und Wochenbett Julia Afgan, Stillberaterin La Leche Liga Deutschland e.V., 23.05.2015 Seite 5, Prolog: Die rasante Fahrt zur Klinik suggeriert ein verzerrtes Bild von Wehenfrequenz und Geburtsverlauf. Sie bedient das Klischee aus diversen Fernsehfilmen, in denen eine Geburt häufig mit einer Sturzgeburt gleichgesetzt wird. Die Frau scheint von der ersten Wehe an nur noch wenige Minuten bis zur Geburt zu haben…dieses Bild fördert bei der Leserin leider unnötige Angst vor der Geburt, anstatt hilfreiches Wissen über den realistisch zu erwartenden physiologischen Geburtsverlauf einer Erstgebärenden zu vermitteln. Seite 6: Das Neugeborene landet nach der Geburt in der optimalen Stillposition Bauch auf Bauch auf der Mutter. Es zeigt deutliche Stillzeichen wie Suchen, Mund öffnen, Händchen saugen. Jetzt wäre eigentlich der ideale Zeitpunkt, auf diese ersten Zeichen zu reagieren. Mutter und Baby sollten am besten ganz in Ruhe gelassen werden, damit das Neugeborene in genau dieser Bauch an BauchPosition die Brust finden und ansaugen kann. Leider passiert Folgendes: Diese erste kostbare Zeit, in der der Saugreflex besonders stark ausgeprägt ist, vergeht mit Umbetten, Umzug aus dem Kreissaal, mit Kaffee kochen und Blumen arrangieren. Trotz deutlicher Zeichen des Kindes wird die Mutter nicht zum Stillen ermutigt. Seite 7/8: Das Baby liegt inzwischen rücklings statt bäuchlings auf Mama und saugt weiter an den Händchen. Die Stillzeichen werden noch immer nicht beachtet, geschweige denn das Kind in eine passende Stillposition gebracht. Die Mutter müsste es bloß umdrehen-und schon könnte es ganz unkompliziert und ohne Hilfe von außen stillen. Was passiert stattdessen? Der Vater bekommt einen Kaffee. Witzigerweise liest der Vater einige Seiten später im Wissenschaftsmagazin, dass Neugeborene von Geburt an alleine zur Brust finden. Hätte die Autorin gewusst, wie sich dieses theoretische Wissen in die Praxis übertragen lässt, hätte Louise einen wesentlich schmerzfreieren Stillstart gehabt. Seite 9: Endlich scheint die Pflegefachfrau auf die Stillzeichen des Kindes einzugehen. Aber das Baby darf noch immer nicht stillen. Es kommt zunächst auf Vaters Arm, damit die Pflegefachfrau die Mutter zur Brustmassage anleiten kann. Eine an dieser Stelle unnötige Maßnahme, da das Kind aktiv ist und bereits viel zu lange deutliche Stillzeichen sendet. Es wäre in der Lage, die Brust problemlos alleine zu stimulieren. Die Massage suggeriert der Leserin, dass sie ihr Kind nicht spontan anlegen darf, sondern die Brust zum Stillen erst vorbereitet werden muss. Die Leserin lernt zudem, dass die Stillzeichen des Kindes sehr lange übergangen werden dürfen. Es wäre sinnvoller, die Comicmutter Louise würde auf die Zeichen von Anna aufmerksam gemacht und ermutigt werden, sie direkt anzulegen. Durch die Brustmassage gehen leider auch die ersten kostbaren Tropfen Kolostrum verloren. Die Trennung von Mutter und Kind vor dem ersten Anlegen ist ein unnötig störender Eingriff. Man weiß heute, dass Neugeborene nach der Geburt ungestört im nackten Bauch an Bauch-Kontakt mit der Mutter bleiben sollten. Und zwar mindestens, bis sie zum ersten Mal alleine die Brust gefunden und angesaugt haben. Dies stabilisiert nicht nur Herzschlag, Kreislauf, Atmung und Wärmeregulation des Kindes, sondern ist auch die beste Voraussetzung für die Ausbildung eines guten Saugverhaltens. Außerdem erlebt die Mutter, wie kompetent sie und ihr Kind sind, wenn sie ohne Hilfe von außen stillen können. 1 Im Comic wird das Baby erst jetzt angelegt-leider durch eine dritte Person und in einer ganz ungünstigen Stillposition: Das Baby liegt Seite an Bauch vor der aufrecht sitzenden Mutter, anstatt Bauch auf Bauch auf der halb liegenden Mutter! Schlechter geht es kaum. Das Köpfchen ist nach hinten überstreckt, das Kind arbeitet gegen die Schwerkraft anstatt mit der Schwerkraft. Anna ist zudem in eine Decke eingewickelt und hat keinen nackten Ganzkörperkontakt mehr. So kann sie ihre Neugeborenenreflexe nicht zu nutzen, um die Brust zu suchen und in eine weite Mundöffnung zu kommen. Alleine das Auslösen des Saugreflexes reicht kaum aus, um ein optimales und schmerzfreies Ansaugen zu gewährleisten. Rein physiologisch sehr ungünstig- kein Wunder, dass die Mutter infolge unter wunden Brustwarzen leiden wird. Schade auch, dass der Leserin suggeriert wird, beim Anlegen müssten unbedingt helfende Hände von außen eingreifen. Dritte Hände verletzten das feine Zusammenspiel von Mutter und Kind, und können erste Stillprobleme wie falsches Ansaugen verursachen. Zudem wird der Leserin suggeriert, sie sei nicht kompetent genug, ihr Kind alleine zu stillen. Stillen scheint laut Comic eine Fachkompetenz der Pflegerin zu sein. Dabei erfolgt korrektes Ansaugen nicht aufgrund einer Anleitung, sondern durch eine komplexe Abfolge von Neugeborenenreflexen, die im (nackten)Ganzkörperkontakt ausgelöst werden. Seite 10: Das erste Anlegen tut der Mutter weh (kein Wunder in dieser Stillposition…), sie schreit aufund die Pflegefachfrau erklärt, dass dies normal sei. Leider ist genau das traurige Realität in den Kliniken, und es ist wirklich tragisch, dass dies auch in diesem nagelneuen Comic vermittelt wird. Schmerzen beim Stillen sind nicht normal- auch nicht in der Anfangszeit. Schmerzen bedeuten immer, dass etwas nicht stimmt, und sollten nicht ausgehalten werden. Spätestens jetzt wird deutlich, dass dieser Comic das Werk einer am Stillen interessierten Mutter ist, die keine Fachausbildung bezüglich Stillen hat. Insgesamt vermittelt diese erste Anlegesituation in der Klinik ein veraltetes Bild des Stillens. Ich vermute, sie beruht auf eigenen Erfahrungen der Autorin? Stillen wird als zu erlernende Wissenschaft dargestellt, für die die Mutter unbedingt Anleitung und Überwachung von außen braucht. Genauso wenig, wie ein Paar technische Anleitungen fürs Küssen oder für Sex braucht, genauso wenig braucht das Stillpaar technische Anleitungen fürs Stillen. Und genauso, wie uns eine Fachperson stören würde, würde sie mit Argusaugen unsere „richtige Technik“ beim Küssen oder beim Sex überwachen, genauso stört die Fachüberwachung auch beim Stillen. Das Oxytocin fließt beim Baby zeugen genauso wie beim Baby ernähren am besten, wenn zwei Verliebte ihre Ruhe haben und intuitiv zueinander finden können. Die aktuelle Stillwelt hat sich inzwischen von technischen Anleitungen entfernt und ist dank neuster Forschung beim intuitiven Stillen angekommen. Seite 13: Hier tritt eine Freundin der Mutter auf, die den Begriff „Technik“ kritisiert und den Begriff „Intuitives Stillen“ ins Spiel bringt. Wie paradox: Im Comic ist eine Person eingebaut, die tatsächlich den aktuellen Stand der Stillwissenschaft kennt! Leider kann die Autorin mit diesem Stand der Wissenschaft nichts anfangen. Unwissend legt sie den Begriff einer leicht hysterischen Mutter in den Mund, die emotional agiert und schnell wieder von der Bühne abtreten muss. Seite 14: Die Mutter muss jetzt die Seite wechseln. Während das Baby weint, geht das Spiel von vorne los und die Mutter muss die zweite Brust massieren. Dass der Milchspendereflex parallel an beiden Brüsten stattfindet, scheint der Autorin fremd zu sein. Die Pflegefachfrau legt der Mutter das 2 Baby an die zweite Brust; wieder wird suggeriert, dass das Anlegen durch eine Fachkraft zu erfolgen hat. Nun findet sich eine neue Variante einer sehr ungünstigen Stillposition: Diesmal hat das Baby die Arme vor dem Oberkörper verschränkt. So ist es für das Baby noch schwieriger, die Brust zu greifen, da der Abstand zur Brust entsprechend größer wird. Seite 15: Es ist Nacht. Endlich schlafen Vater, Mutter und Kind. Sie werden durch die Pflegerin geweckt, die den Dreien mitten im Tiefschlaf (wieso um diese Zeit?)erklärt, wie sie ein Stillprotokoll führen. Dieses Vorgehen ist bei einem gesunden Kind unnötig und löst zusätzlichen Stress aus; es suggeriert der Leserschaft zudem, dass man nach einem bestimmten Schema vorzugehen hat: Erst eine Brust, dann die zweite, dann hat das Kind satt zu sein. Diese Vorstellung ist längst überholt. Viel hilfreicher wäre es, die Eltern zum Anlegen nach Bedarf zu ermutigen, und zwar ganz unabhängig davon, mit welcher Brust das Kind loslegt. Ein breites Spektrum ist entspannter für alle: Ein Baby darf auch mehrmals an beiden Seiten trinken, oder auch nur einmal an einer Seite- ganz nach Bedarf von Mutter und Kind. Seite 19: Wieder wird die Inkompetenz der Mutter vorgeführt, die ihr Baby nur mit Hilfe der Nachtschwester anlegen kann. Brav massiert sie zunächst die Brust, obwohl das Kind bereits schreit und an den Händen saugt. Einige Seiten später wird zwar erklärt, dass man auf die frühen Zeichen des Kindes reagieren und nicht bis zum Schreien warten soll- aber die Autorin scheint das eigene Wissen nicht umsetzen zu können. Ich kann mir jedenfalls keine Mutter vorstellen, die ihr schreiendes Neugeborenes unter den Ellenbogen klemmt, dabei parallel mit beiden Händen die Brust massiert, selig lächelt und währenddessen auch noch Oxytocin ausschüttet… Seite 20: Die Mutter beißt beim Stillen vor Schmerzen die Zähne zusammen. Die Pflegerin hat wohl schon mal gehört, dass eine andere Position helfen könnte, kennt aber leider keine und bietet auch keine an. Stattdessen redet sie von Überreizung und Salben. Leider ist auch das traurige Realität in den Kliniken. Und die Comicleserin lernt, tapfer die Zähne zusammenzubeißen und weiterhin falsch anzulegen. Auch die Zeichnungen von Seite 30 und 32 suggerieren starke Schmerzen als Normalität. Seite 23: Hier sind Stillsignale des Babys dargestellt, leider werden frühe und mittlere Signale nicht differenziert. Und wie bereits angemerkt- leider werden im Comic Annas frühe und mittlere Stillzeichen konsequent übergangen. Über den ganzen Comic hinweg muss Anna im Stubenwagen, Kinderwagen oder Tragetuch schreien, bis sie die Brust bekommt. Seite 39-41: Auch im weiteren Verlauf wird nicht auf Annas frühe Hungerzeichen eingegangen. Anna liegt im Stubenwagen, bis sie schreit. Anstatt das Kind zumindest jetzt direkt anzulegen, passiert Folgendes: Erstmal zieht man ins Stillzimmer um. Man plaudert. Dann nimmt sich die Hebamme Zeit, zunächst in Ruhe Louises Gebärmutter abzutasten. Louise plaudert über ihre Figur. Und natürlich muss auch die Brust erst wieder massiert werden, bevor Anna trinken darf. Während dieser Sequenz lernt die Leserin nicht nur, dass man noch ganz viel erledigen kann, wenn das Kind bereits schreit; sie lernt auch, dass ein Wochenbett langweilig ist und es unschön sein muss, in dieser Zeit im Bett zu liegen. Außerdem lernt die Leserin wieder eine neue Variante von ungünstigen Stillpositionen kennen: Diesmal die Version asymmetrisches Sitzen mit möglichst angespannten Schultern und schiefem Rücken. Autsch. Ich verzichte darauf, auf die sonstigen ungünstigen Stillpositionen im Comic einzugehen, es wird sonst zu lang. Seite 42: Hier lernt die Leserin, dass Bier die Milchbildung fördert. Das unwichtige Detail, dass Alkohol in die Mumi übergeht, wird dezent verschwiegen. Na dann-Prosit! 3 Seite 49: Die Mutter stillt nachts im Elternbett, das Kind liegt dabei direkt am ungeschützten Bettrand. Zum Schlafen wird es wieder zurück in den Stubenwagen gelegt. Sollte die Eltern beim Stillen eindösen, was sogar zeichnerisch dargestellt wird, ist das Elternbett nicht abgesichert. Der Leserin wird zudem suggeriert, dass ein Baby problemlos im Stubenwagen schläft. Seite 50: Eine Horde von Freundinnen mit Kindern hat sich eingeladen. Der Leserin wird suggeriert, dass Besuchermengen ins Wochenbett gehören. Und dass das Baby auf den Arm der Besucher gehört. Außerdem scheint eine stillende Mutter nicht rund 600kcal Mehrbedarf zu haben, sondern mindestens das Doppelte. Louises maßloses (Fr)essverhalten muss auf eine werdende Mutter abschreckend wirken…zumal die Hebamme Sport verbietet. Seite 70: Die abgebildeten Pumpen sehen sehr nach Werbung für die gelben Produkte einer nicht kodexkonformen Firma aus. Seite 83: Hier wird der Leserschaft suggeriert, dass ein circa 3-4 Monate altes Baby nachts noch einmal stillt, und ansonsten friedlich schläft. Falls es nachts öfter trinken sollte, dann stimmt etwas nicht. Ursache: Die Mutter hat einen Milchstau, weswegen das Kind nicht richtig satt wurde. Hunger scheint der einzige Grund zu sein, aus dem ein Baby nachts nach der Mutter ruft. Wenn es satt ist, dann scheint es friedlich zu schlafen-natürlich alleine im Bettchen. Seite 86: Die Leserschaft lernt, dass ein ca. 3-4 Monate altes Baby nachts inzwischen alleine im eigenen Zimmer schläft. Immerhin wandert die Mutter ins Kinderzimmer, wenn Anna laut genug schreit. Seite 91: Wieder muss Anna drei Bilder lang schreien, bis Mutter und Stillberaterin genug geplaudert haben und von der Küche ins Kinderzimmer gehen. Seite 92: Die Stillberaterin drückt das Baby am Hinterkopf von oben auf die gestaute Brust-Autsch. Genau wie in der Kliniksituation ist auch hier die Beraterin die Fachperson, die das Kind anlegt; die Situation wirkt übergriffig. Seite 102: In der Mütterberatung lernt Louise, dass sie Babysitterangebote annehmen soll, auch wenn dies ihrem Bauchgefühl widerspricht. Schließlich kann sie nur genug Milch bilden, wenn sie entspannt ist. Außerdem lernt sie, dass es zwar in der Ausnahmesituation der Brustentzündung akzeptabel war, die fünf Monate alte Anna vorübergehend nachts neben sich zu stellen. Dass es aber nun wieder Ziel ist, Anna nachts auch ohne Stillen zu beruhigen, und sie wieder ans alleine schlafen zu gewöhnen. Seite 109: Die Eltern haben es geschafft, Anna schläft wieder alleine im eigenen Zimmer. Falls sie unruhig ist, liegt es am Zahnen. Inzwischen gibt es tagsüber Brei, der nach Plan gefüttert wird; die Mutter stillt entsprechend weniger. Vorgegebene Breipläne, in denen das Stillen nach und nach ersetzt wird, scheinen problemlos durchzuführen zu sein. Fingerfood ist unbekannt. Und was ist die Folge des allmählichen Abstillens? Natürlich- die Kleine schläft jetzt durch! Was noch? Die Mutter hat endlich wieder Lust auf Sex, denn das scheint ja erst jetzt möglich zu sein. Fazit: 4 Die Illustrationen sind Geschmackssache. Über Klischees wie die Öko- Outfits von Hebamme und Stillberaterin, oder das Klischee deren bärtigen, wollpullovertragenden Partners kann man großzügig hinwegsehen. Aber Klischees rund ums Stillfachwissen und das laienhafte Bedienen aus der Ammenmärchenkiste sind für mich inakzeptabel. Es werden viele veraltete und daher wenig hilfreiche Stillinformationen vermittelt, die der Erfahrung nach unnötiges Leid, Schmerz und Stress nach sich ziehen. Auch Sicherheitsaspekte wie abgesichertes Elternbett, oder das Kind zumindest im ersten Lebensjahr im Elternschlafzimmer zu lassen, werden völlig außer Acht gelassen. Die netten Aspekte des Comics, wie z.B. der kochende und tragende Vater oder die realistischen Darstellungen von Müttergesprächen, Sorgen und BabyBlues, wiegen die negativen Aspekte leider nicht auf. Aus LLL-Perspektive werden Grundbedürfnisse des Kindes wie Nähe und Sicherheit oder promptes Eingehen auf die Signale vernachlässigt. Stillen, Beikost und Abstillen erfolgen nach Schema. Elterliche Intuition hat wenig Raum. Die dem Comic beiliegende Broschüre „Fragen und Antworten“ ist fachlich ein gutes Stück besser. Sie ist nicht ganz auf dem aktuellen Stand, aber immerhin ammenmärchenfrei und recht hilfreich. Umso deutlicher wird dadurch die Diskrepanz zum Comic! Es scheint so, als seien die Inhalte des Comics nicht oder kaum mit den Inhalten der Broschüre in Einklang gebracht worden? Verwirrend und sehr schade. Und aus meiner Sicht als LLL-Beraterin nicht zu empfehlen. 5
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