VON DER LANDSCHAFT LEBEN Nachhaltiges Wirtschaften in regionalen Wertschöpfungsketten Porträts von acht Trägern der Regionalmarke des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin Büro für Landschaftskommunikation 2004 Inhalt Vorwort - Anke Jenssen 1 „Wir sind nicht für einen persönlichen Karriereplan hergekommen“ Die Gärtnerei Winter in Oderberg 3 „Wir brauchen ‚Regionalregale‘ in jedem funktionierendem Markt der Region.“ Die Weidewirtschaft-Liepe eG 8 Viele Standbeine, kein Spielbein. Die Fleischerei Ortlieb in Althüttendorf 15 „Die Natur ist unser Kapital. In Deutschland gibt es nicht noch mal so ‚ne Ecke“ Das Haus Chorin 20 Thaers Erben in Groß Schönebeck Die Schorfheider Agrar-GmbH 26 „Wir brauchen die Natur, nicht die Natur uns.“ Die Imkerei Lange in Klosterfelde 32 Q - Regio oder: Aufbauen, Landschaft gestalten macht Spaß Die Bauernkäserei Wolters in Bandelow 38 Im Teelöffelverfahren zum regionalen Warenkorb Renate Witthuhn und ihr Joachimsthaler REWE-Markt 44 Keine Idyllen Thesen zum nachhaltigen Wirtschaften in regionalen Wertschöpfungsketten 49 Deckblatt: Ackerland der SAG (Schorfheider Agrar GmbH). Die Eiche hat die Melioration überlebt und bildet heute ein attraktives Landschaftselement. Das Stroh wird bis zur Verwertung zu großen Quadern aufgetürmt. Rückseite: Gemüsegarten der Gärtnerei Winter, Oderberg. Liebe Leser, schöne und intakte Landschaften wie die Uckermark, der Barnim und das Oderbruch sind unsere Heimat. Für die einen sind sie ein seit Generationen bewohnter Lebensbereich, für andere ein neues zu Hause - eine Wahlheimat. Gäste und Besucher finden hier Erholung und Entspannung, erfreuen Herz und Sinne, tanken Kraft für ihren meist städtischen Alltag. Sie verfolgen oft mit großem Interesse das Leben der „Landmenschen“ in einer der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Durch regionale Erzeugnisse der Landwirtschaft finden sie einen direkten Bezug zur Landschaft. Die geschützte Natur vermittelt Vertrauen und Sicherheit bezüglich ihrer Produkte. Die Reflexion ist einfach: Gesunde Landschaft - gesundes Produkt. Aber was steht dahinter? Wie kann man diesem hohen Anspruch gerecht werden und wann entspricht die Art und Weise der Produktion einer nachhaltigen Landnutzung, so wie es für ein Biosphärenreservat wünschenswert wäre? Seit 1998 wird das Herkunftszeichen des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin an Landwirte, Lebensmittelverarbeiter, Gastwirte und andere Akteure des Schutzgebietes vergeben. Diese Regionalmarke hat viele Funktionen. Sie fungiert als Herkunftszeichen und fixiert hohe Qualitätsansprüche an das Produkt und an die Art und Weise seiner Erzeugung. Sie ist ein Werbemittel und stimuliert die Kommunikation der Produzenten untereinander sowie mit den Kunden. Die Regionalmarke dient auch der Identifikation mit der Landschaft. Und nicht zuletzt ist sie ein Arbeitsmittel für die Biosphärenreservatsverwaltung mit den Erzeugern. Inzwischen ist die Zahl der Zeichennutzer von 23 auf über 60 angestiegen und unsere Regionalmarke hat sich zum Prüfzeichen gemausert. So können auch Produzenten außerhalb der Schutzgebietsgrenze mit dem Namen „Schorfheide-Chorin“ für ihre Erzeugnisse werben, wenn sie die Produktionskriterien des Biosphärenreservates erfüllen. Ob die einzelnen Zeichennutzer mit dem Prüfzeichen offensiv für ihre Produkte Werbung machen, es also als Marketinginstrument nutzen, oder ob sie es als Identitätszeichen, als Bekenntnis zu Ihrer Heimat in ihrem Büro oder Laden platzieren, bleibt ihnen selbst überlassen. In unserem agrarpolitischem Umfeld haben es regionale Erzeugnisse schwer. Ihre Produktion in kleinen Mengen hat oft einen Manufakturcharakter. Verlassen sie diese Ebene, um großhandelsfähig zu werden, verlieren sie leicht den Charakter der Regionalität und werden Massenware. Finanziell darf die regionale Produktion nicht gefördert werden. Im europäischen Maßstab behindere das regionale Produkt den europäischen Warenverkehr (so eine offizielle Aussage der EU) - eine These, die man allein durch die Arbeitsergebnisse auf Basis der Regionalmarke schon widerlegen kann. Primär geht es uns um das Leben im eigenen Umfeld, welches wir so gestalten sollten, dass auch die uns nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Grundlage im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und in den angrenzenden Landschaften vorfinden. Für Europa ist es wichtig, dass seine Regionen funktionieren. Regionale Produkte in hoher Qualität können dabei helfen. Mit den hier versammelten Portraits möchten wir ihnen Menschen mit ihren Unternehmungen vorstellen, welche sich engagiert in die Geschicke ihrer Heimat einbringen. Sie prägen im Vertrauen auf ihre Arbeit und auf ihre Umwelt das Gesicht unserer Landschaft und helfen ganz selbstverständlich mit, ihre Eigenart zu erhalten. Diesen Menschen, dem Prüfzeichen und damit auch dem Biosphärenreservat wüsche ich weiterhin eine solide und gedeihliche Entwicklung zu unser aller Nutzen. Anke Jenssen Referentin für ökologische Landnutzung im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin Di e G ä r t n e r e i Winter in Oderberg „Wir sind nicht für einen persönlichen Karriereplan hergekommen“ Den schnellen Aufschwung kann man den kleinen Familienbetrieben der Region wohl nicht anhängen. Es ist schon viel wert, wenn sie die eigenen Leute und ein paar Angestellte ernähren. Die Gärtnerei Winter schafft das seit 100 Jahren. Und beweist, dass Nachhaltigkeit viel mit ökonomischer Vernunft, geistiger Beweglichkeit und professionellem Können zu tun hat. Text und Fotos: Kenneth Anders Die Gärtnerei Winter in Od e r b e r g Steckbrief: Die Gärtnerei Hans Erich Winter, Jahrgang 1960, Inhaber der Gärtnerei Winter, ist in Oderberg aufgewachsen und studierte von 1981-86 an der Humboldt-Universität zu Berlin Gartenbau. Seine Frau Ute ist gelernte Gärtnerin und ebenfalls Diplomgartenbauingenieurin; beide lernten sich beim Studium in Berlin kennen. Anschließend arbeiteten sie in Dresden: er in einer großen Gartenbaugenossenschaft, wo er eine Abteilung mit 40 Mitarbeitern leitete, sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Gartenbauinstitut. Das Jahr 1989 brachte deutliche Einschnitte: Die Dresdener Genossenschaft zerfiel, zudem konnte Ute Winter durch die Geburt eines schwerstbehinderten Kindes ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ausführen. Für ein halbes Jahr ging Hans Erich Winter daraufhin zur Neuorientierung nach Westdeutschland in den Garten- und Landschaftsbau. 1992 zogen beide schließlich nach Oderberg, um im Betrieb seiner Eltern zu arbeiten. Ute Winter eignete sich das floristische Handwerk an, ihr Mann vertiefte sich stärker in die Produktion. Unweit der alten Gärtnerei baute die junge Familie ein neues Wohnhaus sowie moderne Gewächshäuser und kultivierte zusätzliche Anbauflächen. Ehrenamtlich ist Hans Erich Winter im Gemeindekirchenrat Oderbergs aktiv, der seit über einem Jahr eine unbesetzte Pfarrstelle kompensieren muss. unterhält den Produktionsstandort mit Gewächshäusern am Rande von Oderberg und ein Blumengeschäft in der Oderberger Innenstadt. Die Eltern Winter arbeiten noch mit, obwohl sie bereits im Rentenalter sind. Zudem sind zwei Angestellte im Blumengeschäft tätig. Der Betrieb bildet fortlaufend einen Lehrling aus. Blick auf den alten Standort der Gärtnerei und das Wohnhaus der Eltern Winter am Bardin im Niederoderbruch. Das Blumengeschäft in der Stadt - Veredlung und Optimierung sind wesentliche Strategien, um als Familienbetrieb zu überleben. Ein freundlicher Takt Die Gärtnerei Winter liegt ein bisschen abseits, am so genannten Bardin; einem Hang, der zur alten Oder hin abfällt. Betritt man den Hof, hat man den Eindruck eines eingespielten Alltags: Leute aus dem Ort kommen mit dem Rad vorbei und kaufen junge Gemüsepflanzen, weil sie im städtischen Laden vergriffen waren. Mutter Gretel Winter stellt zum Mittag Hefeklöße mit Blaubeerkompott oder Kartoffelpuffer auf den Tisch in der Kellerküche - Gerichte, die im Sommer eine Weile stehen bleiben, so dass jeder zum Essen kommen kann, wann er eben Zeit dazu findet. Ein Nachbar holt Kartoffeln und plaudert dabei ein bisschen. Die Handwerker an der Fassade haben zu tun, sie verbreiten keine besondere Unruhe. Immer wedelt ein Dackel über den Hof und bellt (das gibt es) ausgesprochen freundlich. Der Familie merkt man an, dass sie ihre Abläufe beherrscht und nicht von allzu großem Ehrgeiz zerfressen ist. Di e G ä r t n e r e i Winter in Oderberg „Wir haben die Wirtschaftsform, die hier bestand, im Wesentlichen erhalten.“ resümiert Hans Erich Winter die letzten Jahre der Firmenentwicklung und er bestätigt zunächst der Eindruck der Gelassenheit: „Das Arbeitstempo ist viel geringer als in großen Unternehmen.“ Das bedeutet: Produktion und Verkauf gehen Hand in Hand, der Betrieb hat keine besondere Spezialisierung gewählt und ist auch nicht auf Wachstumskurs. Der Kundenkreis ist stabil: 70 % kommen aus Oderberg, 20 % aus den umliegenden Dörfern: Brodowin, Hohensaaten, Liepe, Bölkendorf, Parstein, Lunow, Neukünkendorf und Schiffmühle. Nur zehn Prozent ihrer Produkte setzt die Gärtnerei bei Touristen oder in größeren Städten ab - während der Eberswalder Landesgartenschau stieg der Absatz vorübergehend durch einen Marktstand in der Stadt. Die Bindung an den Standort ist für die Gärtnerei in erster Linie historisch bedingt - man ist hier „am Markt“, hat seine Kunden und seinen regional verankerten Arbeitsprozess (Aus Lunow kommen - wer weiß, warum - die besten Arbeiter). Das Grundstück der Gärtnerei weist verschiedene Bodentypen von feuchtem Lehm bis hin zu trockenem Sand auf. Das ist nicht ungünstig, eine besondere naturräumliche Bindung, wie man sie aus Forst- und Landwirtschaft kennt, erwächst aber nicht daraus. Zu koordinieren ist ein ziemlich komplexes Tagwerk, das nicht beliebig zu beschleunigen ist. Schnittblumen, Gemüse und Gemüsepflanzen, Kränze und Gebinde für Hochzeiten, Feste und Beerdigungen müssen in ständig wechselnden Anteilen bereitgestellt werden. Die beiden Standorte - Laden und Gärtnerei - ermöglichen diese Strategie und blieben daher bis heute erhalten, obwohl es sich manchmal etwas umständlich damit wirtschaftet. „In erster Linie soll die Gärtnerei eine Familie ernähren.“ Das tut sie auch, seit über 100 Jahren. Ein Nachbar holt Kartoffeln ab. Mit vielen Kunden besteht eine lange Bekanntschaft - wie auch zu den anderen „Mitbewerbern am Markt“. Der Schauwert der alten Zeigerwaage ist immer noch ungeschlagen und eine Abwechslung für alle Kinder, die mit ihren Müttern Gemüse kaufen gehen. Gärtnern mit Tradition Die Winters stehen in einer starken Gärtnertradition: Vater Winter kam aus Pommern und lernte den Beruf bei Tante und Onkel, die die Gärtnerei damals inne hatten, Mutter Winter kommt aus einer schlesischen Familie, in der alle Geschwister und die Eltern Gärtner oder Floristen waren. Die Beziehung zur Profession in Zeiten, in denen die Kinder immer seltener das Tagwerk ihrer Eltern fortsetzen, ist der Familie kaum eine Rede wert. Sie ist selbstverständlich - und dennoch voller Zufälle. In den wechselnden Namen des Betriebes und ihrer Besitzer (Ahrendt, Schönicke, Wieland, Wielands Erben und Winter) erkennt man kaum noch den Familienzusammenhang und ahnt doch die Beweglichkeit, die das Unternehmen und seine Besitzer in der Geschichte aufbringen mussten. Die Familie repräsentiert keine Berufsdynastie, sondern über Generationen wachsendes Wissen und eine durchgängige Liebe zu ihrer Arbeit. Hans Erich Winter hat mit seiner hohen beruf- Die Gärtnerei Winter in Od e r b e r g lichen Qualifikation und Erfahrung durchaus einen Blick für die Gefährdungen mitgebracht, denen der kleinen Betrieb ausgesetzt ist - und ein Interesse dafür, wie seine Zukunft gesichert werden kann. Hinter der Kontinuität der Familientradition verbirgt sich, so wird man gewahr, weniger Beschaulichkeit, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Das betrifft zunächst die Angebotspalette: so stabil der Markt als Kundenkreis auch ist, was man für ihn produziert, hängt vom momentanen Wohlstand ab. In schlechten Zeiten wird mehr Gemüse nachgefragt, in guten Zeiten mehr Blumen. In der DDR kompensierten die Gärtnereien teilweise die Engpässe der großen Versorgungssysteme. Heute spielen die Blumen wieder eine größere Rolle, deshalb ist der Blumenladen in der Stadt unverzichtbar. Das Haus gehört den Winters, sie haben es saniert und die im Obergeschoss befindlichen Wohnungen vermietet. Dass die Mehrwertsteuer auf Blumen immer noch sieben und nicht sechzehn Prozent beträgt, ist ein stabilisierender Effekt, auf den kaum eine Gärtnerei gern verzichten wird. Aber nicht nur der wechselnde Wohlstand, auch der Bevölkerungsrückgang zwingt zu Anpassungen: Oderberg, das in den sechziger Jahren noch mit stolzen 5000 Einwohnern aufwarten konnte, zählt heute gerade noch 2800 Menschen und dementsprechend weniger Kunden - Tendenz fallend. Dies betrifft ebenso die Dörfer, weshalb das über Jahrzehnte wichtige mobile Marktgeschäft rückläufig ist. Vater Winter hat seine regelmäßigen Wochentouren darum halbiert, die übrig gebliebene Route macht er weniger des Geschäftes wegen, als aus guter Gewohnheit und Entgegenkommen: die alten Kunden werden weniger, neue kommen kaum dazu. „Es ist für die Alten, die nicht weg können.“ Ausgeglichen wird diese Schrumpfung durch ein allgemein gestiegenes Preisniveau, welches nicht zuletzt wegen der floristischen Veredlung von den Kunden auch akzeptiert wird. Die Waren im Laden bestechen mit Frische, Qualität und Kreativität: Optimierung als Überlebensform. Dass man auch ohne Wachstumsperspektive aktiv bleiben muss, wird somit greifbar. Die Verbesserung der betrieblichen Infrastruktur durch größere und gleichwohl energiesparende Gewächshäuser gehört dazu - weshalb auch der Abschied von den kohlebeheizten alten, heute beinahe verwunschenen Anlagen bevorsteht. Berufliche Weiterbildungsangebote nimmt Winter in den letzten Jahren nicht so viel in Anspruch, wie er es eigentlich möchte. Im Landesverband für Gartenbau organisiert und zum Interessentenkreis eines ökologischen Anbauverbandes gehörend, böten sich hier noch zusätzliche Möglichkeiten. Außerdem gibt es immer an der Dienstleistungspalette zu feilen: Einmal gefertigte Gebinde gehen an die Kunden und müssten doch fotografiert werden, um sie in einer Broschüre späteren Interessenten präsentieren zu können. Der ständige Verkauf in der Gärtnerei verlangt ein waches Auge aller Beschäftigten, denn eine Ein Hauch von Toskana: das alte Gewächshaus verbreitet großen Charme, die Heizkosten sind dagegen weniger erfreulich. Die neuen Gewächshäuser: nicht ganz so gemütlich, aber geräumig und wegen des doppelwandigen Kunststoffdachs sparsamer im Betrieb. Beweglichkeit in der Provinz Di e G ä r t n e r e i Winter in Oderberg eigene Verkaufskraft kann man für die wenigen Kunden, die hier täglich vorbeischauen, nicht einstellen: kommen sie auf den Hof und keiner merkt es, gehen sie wieder und bleiben fern. Als Hans Erich Winter 1992 nach Oderberg zurückkehrte, tat er dies nicht, ohne sich nach Alternativen zu einer Fortführung der bestehenden Wirtschaftsform zu fragen. Die dynamischere Arbeit in der Dresdener Genossenschaft hatte ihm Spaß gemacht: „Hätte der Betrieb Bestand gehabt, wär ich dort geblieben.“ Folglich lag es nahe, auch den Oderberger Standort nach Entwicklungspotenzialen abzuklopfen. Nach westdeutschem Vorbild hätte sich eine Expansion zum Gartencenter angeboten: die Winters wären aus der Produktion ausgestiegen und hätten sich allein auf den Vertrieb konzentriert. Dagegen sprachen aber die geringe Bevölkerungsdichte in der Gegend, das fehlende Eigenkapital und das relativ stabile - ja starre - Kundenpotenzial. Während Gärtnereien in Großstädten oft durch den Verkauf ihrer Flächen einen finanziellen und unternehmerischen Impuls zu einer Neugründung vor den Toren der Stadt erhalten, fehlte dieser in Oderberg völlig. Hinzu kam die kleinteilige Versorgungslage in der Region: In den benachbarten Ortschaften gibt es zahlreiche ähnliche Familiengärtnereien. Der Aufschwung zum Gartencenter hätte nur dann einen Zweck gehabt, wenn man deren Kunden durch niedrigere Preise und breitere Angebotspaletten hätte gewinnen können - mit anderen Worten: man hätte seine Kollegen vom Markt gedrängt. Dazu hatte Winter auch keine rechte Lust. „Sicher fehlt es für weiter gehende Schritte auch an Risikobereitschaft. Aber für diese bräuchte ich einen größeren Leidensdruck.“ Umgekehrt wäre es auch möglich gewesen, aus dem Verkauf auszusteigen und sich ganz auf die Produktion zu verlegen. Allerdings fehlte es dafür wiederum an einem geeigneten Vertriebssystem, das die Waren auch aufnehmen könne. Versuche, im Regionalmarkenladen des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin neue Vertriebsformen aufzubauen, sind vorerst abgebrochen und können auch aus eigener Kraft nicht gestemmt werden. Und völlig spezialisierte Produktion - etwa die Herstellung frischer Kräuter für die Käseproduktion - verlangte wiederum einen großen technologischen Vorlauf und einen völligen Neuanfang: Um etwa das ganze Jahr über kontinuierlich frische Kräuter liefern zu können, müsste aus der Gärtnerei ein lebensmittelindustrieller Betrieb werden, der vollkommen von der wirtschaftlichen Lage der Verwertungskette abhängig wäre. Schließlich hätte sich Winter mit seiner Erfahrung im Garten- und Landschaftsbau auch in diesem Unternehmensfeld versuchen können - es war noch weitgehend unerschlossen und im Zuge des Baubooms in den neunziger Jahren wäre es vorübergehend vielleicht einträglich gewesen. Langfristig jedoch schien auch dafür die Bevölkerungsdichte zu gering - und die Gartenkultur der privaten Leute viel zu sehr auf In schlechten Zeiten Gemüse, in guten Zeiten Blumen: gemessen am Absatz der Winters, leben wir in eher besseren Zeiten. „Wat haste denn noch dabei?“ Überlandverkauf in Bölkendorf: inzwischen mehr ein Geschäftszweig aus guter Gewohnheit. Alternativen und warum es keine sind Die Gärtnerei Winter in Od e r b e r g selbständiges Pusseln in der eigenen Scholle ausgelegt. So entschied sich Winter, das Vorhandene weiterzuführen - und tat es damit den Kollegen der anderen Gärtnereien gleich: „Hier haben alle im Rahmen ihrer Möglichkeit investiert und dadurch die alte Struktur erhalten.“ Regionale Wertschöpfung? Die eigenen Wachstumsgrenzen einer Familiengärtnerei limitieren auch die Kooperationschancen in der Region, die das Regionalmarkenkonzept eigentlich fördern will. Für die Belieferung des Berliner Regionalmarkenladens gab es Ansätze logistischer Kooperation, etwa mit der Weidefleischproduktion in Liepe; darüber hinaus ging es nicht - das hätte bedeutet, einen komplett neuen Zweig im Vertrauen auf ein stabiles Wachstum des Berliner Absatzes aufzubauen. Größere Produzenten wie das Gut Kerkow können außerdem die saisonalen Schwankungen einer kleinen Landgärtnerei nicht kompensieren. Was bleibt, ist eine Atmosphäre der gegenseitigen Solidarität und Unterstützung, die sich in erster Linie im eigenen Gewerbe auswirkt: die kleinen Gärtnereien aus Oderberg, Altglietzen und Neuenhagen unterstützen sich beim Einkauf, bei der Aushilfe mit dringend benötigtem Material und durch eine vorsichtige Spezialisierung meist spontan, selten strategisch. Wachstum? Ja, Blumen! Ökonomische Perspektiven von Regionen und Betrieben werden immer noch unter Wachstumsgesichtspunkten betrachtet. Das ist, volkswirtschaftlich gesehen, zunächst auch logisch: Es gehen permanent Arbeitsplätze verloren, also müssen immer neue entstehen, um diese Menschen aufzufangen und eine regionale Wertschöpfung zu ermöglichen. Die Frage ist nur: passt diese Logik auf alle? Ein Familienunternehmen wie das der Winters kann die großen Strukturbrüche der Nachwendezeit in der Uckermark und im Oderbruch nicht auffangen. Es ist schon viel, wenn sie diese selbst überlebt und sechs Menschen ein Auskommen bietet. Ein Rezept für den Aufschwung Ostbrandenburgs lässt sich bei „Blumen-Winter“ deshalb nicht abholen - wohl aber ein Beleg des nachhaltigen Wirtschaftens im lokalen Kreislauf und ein Zeugnis des guten Lebens. Relative Autonomie, vergleichsweise ganzheitliche Arbeit und ein bescheidener Wohlstand: wenn alle Bewohner des Biosphärenreservates das erreichen würden, wären die meisten wohl zufrieden. Der Sinn für das Machbare, die Offenheit für Veränderung, Geschick, Tüchtigkeit und soziale Wärme sind deshalb ein guter Grund, das Unternehmen in den Kreis der Regionalmarkenproduzenten aufzunehmen. Und sicher - sie haben das Schild auch an ihrer Ladentür angebracht. Ob die Marke die Blumen schmückt - oder die Blumen die Marke - können wir offen lassen. � Oderberg ist eine Stadt zwischen den Landschaften: Oderbruch, Uckermark und Barnim treffen sich hier auf engstem Raum. Di e W e i d e w i r tschaft Liepe eG Lieper Rinder am Hang des Choriner Endmoränenbogens. Hier kalben die Mutterkühe und ziehen ihre Kälber auf. 10 Die Weidewirtschaft Liepe e G „Wir brauchen ‚Regionalregale‘ mit unseren Produkten in möglichst jedem funktionierenden Markt der Region.“ Landschaftspflege, Rindermast und Rohwurstspezialitäten: Die Weidewirtschaft-Liepe eG Text und Fotos: Lars Fischer Ein Firmenporträt der Weidewirtschaft-Liepe eG? Als bei der telefonischen Terminabsprache das Wort „Regionalmarke“ fällt, hakt Karl-Heinz Manzke, Geschäftsführer der Genossenschaft sofort ein: „Papier ist doch nun wahrlich schon genug beschrieben worden, wir müssen mit unseren Regionalprodukten an den Markt.“ Seit Jahren quäle man sich damit, eine Institution zu schaffen, die die Produkte aus dem Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin zusammenfasst, um die gemeinsame Vermarktung anzuschieben und bekomme es nicht in den Griff. Ein professionelles Marketing, das die Erzeugnisse der Region zentral vermarktet, fehle und auch die Logistik für eine verlässliche Belieferung der Kunden. Der Markt sei da, regionale Produkte würden nachgefragt, gerade in den Städten und vor allem in Berlin, das hätte Analysen von Experten ergeben. Ebenso, dass die Kunden sie gerne dort kaufen möchten, wo sie auch sonst einkaufen gehen, im Supermarkt. Die aber würden ihre Ware nicht gerne vom einzelnen Bauern beziehen, wegen des zu hohen Verwaltungsaufwands. Der Absatz auf Bauernmärkten, Sommerfesten für Touristen, in Hof- und Naturkostläden sei zwar ausbaufähig, brächte aber nicht den richtigen Schub, um einen Be- trieb wirtschaftlich voranzubringen. Von der Region wolle er erst gar nicht reden. Allein von der schönen Natur könne man nicht leben. „Was wir brauchen, sind Regale mit Regionalprodukten in möglichst jedem funktionierenden Markt der Region!“ Das Gespräch schien mit diesem Satz zu Ende. Ob ein Firmenporträt diese Einschätzungen nicht verdeutlichen könne? „Wenn Sie meinen, na, dann kommen Sie, aber fassen Sie sich kurz!“ Zwischen Höhe und Niederung Liepe markiert die Grenze zweier Landschaften. Hier trifft die Uckermark auf das Oderbruch. Vom Schiffshebewerk bei Niederfinow aus betrachtet, liegt die Struktur des landschaftlichen Übergangs deutlich vor Augen. Nördlich der langen Dorfstraße liegen die Häuser an den Südhängen des Choriner Endmoränenbogens, südlich öffnen sich die Höfe in die weitläufigen Wiesen des Niederoderbruchs. Mit einem Fernglas würde man wohl auch die Rinderherden der WeidewirtschaftLiepe eG erkennen können, braune, schwarze und grauweiße Punkte auf dem satten Grün der Niederung oder dem hellen, ins Gelbliche gehenden Grün der Magerrasen, die den Forst auf den Hängen lichten. 11 Di e W e i d e w i r tschaft Liepe eG Die Weidewirtschaft-Liepe eG liegt mit ihrem Betriebsgelände zum Niederoderbruch hin. Das Büro von Karl-Heinz Manzke ist in einem Flachbau untergebracht, gleich neben dem Hofladen. Es ist ruhig auf dem Hof. Die Rinder sind bis zum Winter auf den Weiden, der Hofladen nur freitags geöffnet. Aus der Fleischerei, die in einer großen Halle untergebracht ist, kommt ein Mitarbeiter. „Der Chef ist gleich da, steht noch an der Ampel in Oderberg. Seit die Holzbrücke über die Alte Finow gesperrt ist, kommen wa nich mehr durch de Wiesen. Wegen jedem Mist musste jetzt `nen großen Bogen machen. Und die Jemeinde hat keen Jeld für `ne neue. Sind keene juten Zeiten.“ Karl-Heinz Manzke fährt in einem geländegängigen roten Pick-up vor. Er war noch in Bralitz bei einem Bauern, der Futtermais für ihn anbaut. Die Wildschweine lassen es sich im Mais gut gehen, die Jäger kriegen sie nicht heraus, der Bauer will den Schlag abernten, um die gefräßigen Schweine loszuwerden, aber der Mais ist noch nicht so weit. „Sollen die Jagdpächter den Ausfall zahlen, wenn sie nicht genug schießen“, meint Manzke. Im Büro greift er sofort zum Telefon auf dem papiergefüllten Schreibtisch und deutet mit der anderen Hand an, ich solle mich setzen. „Der Mais muss mindestens noch ein, zwei Wochen stehen. Dann müssen sie die Wildschweine da rausholen.. Der hat noch nicht den Energiegehalt. Aber wozu erzähle ich dir das, du bist doch mein Berater. Kümmere dich mal drum.“ Nachdem er aufgelegt hat, setzt er sich mit an den Tisch. „Wir sind auf den Mais als Futterzusatz in den Wintermonaten angewiesen. Heu und Silage machen wir zu 90% selber. Und sie wollen was über uns schreiben, na dann mal los.“ Die Beweidung der Magerrasen an den Hängen des Choriner Endmoränenbogens erhält den offenen Charakter der Landschaft. „Na dann mal los.“ Karl-Heinz Manzke, Geschäftsführer der Weidewirtschaft Liepe eG. 12 Der Betrieb und sein Leiter Karl-Heinz Manzke ist seit der Gründung der Weidewirtschaft - Liepe eG im August 1991 Geschäftsführer der Genossenschaft. Bis Anfang 2004 führte er auch die Geschäfte des Tochterunternehmens der Genossenschaft, der 1998 gegründeten Weidefleisch-Liepe GmbH. Die Geschicke der hauseigenen Fleischerei und die Vermarktung ihrer Produkte liegt auch heute in seinen Händen, die GmbH wurde aber nach 6 Jahren am Markt wieder in die Genossenschaft zurückgeführt. Manzke, Jahrgang 58, ist auf Rügen aufgewachsen. Nach Liepe führte ihn seine Frau, die er 1986 heiratete. Arbeit fand der Agraringenieur bei der LPG Oderberg. Er übernahm die Leitung des Betriebsteils Färsenproduktion in Liepe. 25 Mitarbeiter waren damals in der Rinderaufzucht beschäftigt. Die Kälber bezog man von den Betrieben der Kooperation in Parstein, Lunow, Lüdersdorf oder Brodowin. Gestützt auf eine intensive Gründlandwirtschaft wurden die Tiere aufgezogen und als tragende Färsen für die Milchproduktion weiterverkauft. Nach der Wende brach der Absatz ein und der Betriebsteil der LPG Oderberg in Liepe stand vor dem Aus. Vor die Wahl gestellt, in die Die Weidewirtschaft Liepe e G Die „Lieper Landschaftswiesen“ im Naturschutzgebiet „Niederoderbruch“. Melioration und nachfolgende Grünlandwirtschaft haben diese Landschaft geprägt. Arbeitslosigkeit zu gehen, oder den von der Schließung bedrohten Betriebsteil in Liepe zu übernehmen, entschlossen sich Manzke und 7 Mitarbeiter für die Ausgründung einer selbstständigen Genossenschaft. Die neue Genossenschaft bot nur noch den acht Eigentümern, alle um die 30 Jahre jung, einen Arbeitsplatz. Die älteren Mitarbeiter gingen den Weg in den Vorruhestand. Die Stallanlagen und Wirtschaftsgebäude sowie die notwendige Agrartechnik wurden von der LPG Oderberg/Liepe durch Teilung übernommen. Ebenso wurden die Altkredite der LPG geteilt und dem jungen Unternehmen mit auf den Weg gegeben. Das Weideland für die knapp 500 Mutterkühe, 200 Jungrinder und 15 Deckbullen wurde gepachtet, insgesamt 650 Hektar. Ökologische Grünlandnutzung und Landschaftspflege Ein Drittel der Flächen liegt im Landschaftsschutzgebiet „Choriner Endmoränenbogen“, das zu den Entwicklungszonen des 1990 gegründeten Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin gehört. Die anderen beiden Drittel sind Teil des NSG „Niederoderbruch“, einer Pflegezone des Biosphärenreservates. Der Naturschutz verfolgt in den Wiesen der Oderniederung das Ziel, die über viele Jahrzehnte durch Beweidung und Mahd entstandene Kulturlandschaft mit ihrem Reichtum an naturnahen Lebensräumen zu erhalten. Unter diesen Voraussetzungen war abzusehen, dass eine intensive Grünlandwirtschaft auf diesen Flächen keine Zukunft haben würde. Konsequenter Weise entschied sich die Genossenschaft dafür, den Betrieb ökologisch auszurichten und die Grünlandwirtschaft zu extensivieren. „Dabei wurden wir vom Biosphärenreservat unterstützt, denn wenn die Rinder weg sind, dann gibt es hier bald auch kein Naturschutzgebiet mehr.“ Im zeitigen Frühjahr werden die Rinderherden auf die Weiden an den Südhängen des Choriner Endmoränenbogens getrieben. Hier kalben die meisten Mutterkühe und ziehen mit ihrer Milch die Kälber auf. Mit Argusaugen achten die Bullen und Leitkühe der Herden auf die Kälber. „Ab und an, meist im Mai kommen auch ein paar Touristen und wollen das Kalben beobachten. Ich kann denen nur raten, nicht auf die Koppeln zu gehen“, betont Manzke. „Durch artgerechte Weidehaltung verwildern die Tiere wieder ein Stück, prägen ihren Herdeninstinkt aus. Da weiß man nie und ehe man sich versieht, hat man es mit dem Bullen oder einer besonders fürsorglichen Mutterkuh zu tun.“ Sind die Weiden abgegrast, werden die Herden umgetrieben. Im Hochsommer wird das Futter an den Hängen knapp und die Tiere werden in die frischen Wiesen im Niederoderbruch getrieben. Hier können die Kälber in Ruhe aufwachsen. Den Winter verbringen sie dann in den Rinderställen mit Auslauf und werden mit dem Heu gefüttert, das zwei Mal im Jahr auf den Wiesen im Oderbruch gemäht wird. Da die Genossenschaft gemäß den Richtlinien des ökologischen Landbaus keine Chemie auf ihrem Grünland ausbringt, bekommen die wichtigen Nutzgräser immer stärkere Konkurrenz von Kräutern und Unkräutern und die Futterqualität lässt nach. „Der Naturschutz sieht den Artenzuwachs natürlich gern. Aber die wachsende Zahl von Giftpflanzen, wie Wasserschierling, Herbstzeitlose, schwarzer Nachtschatten, scharfer Hahnenfuß und andere, wird zunehmend zur Gefahr für die Rinder“, berichtet Manzke. Plötzliche Verendungen von Tieren auf der Weide deuten darauf hin, dass Tiere an Pflanzengiften zu Grunde gehen oder erkranken. Wenn die Vertragsnaturschutzgelder nicht rückläufig wären, könnte er beispielsweise teures Guano, einen naturverträglichen Dünger, kaufen und ausbringen, um den Boden mit Nährstoffen für die Nutzgräser anzureichern. Auch die Grünlandpflegemaßnahmen, wie Schleppen, Walzen und konsequentes Nachmähen und gezielte Nachsaat der Weideflächen verbessern den Grünlandbestand. 13 Di e W e i d e w i r tschaft Liepe eG Zum Viehumtrieb werden fast alle Mitarbeiter gebraucht, um die Herden beieinander zu halten. Voran der Pfleger der Herde, den die Tiere kennen. Da er das Geld aber nicht hat, „wird derzeit eben nur das Nötigste gemacht, und die Wiesen verunkrauten zunehmend.“ Die betriebswirtschaftliche Strategie, ökologische Landwirtschaft und Landschaftspflege zu verbinden, ging auf, weil die Landwirte neben den normalen Agrarsubventionen auch Mittel aus dem Vertragsnaturschutz erhielten. Diese werden in jüngster Zeit immer knapper, was Manzke als prekär schildert: Ohne diese Zuschüsse komme der Betrieb nicht aus, und auch die Landschaftspflege leide darunter. „Die Wiesen verbuschen, damit schwinden die Lebensräume für Storch und Kranich.“ Daher hofft er, dass mit der EUAgrar-Reform die Leistungen der Landwirte für die Landschaftspflege stärker in der Vordergrund treten und angemessen honoriert werden. „Hier fahren doch alle um ihr Leben“ Um die eigene Wirtschaftskraft der Genossenschaft zu erhöhen und so auch finanziell unabhängiger von Zuschüssen zu werden, gründete die Weidewirtschaft-Liepe eG 1998 eine Tochtergesellschaft für die Veredelung und Direktvermarktung hauseigener Rindfleischprodukte: die Weidefleisch-Liepe GmbH. Überzeugt von der besonderen Qualität der ökologisch erzeugten Rinder - über deren gut „marmoriertes, feinfasriges Fleisch“, das „kernig und herzhaft im Geschmack“ ist, Manzke ins Schwärmen gerät - wurde eine Fleischerei nebst Hofladen eingerichtet. 14 Die alten Stallanlagen aus LPG-Zeiten wurden um einen Auslaufbereich erweitert und dienen den Rindern als Winterquartier. Die Fleischerei kaufte die Tiere von der Genossenschaft, ließ sie im nahegelegenen Schlachthof von Bad Freienwalde schlachten und verarbeitete dann das Fleisch. Produziert wurde vor allem frisches Biorindfleisch, vom Kamm über Rouladen bis zum Filet, aber auch Salami und andere Rohwurstspezialitäten bis hin zu Leber- und Blutwurst, die im Glas angeboten wurden. Das für die Wurstherstellung notwendige Schweinefleisch wurde von Bauern der Region zugekauft. Die Naturgewürze, die nicht aus der Region bezogen werden konnten, mischte der Fleischermeister selbst. Um aus der nahezu perfekten Produktkette auch eine Wertschöpfungskette werden zu lassen, wurde viel Kraft in die Vermarktung der Produkte gesteckt, die das Siegel der Regionalmarke des Biosphärenreservates trugen. Kooperationen mit anderen Regionalmarkenträgern wurden eingegangen, um sie als Weiterverkäufer zu gewinnen, aber auch, um deren Produkte im eigenen Hofladen in Liepe anzubieten, damit der an Attraktivität für die Kunden gewinnen kann. Ein Verkaufswagen für Überlandtouren wurde angeschafft. In einem Supermarkt in der Kreisstadt Eberswalde eine Fleischtheke eröffnet. Kontakte zu Märkten in der Region und zu Naturkostläden in Berlin geknüpft. „Aber das alles brachte nicht den richtigen Schub“, bilanziert Manzke. „Schauen sie sich doch mal auf einem Markt um. Da stehen drei Fleischer mit ihren Wagen und vor ihnen tummelt sich ein Kunde - hier fahren doch alle um ihr Leben! Und wir haben Die Weidewirtschaft Liepe e G In Liepe geht´s um die Wurst. Was das Sortiment hergibt, wird für den Kunden arrangiert. Ein Wurstpräsent für die ganze Familie. Seit 2004 Standard: der digitale Rindercode. Die fälschungssichere Tierakte soll das Vertrauen der Kunden in die Lieper Rinderzucht weiter stärken. noch den Nachteil, dass unsere Bioprodukte teurer in der Herstellung sind.“ Die Tochtergesellschaft konnte sich auf dem Markt für Fleisch- und Wurstwaren nicht behaupten und wurde Anfang 2004 wieder in die WeidewirtschaftLiepe eG zurückgeführt. Von den ehemals sieben Angestellten der GmbH arbeiten heute noch zwei in der Genossenschaft, ein Geselle in der Fleischerei und eine Verkäuferin auf Stundenbasis für Verkaufsaktionen in Supermärkten und freitags im Hofladen, dessen Sortiment fast ausschließlich aus der eigenen Produktion stammt. Aus dem Faxgerät surrt eine Bestellung. Die Käserei Wolters ordert für ihren Regionalladen in Templin 10 Gläser Leberwurst und 10 Gläser Blutwurst. „Das sind so die Mengen, um die es sich in der Region hier dreht“, kommentiert Manzke. „Die nimmt morgen der Fahrer von Hemme-Milch mit.“ Kleinere Bestellungen werden ansonsten per Paketdienst verschickt, wird es mal mehr, fährt ein Kleintransporter die Ware aus. kunft der Fleischprodukte online penibel zurück zu verfolgen und der Betrieb setzt auf seine regionale Herkunft aus einer in Berlin gut bekannten Region. Die ökologische Rindersalami „Schorfheider Bio“ ist ein erster Schritt, die Weidewirtschaft-Liepe eG zu dem Rohwurstspezialisten der Schorfheide zu machen. „Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Produkte an den Markt, dorthin, wo die Kunden es gewohnt sind einzukaufen, in die Supermärkte. Das kann nicht jeder kleine Betrieb alleine für sich machen. Allein sind wir zu schwach.“ Über die Profilierung der hauseigenen Fleischerei verliert Manzke die Entwicklung des Hauptgeschäfts der Weidewirtschaft nicht aus den Augen. Ein zweites Schleppdach für die Lagerung des Winterfutters will er bauen und die Dachflächen für eine Solaranlage nutzen. „Aber viel wichtiger ist, dass die gesperrte Holzbrücke über die Alte Finow, beim Schöpfwerk hinten in den Wiesen nach Bralitz zu, neu gemacht wird. Jetzt müssen wir mit unserer ganzen Technik ums halbe Oderbruch fahren, um auf die Flächen vor „Schorfheider Bio“ unserer Haustür zu kommen. Das ist kein Zustand. Manzke ist sich sicher, dass es für Ökofleischwaren Aber die Gemeinde hat kein Geld, nicht mal den Eigenkontrollierter Qualität eine gute Zukunftschance gibt. anteil für die Förderung. Wir brauchen einen Weg in Die Genossenschaft erfüllt hierfür alle Voraussetzung: die Wiesen.“ Wer einmal mit dem Fahrrad zwischen der Betrieb produziert ökologisch, was der anerkannte Liepe und Bralitz beidrehen musste, weiß, wovon er spricht. Verein BIOPARK jährlich überprüft und zertifiziert. Die Rinder verfügen über eine fälschungssichere „digitale Akte“, die es jedem Kunden ermöglicht, die Her15 Di e W e i d e w i r tschaft Liepe eG Noch an der Lieper Hauptstraße und doch schon in den Wiesen. Der Wirtschaftshof der Genossenschaft ist nüchtern und funktional, nur der Hofladen setzt ein Zeichen. Geschlossene Kreisläufe nicht nur in der Rinderproduktion: Auf dem Dach der neuen Halle für das Winterfutter wird eine Solaranlage installiert werden. Der kurze Weg in die Wiesen führt über die Alte Finow. Die Sperrung der Brücke ist nicht nur für den Landwirt hinderlich. � 16 Die Fleischerei Ortlieb in Althütt e n d o r f Viele Standbeine, kein Spielbein Der Familienbetrieb der Ortliebs in Althüttendorf ist mehr als eine Fleischerei - er ist ein umfassender Arbeits- und Lebenszusammenhang Text und Fotos: Kenneth Anders Die Zeit ist knapp, für ein Foto reicht sie gerade noch. Siegfried Ortlieb vor seinem Büro in Neugrimnitz, September 2004 17 Di e F l e i s c h e rei Ortlieb in Althüttendorf Wer einen Termin mit Siegfried Ortlieb machen will, hat es nicht leicht, ihn ans Telefon zu bekommen. Er könnte im Büro seines Landwirtschaftsbetriebes sein oder draußen auf den Flächen, bei seinen Leuten oder bei den Tieren. Er könnte sich auch in einer der Fleischereifilialen in Joachimsthal oder Althüttendorf aufhalten, die von seiner Frau bzw. seiner Schwiegertochter geleitet werden. Vielleicht befindet er sich aber gerade im Bürgermeisterbüro in Althüttendorf, schaut bei seiner Tochter in der Pension vorbei (wenn die nicht hinter der Theke steht) oder er ist mit einer Lieferung unterwegs. Es sind viele Kreise zu drehen, die gerade noch beherrschbar bleiben, weil sie sich lokal überschneiden. „Wir hatten schon immer mehrere Standbeine“ resümiert er die 135-jährige Geschichte des Familienbetriebs. Will man eine Fleischerei auf dem Land betreiben, kann man sich nicht in den Laden setzen und warten, dass Kunden kommen. Man muss veredeln, kochen, anbieten- und sehr viel Zeit investieren. „Um fünf Uhr morgens geht es los, mit einer kurzen Besprechung, dann fliegen alle aus. Oft arbeiten wir bis in die Nacht. Die Anforderungen sind nur als Familie zu leisten - einem Angestellten können sie das nicht abverlangen“, resümiert Ortlieb. Aber von vorn. mit dem Handwagen beliefert - per Bestellung. Ihr Sohn Hermann zog dreißig Jahre später an den heutigen Standort in die Dorfstraße um und eröffnete hier ein neues Schlachthaus und einen Laden. Zur Kühlung sägte man winters Eisblöcke für eine ganze Saison aus dem Grimnitzsee und lagerte sie in einem Eiskeller ein. Hermann Krohn fiel 1917 im ersten Weltkrieg. Ehefrau Anna und Tochter Elli führten das Geschäft allein weiter, bis 1923 der Bauernsohn Adolf Höhr in die Familie einheiratete und es später als Meister übernahm. Noch heute ist sein Name an der Fleischerei in Althüttendorf zu lesen. Die zwanziger Jahre waren die Blüte der Berliner Wochenendausflüge ins Brandenburgische, davon profitierte auch die Fleischerei. In das hübsche Dorf am Grimnitzsee kamen die Berliner gern. Man öffnete sonntags - bis die Zeiten wieder schlechter wurden. Adolf Höhr musste in den zweiten Weltkrieg, wieder waren die Frauen auf sich gestellt. Der Krieg brachte den Mangel, in seiner Folge verschlechterten sich auch die politischen Rahmenbedingungen für eine private Fleischerei. 1966 wurde sie in eine Konsumverkaufsstelle umgewandelt. Zugleich gab es einen Generationswechsel. Der Neffe der Familie, Siegfried Ortlieb, war Bank- und Handelskaufmann und stieg erst 1968 in die örtliche Landwirtschaft ein, Kriege und andere wechselvolle Zeiten seine Frau Angelika wurde dagegen Leiterin der VerIm Jahr 1869 eröffneten Ferdinant und Wilhelmine kaufstelle. 1986 bekam sie die Möglichkeit, die FleiKrohn eine Schlächterei direkt am Grimnitzsee in scherei wieder in private Regie zu nehmen und gab sie Althüttendorf. Das Nachbardorf Neugrimnitz wurde 1990 schließlich an ihren Sohn Ralf weiter. Althüttendorf. Der Ort besticht mit seiner idyllischen Lage am Grimnitzsee - und mit seiner Nähe zur A 11. 18 Mutter und Tochter hinter der Theke: dass sie um diese Zeit schon acht Stunden auf den Beinen sind, ist ihnen nicht anzumerken. Die Fleischerei Ortlieb in Althütt e n d o r f Das „Stammhaus“ in Althüttendorf. Auf der Tafel unter dem Ladenfenster ist noch der Name des Onkels zu finden, der die Fleischerei in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts betrieb. Siegfried Ortlieb absolvierte unterdessen verschiedene Stationen des landwirtschaftlichen Berufs: Nach einer Meisterausbildung arbeitete er als Melker im Kuhstall, später in der Pflanzenproduktion. Schließlich übernahm er den Bereich Futterwirtschaft in Althüttendorf/Neugrimnitz. „Das war die schönste Zeit“ erinnert er sich heute „ich hatte viel Gestaltungsfreiheit und der Druck war nicht so groß.“ Nach der 89er Wende wurde der Betrieb in eine GmbH umgewandelt, deren Geschäftsführer Ortlieb heute ist. Die heutige Struktur Auch wenn es nicht der historischen Reihenfolge entspricht, scheint es doch logisch, mit dem Landwirtschaftsbetrieb in Neugrimnitz zu beginnen - denn hier wird das produziert, was es nachher zu verkaufen gibt. Die GmbH beschäftigt fünf Angestellte, mit denen sie knapp 600 ha Land bewirtschaftet. Die Hälfte davon ist Weideland, auf dem 250 Mutterkühe stehen. Die 150-200 Schweine sind auf mehrere Ställe verteilt, das Futter wird extensiv produziert. „Wir halten die Tiere hier noch altdeutsch“, erklärt Siegfried Ortlieb, „auf Stroh.“ Die Ställe sind weiß gekalkt und luftig - der typische Schweinestallgeruch „Wir halten die Tiere altdeutsch, auf Stroh.“ Im Neugrimnitzer Schweinestall ist es hell, luftig und freundlich. Wer meint, in einem Schweinestall müsse es riechen „wie in einem Schweinestall“, wird in den hiesigen Anlagen eines Besseren belehrt. Während in anderen Teilen der Uckermark eine erbitterte Auseinandersetzung über die Wiedereinrichtung von Großmastanlagen geführt wird, beschränkt sich der Betrieb in Neugrimnitz auf das, was der eigene Naturraum hergibt. 19 Di e F l e i s c h e rei Ortlieb in Althüttendorf fehlt fast gänzlich. In Schubkarren steht säuberlich das vorbereitete Futter für die nächste Fütterung. Einen guten Viehstall erkennt man daran, dass man sich - zumindest nach dem Ausmisten - am liebsten zu den Tieren dazulegen würde. Bei Ortlieb würde man. Ortlieb produziert alles, was bei Ortliebs über die Theke geht. Das Fleisch wird in eigener Schlachtung verarbeitet, Ralf Ortlieb hat zu diesem Zwecke eigens eine Schlachtgenehmigung erworben. In der eigenen Fleischerei wird veredelt, Wurst hergestellt, Gulasch gekocht, Spanferkel und Platten vorbereitet. Von hier aus geht es hinter die Ladentische. Die Verkaufsstelle in Althüttendorf leitet Mutter Angelika Ortlieb, in Joachimsthal steht Schwiegertochter Ines hinter der Theke. Die Pension und das kleine Fachgeschäft in Neugrimnitz werden von Tochter Annegret betreut, zudem gibt es noch einen Imbiss in der Althüttendorfer Bahnhofsstraße. Außerdem wird auf Bestellung geliefert: kalte Buffets und Platten zu Festen und sämtlichen Gelegenheiten. Schließlich betreibt Angelika Ortlieb noch ein Gasthaus in Neugrimnitz - „Zum wilden Uhu“. Es ist nicht regelmäßig geöffnet - dafür leben zu wenig Menschen im Dorf und die Gewohnheiten der Leute sind auch nicht mehr danach. Also öffnet man auf Zuruf - für Familienfeste, Treffen, Jubiläen. „Es ziehen alle an einem Strang“ Das Gasthaus „zum wilden Uhu“ wird von der Eule geschmückt: eine so unkomplizierte Aneignung von Naturschutzsymbolen würde sich wohl jedes Großschutzgebiet wünschen. Hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt sich nicht nur das Büro des Ortsbürgermeisters, sondern auch ein kleiner Festsaal. Insbesondere von den Rentnern im Dorf wird er gern genutzt. Ein Jugendklub befindet sich nebenan: „Es geht so, mit dem Lärm.“ 20 Schließlich ist Siegfried Ortlieb auch noch Ortsbürgermeister. Er macht das jetzt schon über zwölf Jahre, seit 1992 ist er im Amt. In dieser Zeit hat sich viel geändert, die Gemeinde Althüttendorf hat sich bemüht, ihren Weg stetig und ruhig zu gehen, hat saniert und erschlossen, ohne sich als Boomtown zu gebärden. Somit liegen die Karten heute gar nicht schlecht - der Ort befindet sich im Biosphärenreservat Schorfheide - Chorin, sehr nahe an der Autobahn und ebenso nahe am Grimnitzsee. Der alte Dorfkern mit seinem Holzkirchturm hat Charakter, das Land ringsum ist offen und lieblich. Das weckt das Interesse von jungen Familien, die auf dem Land leben wollen - und das vieler Berliner. Kürzlich hat das Berliner Architekturbüro Modersohn und Freiesleben, das gerade zwei Projekte am Potsdamer Platz abgeschlossen hatte, hier ein kleines Landhaus gebaut, das sich voller Respekt vor der alten Struktur in die Straßenzeile schmiegt - Spitzenarchitektur im kleinen Maßstab. Auch die Infrastruktur ist besser als die vieler anderer Dörfer - z.B. ist kürzlich ein Kindergarten in freier Trägerschaft gegründet worden. Und obwohl der Ort vom Amt Joachimsthal verwaltet wird, ist das Gemeindebüro immer noch mit einer Kraft besetzt - ein Vorteil, den nicht viele Dörfer in Brandenburg für sich verbuchen können. „Ich hab Die Fleischerei Ortlieb in Althütt e n d o r f Der Wanderweg zum Schweizerberg führt direkt durch die Flächen des Die Filiale in Joachimsthal - Bei aller Aktivität haben Ortliebs immer Neugrimnitzer Landwirtschaftsbetriebes. Hier hat man einen weiten darauf geachtet, einen überschaubaren Raum zu erschließen, der logiBlick über die glaziale Landschaft, bis hinunter zum Grimnitzsee. Nicht stisch für ein kleines Unternehmen beherrschbar bleibt. viele Landwirte integrieren die Bedürfnisse von Naherholung und Tourismus so bereitwillig in ihre Flächen. das gern gemacht, weil die Gemeindevertretung über Parteiengrenzen hinweg so aktiv war. Es herrschte immer eine große Einigkeit, dadurch haben wir viel bewegt. Es müssen eben alle an einem Strang ziehen.“ Die Familie als Ressource Die fünf aktiven Familienmitglieder der Fleischerei werden derweil von drei Angestellten unterstützt. Dieser Zahlenschlüssel sagt viel über die Überlebenskunst der Ortliebs aus - jeder muss ran. Auf diese Weise, so resümiert Vater Siegfried, sei am Jahresende eigentlich immer „etwas übrig geblieben.“ Nur in den letzten zwei Jahren habe die schlechte Konjunktur auch auf das eigene Ergebnis durchgeschlagen. „Im Moment wirtschaften wir so, dass sich der Kreis gerade schließt.“ Man hofft, dass es wieder besser wird. Auf jeden Fall ist der geschlossene Kreislauf von Produktion, Veredlung und Vertrieb keine Folge übertriebenen Ehrgeizes, sondern eine belastbare, wenn auch anstrengende wirtschaftliche Strategie. Und zugleich ein besonders prägnanter Fall regionalen Wirtschaftens. An einem Strang ziehen - das könnte auch das Lebensmotto von Siegfried Ortlieb sein. Dass das von allen Beteiligten viel abverlangt, kann man sich denken - auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Denn Visavis der Althüttendorfer Fleischerei hat Siegfried Ortlieb sich und seiner Frau ein hübsches „Altenteil“ gebaut, auf einem malerischen Wiesengrundstück. Auf denen grasen Kühe und Ziegen. Und die wirken nicht sehr gestresst. � 21 Ha u s C h o r i n Am Ufer des Amtssees umfängt einen mitunter ein Hauch romantischer Sehnsucht. 22 Haus C h o r i n „Die Natur ist unser Kapital. In Deutschland gibt es nicht noch mal so `ne Ecke.“ Vor knapp 20 Jahren entzogen sich Ulrike und Thomas Lenz dem „Werben“ der sozialistischen Einheitspartei, kehrten ihrem nun perspektivlos gewordenen Angestelltendasein in Berlin den Rücken und übernahmen das evangelische Erholungsheim Haus Chorin. Aus der damals unscheinbaren Einrichtung machten sie mit Witz und Ausdauer ein Hotel, das nicht nur in einer einmaligen Landschaft steht, sondern auch bewusst von ihr lebt. Chorin Nature Tours ist ein Angebot, für das das Hotel die Regionalmarke trägt. Text und Fotos: Lars Fischer Das Haus Chorin steht auf einem Hügel der Choriner Endmörane etwas außerhalb des Dorfes Chorin, wenige hundert Schritte vom Zisterzienserkloster entfernt. Im Winter, wenn das Laub gefallen ist, sind die roten Backsteinmauern zwischen den Bäumen zu erkennen. Im Sommer fängt der Mischwald alle Blicke ein. Selbst der Amtsee zu Füßen des Hauses ist dann kaum zu sehen. Zum See führt ein schmaler Fußweg, der an einem Steg endet. Die Geschichte des Hauses Chorin beginnt 1907. Damals ließ sich der Geologieprofessor und Mitarchitekt der Berliner U-Bahn Hans Tormin hier seinen Sommerwohnsitz bauen: Die Villa Chorin. Nach eigenen Entwürfen des Hausherrn wurde auch ein 14 Hektar großer, heute verwilderter Park mit teilweise erlese- nen Baumarten angelegt, die aus dem forstbotanischen Garten in Eberswalde besorgt wurden. Tormin verkaufte sein Anwesen 1917 an eine Musikerin. Sechs Jahre später erwarb es der „Evangelische Chorinbund“ und richtete ein Müttergenesungswerk ein. Unter der Leitung des „Chorinbundes“ wurde das Haus dann 1928 Mitglied im VCH, dem Verband Christlicher Hospize. Diesem, der sich heute Verband Christlicher Hoteliers e.V. nennt, gehört das Haus Chorin noch immer an. Nach dem zweiten Weltkrieg zogen vorübergehend Kriegsflüchtlinge in das Haus. Der Mangel an Lebensmitteln und Brennholz blieb für die Parkanlage nicht ohne Folgen; es wurden Bäume geschlagen und Nutzgärten angelegt, um sich mit dem Nötigsten selbst zu versorgen. 1949 wurde das Haus Chorin wieder 23 Ha u s C h o r i n als kirchliches Erholungs- und Tagungsheim hergerichtet und bis zum Ende der DDR als solches betrieben. Da kirchlichen Mitarbeitern die Ferienplätze des FDGB verschlossen blieben und die Kirchen nicht in öffentlichen Räumen tagen durften, war das Haus gut ausgelastet. Aber auch seit Mitte der 60er Jahre unter ständiger Beobachtung der Staatssicherheit, die in einer Villa der Nachbarschaft auch ein „Erholungsheim“ unterhielt. „Vor allem während der Tagungen mit westdeutscher Beteiligung wimmelte es im Wald von Dauerläufern und Wanderern.“ Ein „grausamer Urlaub“, den die Familie Lenz 1980 im Haus Chorin erlebte, sollte entscheidend dazu beitragen, dass Ulrike und Thomas Lenz fünf Jahre später seine Leitung übernahmen. „Die Atmosphäre empfanden wir als kalt und abweisend. Der Gang zu den Mahlzeiten glich einem Rapport. Die Kinder waren auch nicht wohl gelitten und das Haus auch baulich in keinem guten Zustand.“, erinnert sich Thomas Lenz. Der Charme früherer Jahre war wie verflogen. „Bis zu meinem zwölften Geburtstag habe ich mit den Eltern, die 1949 ihre Hochzeitsreise hier verlebten, regelmäßig die Urlaubszeit in Chorin verbracht. Das war die schönste Zeit für mich. Im Amtssee habe ich das Schwimmen gelernt, in der alten Parkanlage gespielt, die Umgebung erkundet, das Kloster.“ Die Diskrepanz zwischen den Charakteren des abweisenden Hauses und der beschwingten Landschaft gab den Lenzens einen Stich ins Herz. „Wenn wir das Haus übernehmen könnten“, dachten beide, „dann würden wir es besser machen.“ Wieder zu Hause, erzählten sie einem Verwandten, der bei der Inneren Mission arbeitete, dem damaligen Träger der evangelischen Erholungsheime, von ihrem Urlaub. Ein Gespräch mit Folgen, wie sich vier Jahre danach bei einem Telefonat mit eben jenem Verwandten herausstellen sollte. „Die Stelle der Heimleitung war vakant geworden und wenn wir immer noch wollten, sagte er, dann könnten wir Haus Chorin übernehmen.“ Das Angebot kam in einer unruhigen Zeit. Thomas Lenz, Jahrgang 52, diplomierter Maschinenbauer und Ingenieurpädagoge sollte zum technischen Direktor seines Betriebes aufsteigen. „Aber mir fehlten die 7 Gramm am Revers.“ Da er nicht bereit war, in die SED einzutreten, war seine betriebliche Karriere faktisch beendet. Ulrike Lenz, Jahrgang 53, Buchhalterin in einer Tiefbaufirma, blieb vom Werben der Einheitspartei verschont. Da sie sich konsequent von Organisationen wie dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund oder der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft fernhielt, lastete im Arbeitsalltag aber auch auf ihr ein permanenter unterschwelliger Druck und sie war „auch vom gesellschaftlichen Leben genervt“. Beide überlegten, einen Ausreiseantrag zu stellen. Auf die Stelle in Chorin haben sie sich „mehr aus Gag“ beworben, wie Lenzens sagen. „Aber dann sind wir tatsächlich genommen worden und mussten plötzlich Gäste betreuen, die Feriengestaltung übernehmen, kochen und das marode Haus wie die hinzugekommenen Ulrike und Thomas Lenz. Mit Leib und Seele leiten sie seit zwanzig Jahren das Hotel Haus Chorin. Tradition und Moderne: Im Haus Chorin ist von Zukunftsangst nichts zu spüren. 24 Haus C h o r i n Feldsteinmauer bei Arnimswalde: Tipps für Ausflugsziele, die Lust auf weitere Wanderungen machen, hat Thomas Lenz immer parat. Bungalows modernisieren. 1985 standen in den Zimmern noch Eimer unter dem Waschbecken. Der Baustoffmangel hatte überall seine Spuren hinterlassen.“ Um an Baumaterial zu kommen, griff Thomas Lenz auf nahe liegende Ressourcen zurück. Er ließ im Park einige gut gewachsene Lärchen einschlagen und im Sägewerk Schiffmühle zu Brettern verarbeiten. Nach zwei Jahren Lagerung hatten sie sich in „Goldstaub“ verwandelt, waren zu begehrten Tauschobjekten geworden, ohne die es damals oft nicht ging. Nach und nach gewann Haus Chorin jenen Charakter, den die Lenzens sich vorgestellt hatten: ein Refugium vor den Zumutungen des sozialistischen Alltags. Mit dem Ende der DDR und der absehbaren Deutschen Einheit stellte sich die Frage nach der Zukunft des Hauses. „Ein Evangelisches Erholungsheim nur für kirchliche Mitarbeiter wird es nicht mehr geben, dass war uns klar. Über ein Jugenddorf wurde nachgedacht, was sich auch wegen der Bungalows auf dem Gelände angeboten hätte. Aber dann fiel uns ein, dass Haus Chorin seit 1928 Mitglied im VCH, dem Verband christlicher Hotels, ist und es in der Gegend um Chorin kein Hotel gibt.“ Die Landschaft, da waren sich beide sicher, würde Gäste anziehen. Drei Sterne verbürgen heute dem Gast die Qualität des Hotels Haus Chorin, das als ein Tochterunternehmen der Inneren Mission des Landes Brandenburg geführt wird. Einige Bungalows sind 1996 einem modernen Hotelneubau mit 110 Betten gewichen. Das Unternehmen beschäftigt 20 Mitarbeiter und 12 Auszubildende. Tagungen und Seminare gehören noch immer zum Hauptgeschäft, aber die Zahl normaler Urlauber ist beträchtlich gewachsen, auf 60 % der Gäste. Die meisten von ihnen kommen wegen der Landschaft. „Der Choriner Buchenwald ist einmalig, den gibt‘s nicht noch mal in Deutschland. Die Natur ist unser Kapital, ist das touristische Highlight der Region. Wir müssen hier nichts Neues erfinden, es ist alles vorhanden. Hinzu kommt die Fachkompetenz der Mitarbeiter im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und im Nationalpark Unteres Odertal... Selbst vom Ruf des Ökodorfs Brodowin profitieren wir.“ Thomas und Ulrike Lenz haben eine Reihe von Angeboten entwickelt, um das Naturpotenzial der Landschaft für ihre Gäste, die zu großen Teilen aus der Mittelschicht der Gesellschaft kommen, zu erschließen und dem Haus Chorin ein eigenständiges naturtouristisches Profil zu geben. Chorin Nature Tours ist das jüngste Angebot des Hauses. Zusammen mit Fachleuten aus den Naturschutzverwaltungen wurden spezielle Naturführungen für jede Jahreszeit entwickelt, die spektakuläre Impressionen der Vogel- und Tierwelt vermitteln sollen. Ob spielende Fischotter, Biberburgen, Hirschbrunft, die dumpfen Bässe der Rohrdommel, das Trompeten der Kraniche oder jagende Seeadler: kaum ein Naturschauspiel wird ausgelassen, selbst geologische Führungen auf den Spuren der Eiszeit werden angeboten. Mit hohem Aufwand wurden die Ferienexkursionen, die auch Fachvorträge im Hotel beinhalten, in englischen ornithologischen Fachmagazinen beworben, weil man dort vor allem für die vogelkundlichen Exkursionen einen Markt sah. Bisher 25 Ha u s C h o r i n Vogelkundliche Exkursionen gehören zum touristischen Angebot des Hotels. Von Fachleuten geführt sollen spannende Beobachtungen gelingen. (Foto G. Boeck) Der Honig aus diesem Bienenwagen auf einer Streuobstwiese am Amtssee geht ans Haus Chorin. blieben die Buchungen dieser ambitionierten Programme aber noch unter den Erwartungen. Begonnen haben Lenzens die naturtouristischen Urlaubsangebote, die als Regionalmarkenprodukte anerkannt wurden, mit der Empfehlung von Wanderrouten. Unter dem Motto „Wandern ohne Gepäck“ wurden dann auch mehrtägige Touren für Wanderer und Radfahrer entwickelt, mit denen sie auf das wachsende Bedürfnis nach aktivem Urlaub reagieren. Die Gäste werden unterwegs beköstigt und ihr Gepäck zu den jeweiligen Unterkünften gebracht, an denen die Tagestouren enden, ob im Unteren Odertal, in der Schorfheide oder im Oderbruch. Ein logistisch aufwändiges Angebot, das ohne ein umfangreiches Netz von Kooperationen mit anderen Gasthäusern und Herbergen in der Region und über sie hinaus nicht umzusetzen ist. „Die Geschäftsleute müssen an einem Strang ziehen und gemeinsame Qualitätskriterien, was Unterkunft, Gastronomie und Service anbelangt, erfüllen, dann kommt für alle was raus. Und wer die nicht erfüllt - und es kommt eben doch vor, dass Gäste sich zu Recht beschweren oder anrufen, weil sie lieber doch hier im Hotel übernachten wollen - der muss dann eben wieder rausfliegen. Diese Freiheit der Entscheidung braucht man.“ Thomas Lenz hat die Erfahrung gemacht, dass man die Gäste nicht festhalten kann. „Das ist in einer Landschaft nicht möglich, schließlich wollen sie ja die gerade genießen. Aber das haben viele in der Region noch nicht begriffen.“ Thomas Lenz stattet seine Gäste lieber mit qualitativ guten Tipps aus, was Essen, Trinken und Sehenswürdigkeiten angeht. Er setzt darauf, „die Neugier der Gäste für die Landschaft zu wecken und ihnen beim Abschied zu sagen, was sie alles noch nicht gesehen haben“. Die Ausrichtung auf hochwertige Freizeitangebote, die Natur und Landschaft in den Mittelpunkt rücken, führte auch zu Konsequenzen im alltäglichen Hotelbetrieb. In die Umsetzung hoher Umweltstandards im Haus wurde viel investiert. „Es gibt Spielregeln, die wir, aber auch die meisten Gäste akzeptieren - und deshalb kommen sie wieder. Die Butter kann da eben auch nicht in Plastiknäpfchen auf den Tisch kommen.“ Die Region kommt auch in der Küche auf den Tisch. Gut ein Drittel dessen, was in der Hotelküche verbraucht wird, stammt von Direkterzeugern aus der Region - Milch, Frischkäse, Honig, Rindfleisch, Wurst, Fisch, Bier, Saft, Eier, Kartoffeln, Senf, Gemüse bis hin zum Spargel. Nicht alle produzieren nach den Qualitätskriterien der Regionalmarke des Biosphärenreservates, aber es reicht, um einige Gerichte auf der Speisekarte mit dem Herkunftssiegel zu versehen. „Durch die Kennzeichnung von Produkten und Dienstleistungen mit der Regionalmarke Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin“, steht auf der Karte zu lesen, „wollen wir etwas für uns und Sie tun! Für uns, indem wir mit dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen aus dem Biosphärenreservat das Wirtschaften und damit das Leben in der Region attraktiver machen. Und für Sie, denn mit der Marke garantieren wir: Unsere Produkte wurden im Biosphärenreservat oder den angrenzenden Siedlungsgebieten umweltgerecht hergestellt. Die Rohstoffe kommen überwiegend aus dem Biosphärenreservat. Essen und Trinken mit der Regionalmarke bedeutet Genuss, denn kurze Transportwege innerhalb des Biosphärenreservates sichern, dass die Rohstoffe frisch verarbeitet werden.“ 26 Haus C h o r i n 11 von 32: Das Hotel ist einer der „großen“ Arbeitgeber in der Gemeinde. Einmal im Jahr ist Azubitag, dann übernehmen die Lehrlinge die Regie im Haus. Das Hotel Haus Chorin war mit dabei, als das Projekt Regionalmarke 1998 mit 30 Betrieben im Biosphärenreservat etabliert wurde. Auch wenn sich die Hoffnungen einiger Betriebe, vor allem was die Vermarktung ihrer Produkte anbelangt, noch nicht erfüllt haben, so Thomas Lenz, sind doch für ihn einige dauerhafte Kooperationen entstanden. Der Gast wird, wo es möglich und angebracht ist, auch dezent darauf hingewiesen, zum Beispiel mit kleinen Schildern am Frühstücksbuffet auf denen man etwas über die Molkerei Hemmemilch oder über die Mosterei Klimmek erfährt. „Die Regionalmarken werden von den Gästen bewusst wahrgenommen und sind aus dem Profil unseres Hauses nicht mehr wegzudenken. Die Produkte der Landschaft gehören dazu, wenn man von der Landschaft leben will.“ Thomas Lenz nimmt dafür den organisatorischen Mehraufwand in Kauf, da er mit jedem Produzenten einzeln verhandeln muss. „Hier fehlt es noch an pfiffigen Lösungen. Eine Telefonnummer, die man wählt, wenn man was braucht, das wäre optimal.“ Aber der Einsatz von Regionalprodukten hat auch seine Grenzen: „Nur uckermärkische Küche, da würden mir die Gäste weglaufen. Die möchten eher einen Mix aus regionalen und mediterranen Gerichten.“ Honig spielt in der Küche des Hauses eine besondere Rolle. Mitte der 90er Jahre unterschieden sich die gastronomischen Angebote rund um den Amtssee „durch 10 Pfennige mehr oder weniger auf der Speisekarte. Alle boten fast die gleichen Gerichte an, Wild, Geflügel etc. Wir begannen nach Möglichkeiten zu suchen, um uns zu profilieren. Da kamen wir auf den Honig. Die Köchin hat viel überlegt und ausprobiert. Regelrechtes Probekochen haben wir hier veranstaltet. Und dann die gefundenen Rezepte vorsichtig bei den Gästen des Hotels getestet. Spear ribs in Honigkruste oder Kassler…“ Herausgekommen ist die Immenstube, ein Spezialitätenrestaurant für Honiggerichte, das in der alten Villa Chorin eingerichtet wurde. Imkerutensilien vom Beutekasten bis zur Honigschleuder wurden besorgt, und im Gastraum arrangiert, kleine Schautafeln über Bienen produziert, über ihre Biologie, den Aufbau der Völker, ihre symbolische Bedeutung in Kultur und Kunst, über ihre Zucht und die Imkerei. Ein passendes Farbkonzept für die Räume wurde entwickelt. Selbst ein Bienenwagen wurde eigens in die Nähe des Hotels gezogen, nicht nur der Werbung wegen. Er beherbergt einige der 120 Bienenvölker, deren Honig das Haus Chorin von verschiedenen Bienenhaltern aufkauft. „Selbstverständlich müssen sich alle viel mit Honig befassen, um die Gäste beraten zu können. Die Azubis bekommen als erstes die Aufgabe, eine kleine Arbeit über Honig oder Bienen zu verfassen. Die liegen im Gastraum aus und können eingesehen werden. Dann gibt es Azubi - Projekte, in denen sie herausfinden sollen, was man noch alles mit Honig machen kann.“ Vielleicht kann man eine Landschaft ja auch schmecken? � Im Restaurant „Immenstube“ werden aus Honig, Fisch und Fleisch der Region Köstlichkeiten gezaubert und Honigprodukte angeboten. 27 Di e S A G G r o ß Schönebeck Thaers Erben in Groß Schönebeck Die Schorfheider Agrar-GmbH und ihr Geschäftsführer Reinhard Gottschalk bemühen sich um regionale Verantwortung und agrarische Vernunft. Für die Direktvermarktung ihrer Speisekartoffeln erhielten sie die Regionalmarke des Biosphärenreservates. Text und Fotos: Kenneth Anders Kartoffelacker der SAG in der Nähe von Groß Schönebeck. Die Pflanzen stehen in voller Blüte. 2004 war ein gutes Kartoffeljahr, in dem die Pflanzen kaum von Schädlingen heimgesucht wurden. 28 Die SAG Groß Schö n e b e c k Steckbrief: Reinhard Gottschalk wurde 1947 in Stolzenhagen bei Wandlitz auf einem Bauernhof geboren. Er besuchte zehn Jahre die Schule und trat dann als Landarbeiter in eine LPG ein, wo er sich über die Erwachsenenqualifizierung zum Facharbeiter und anschließend mit drei Jahren Fachschule zum staatlich geprüften Landwirt qualifizierte. Anschließend nahm er verschiedene Leitungsfunktionen in der LPG Stolzenhagen wahr, um in den Jahren 1974-76 sein Diplom an der Fachhochschule für Landwirtschaft in Meißen zu absolvieren. Es folgten fünf Jahre als Produktionsleiter in Klosterfelde, seit 1981 war Gottschalk Vorsitzender der LPG Groß Schönebeck, die er seit ihrer Umwandlung in eine GmbH als Geschäftsführer leitet. Der Betrieb Die Schorfheider Agrar-GmbH (SAG) bewirtschaftet ca. 2500 ha landwirtschaftliche Nutzflächen überwiegend südlich von Groß Schönebeck. Davon sind 2000 ha dem Ackerbau vorbehalten (Roggen, Winter- und Sommergerste, Hafer, Weizen, Raps, Erbsen, Mais und Speisekartoffeln). 500 ha werden als Grünland genutzt: auf den Weiden stehen 500 Mutterkühe, in der Bullenmast hält die SAG 1500 Tiere. Die Böden sind mit einer Ackerzahl von 23 sehr arm, viele Standorte sind grundwasserfern. Reinhard Gottschalk vor seinem Büro in der SAG, August 2004. Die SAG beschäftigt 23 Angestellte: vier in der Tierproduktion, zwei in der Werkstatt, vier in Leitung und Verwaltung, dreizehn in der Feldwirtschaft. Hinzu kommt ein Lehrling pro Lehrjahr. Bewegte Zeiten Umbrüche und Neustrukturierungen kennen die Groß Schönebecker Landwirte nicht erst seit 1989. Die Kollektivierungsdynamik in der DDR brachte seit 1952 immer neue Fusionen und Teilungen: eine 1952 gegründete LPG „7. Oktober“ Groß Schönebeck umfasste nur 307 ha, die mit 46 Arbeitskräften bearbeitet wurden, in ihrer Nachbarschaft agierten zahlreiche ähnliche Gründungen. Durch immer neue Zusammenschlüsse entstand in den siebziger Jahren eine enorm ausgedehnte Kooperationsgemeinschaft, die Flächen von Groß Schönebeck bis Schönerlinde bei Berlin umfasste. Diese wurde 1980 wiederum zerschlagen - wohl nicht nur aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen, sondern auch, um dem Sicherheitsbedürfnis der benachbarten Staatsjagd Genüge zu tun: zu viele Landwirte sollten nicht befugt sein, in der Gegend zu wirtschaften. Die nunmehr verbliebene LPG Groß Schönebeck blieb im Zuschnitt seit 1981 weitgehend stabil - sieht man von einem Zukauf der Tierproduktion und der weiteren Pacht von 300 ha nach der 89 er Wende ab. Pflaumenbaum in einer Heckenpflanzung der SAG. In den nächsten Jahren will Gottschalk noch alte Apfelsorten einbringen. 29 Di e S A G G r o ß Schönebeck Rainer Dickmann ist der „Leiter Feldbau“ in der SAG - somit untersteht ihm auch die Kartoffelproduktion. Er wurde 1959 geboren und wohnt in Joachimsthal. Von 1980-85 studierte er Pflanzenproduktion an der Berliner Humboldt-Universität, seit 1989 arbeitet er hier in Groß Schönebeck. Wenn es ginge, würde Dickmann an mehreren Orten zugleich präsent sein - er wird ununterbrochen angerufen und ruft an, bringt Ersatzteile zu den Fahrern auf die Felder, koordiniert Bestellung, Saat, Ernte und Futterlagerung ebenso wie die Rodung der Kartoffeln, ihre Sortierung und Auslieferung Unvorhergesehenes inklusive. Außerdem wird mit verschiedenen Bodenbearbeitungstechniken probiert - wer denkt, die Praxis des Feldbaus sei „eingefahren“ und auf immer optimiert, irrt sich jeder Boden, jede Kultur verlangt das Experiment und die steigenden Kraftstoffpreise verlangen es auch. Der Koordinationsaufwand in einer modernen Landwirtschaft ist extrem hoch, die Abläufe sind komplex und meistens muss unter Zeitdruck reagiert und entschieden werden. Das schlage manchmal auch aufs Gemüt: „Gottschalk, unsere Prokuristin und ich, wir haben alle keine Gallenblase mehr.“ Durch diese Erweiterung sei man in die Lage gekommen, den Stoffkreislauf so weit wie möglich wieder zu schließen. Der Betrieb bemüht sich, „die alten Gesetze der Fruchtfolge“ zu beachten - der große preußische Agrarreformer Albrecht Daniel Thaer ist für Gottschalk eine unverzichtbare Orientierung in den Fährnissen der modernen Landwirtschaft. Es scheint, als kämen die bewirtschafteten Flächen um Groß Schönebeck nach Jahrzehnten administrativer und wirtschaftlicher Turbulenzen allmählich in ein ruhigeres Fahrwasser. Was für die Erde gilt, trifft aber auf die Menschen noch nicht zu. Die LPG hatte 65 Arbeitskräfte; nur ein gutes Drittel fand unter den neuen Bedingungen noch ein Auskommen. Um den Übergang so sanft wie möglich zu gestalten, schickte man die Leute ab 55 Jahren in den Vorruhestand und entließ die jungen; darauf bauend, dass diese leichter eine neue Arbeit finden können. Heute fehlt dieses Altersspektrum dem Betrieb und es ist schwierig, junge und qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Selbst die eigens ausgebildeten Lehrlinge bleiben nicht immer am Ort und tun sich in anderen Regionen um. Die SAG bemüht sich deshalb, ein relativ hohes Lohnniveau zu garantieren - gemessen an den Löhnen, die in der deutschen Landwirtschaft gezahlt werden, rangiert sie im vorderen Mittelfeld. 30 Umfeldarbeit Die SAG gehört zu den großen Landnutzern der Region und trägt maßgeblich zu ihrem Erscheinungsbild bei. Wer mit dem Auto die B 109 nach Groß Schönebeck oder die quer verlaufende B 167 befährt, sieht zahlreiche Spuren davon - Felder, die von Wald gesäumt werden, sind der dominierende Eindruck. Im Herbst sind sie mit großen Strohquadern bestückt wie in einer Kunstaktion. Was die Landwirte auch tun: es wird unter freiem Himmel als Veränderung der Landschaft erfahrbar. So hat die Umwandlung von Acker in gezäuntes Weideland das Gesicht der Landschaft in den letzten Jahren sehr verändert. Schwere, originell eingesetzte Betonelemente halten die großen Gatter. Die schönen Mutterkühe mit ihren Kälbern prägen maßgeblich das ländliche Lebensgefühl. Gottschalk sieht das Nützliche mit dem Schönen vereint: durch die Weidehaltung spart der Betrieb die aufwändige Futterernte und gewährleistet einen sehr geringen Keimdruck auf die Tiere - das UV-Licht des freien Himmels hat einen desinfizierenden Effekt und erspart ihm manche veterinärmedizinische Sorge. Zugleich gefällt auch ihm der Anblick der kräftigen Tiere und der Strukturen, die sie in der Landschaft durch Tritt und Fraß verursachen. Einem Betrieb, der aus einer LPG hervorgegangen ist, ist das eigene Umfeld nicht fremd - bis vor weni- Die SAG Groß Schö n e b e c k gen Jahren waren die Ortschaften eng an das Schicksal ihrer landwirtschaftlichen Betriebe gebunden. Die LPG ernährte nicht nur einen großen Teil der Anwohner, sie war auch für viele Elemente der Infrastruktur und Landschaftspflege verantwortlich: Brücken, Ärztehäuser, Kindergärten und Feuerwehrgebäude wurden meist von den Genossenschaften errichtet und unterhalten. Aus diesen Verpflichtungen resultieren noch heute Altschulden und somit ein drastisches Liquiditätsproblem, das die SAG bei dringend notwendigen Investitionen bremst, vor allem beim Bodenerwerb. Diese Lage findet man bei zahlreichen ehemaligen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und sie hat viele dieser Unternehmen dazu bewegt, sich radikal aus ihrer lokalen Verantwortung zu lösen. Als Betrieb, der wie andere am Markt überleben muss, so meinen viele, hat man diese soziale Komponente bereits in der Vergangenheit erfüllt - und zahlt noch heute dafür. Außerdem gibt man immer noch einigen Menschen in der Region Arbeit - darüber hinaus gehendes Engagement scheint naiv. Die SAG hat sich zu einem anderen Herangehen entschieden. Die „Umfeldarbeit“, resümiert Gottschalk, sei nicht nur eine Reminiszenz an die eigene Verwurzelung in der Gegend, sie sei auch aus sachlichen Erwägungen von Belang. Würde die Region nicht attraktiv, hätte sein Unternehmen langfristig schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt und in der lokalen Akzeptanz. Deshalb unterstütze man die Feuerwehr und engagiere sich in der kommunalen Selbstverwaltung. Gottschalk saß zwei Legislaturperioden lang im Kreistag und ist immer noch kommunal engagiert. Als Mitglied im Landschaftspflegeverband „Uckermark-Schorfheide“ hat die SAG in den letzten zehn Jahren alte Schlagstrukturen wieder eingerichtet und Hecken gepflanzt. Dies nütze dem Betrieb durch die Erosionsminderung bei den sandigen Böden, diene aber auch der Ökologie und nicht zuletzt der landschaftlichen Attraktivität der Gegend. Es macht zudem die Identität des Betriebes aus: bereits vor 1989 nahmen die Groß Schönebecker Landwirte feuchte Senken aus der Nutzung, wandelten sie in Wildäcker um und legten gemeinsam mit den Förstern der zuständigen Reviere Teiche an. Andere Standorte, die melioriert und nutzbar gemacht wurden, behielten hin und wieder prägende Elemente, die den Treckern eigentlich im Weg waren. Heute freut sich Gottschalk an dem, was gewachsen ist: die Teiche schmiegen sich in ihre Vegetationsgürtel, als seien sie von der Natur geschaffen worden, und die stehen gelassene Eiche mitten im Acker dankt die Rücksicht mit ihrer schönen Erscheinung und mit freundlichem Schatten. Die Hecken sind inzwischen dicht und urwüchsig - Bäumchen halbwilder Pflaumensorten laden mit ihren gelben und roten Früchten zur Pause ein. Gottschalk will sie in den nächsten Jahren durch weitere Obstgehölze ergänzen; Kornäpfel, die zur Ernte schon reif sind, so dass die Fahrer nur danach zu greifen brauchen. Von der SAG gemeinsam mit der Forst angelegter Teich in einer Senke. Nach einigen Jahren legt sich das Gewässer mit Gehölzen umflort in die Senke, als sei es schon immer hier gewesen. Mutterkuhhaltung bei Klandorf - die Weidehaltung ist ökonomisch sinnvoll und gibt der Landschaft Gesicht. 31 Di e S A G G r o ß Schönebeck Die Kartoffel Kartoffelacker bei Groß Schönebeck, kurz vor der Rodung. Der Anteil der Kartoffel an der Produktion der SAG ist über Jahre gesunken und hat sich erst in den letzten Jahren auf ein optimales Niveau eingepegelt. Die alte Technik wird weiter genutzt. Dickmann sucht mit Gespür für die Mentalität seiner potentiellen Käufer immer noch nach zusätzlichen Vertriebsmöglichkeiten und wird dabei auch fündig - z.B. steht inzwischen auch ein Kartoffelwagen an einem Eberswalder Baumarkt. „Hier kommen Leute hin, die einkellern können.“ Gehen die Bestände an einem Verkaufsort zur Neige, genügt ein Anruf, und die SAG liefert nach. Obwohl das Interesse der Kunden über die Jahre gewachsen ist und der Absatz Mut macht, rechnet auch Dickmann nicht mit einer deutlichen Steigerung der Produktion: die Böden sind zu arm, was nicht in der schnellen Direktvermarktung abzusetzen ist, ist in den großen Vertriebsnetzen nicht ökonomisch sinnvoll zu vertreiben. Die Vertriebsphase wird sehr intensiv betrieben und ist klar begrenzt: nach drei bis vier Wochen ist Schluss, eingelagert wird nicht. Typisch für die SAG ist die Klarheit, mit der sie ihre Spielräume erkennt, nutzt und begrenzt. Wenn die Kartoffelsaison Ende September beginnt, ist auf dem Hof der SAG viel los: in schnellem Takt rollen Kunden auf den Hof und lassen sich sackweise den Anhänger oder Kofferraum beladen. 2004 war ein gutes Kartoffeljahr. Dickmann: „Dem Azubi schärfe ich ein: Du verkaufst hier nicht nur Kartoffeln, sondern auch deinen und unseren Namen!“ Die Direktvermarktung ist Ergebnis jahrelanger Aufbauarbeit. „Die Kartoffeln sind ein Bindeglied zwischen uns und den Leuten hier.“ 32 Vor 1989 bauten die Groß Schönebecker Landwirte auf 230 ha Kartoffeln an, die in Klosterfelde gelagert wurden - diese Produktion brach nach der Wende rasch zusammen. Die schwachen Böden erlauben keine Konkurrenz mit den Zulieferern der großen Vertreiber. Sollte die Kartoffel auch weiterhin zum Produktionsspektrum der SAG gehören, musste man sich eine Alternative suchen: die Direktvermarktung. Das Prinzip ist denkbar einfach. Über Postwurfkarten können die Einwohner von Groß Schönebeck ihre Kartoffeln bestellen - ab 50 kg wird für 1,50 € geliefert. Wer will, kann auch selbst auf den Hof kommen und sich die Kartoffeln dort abholen, was viele gern in Anspruch nehmen, die die Erdäpfel von weiter her beziehen - das hat zugleich den Reiz der Authentizität. Manche Berliner fragen ungläubig: „Machen sie die selbst?“ und schicken am nächsten Tag noch ihre Freunde vorbei. Verschiedene Kunden - etwa die Fleischerei Ortlieb aus Althüttendorf - geben Großbestellungen für den eigenen Familienbedarf und den ihrer Angestellten auf, die die Kartoffeln gern einkellern. Die älteren Leute wissen noch, wie man eine Miete im Garten anlegt, so dass die Kartoffeln nach dem Winter wie frisch gerodet genossen werden können. Dieser Kundenkreis schrumpft und wird sukzessive durch Kunden aus den Städten, vor allem aus Berlin ersetzt. Außerdem stehen an zwei Tankstellen in Groß Schönebeck und Joachimsthal Kartoffelwagen - wer beim Tanken daran vorbeikommt, packt sich gern einen 25-kg-Sack ein und bezahlt beim Tankwart. Kleinteilige Vertriebsformen schließen sich an: der Fischer am Werbellinsee, der Biohofladen in Wandlitz vertreiben Kartoffeln der SAG. „Das geht aber nur im Agrarbereich“ resümiert Gottschalk, „im Handel kriegen sie ja alles vorgeschrieben, mit denen hat es keinen Zweck.“ Auf Märkten wie dem Hirschfest in Groß Schönebeck oder an der Blumberger Mühle verkaufe man auch, allerdings diene dies mehr der Öffentlichkeitsarbeit: „Wenn die Leute nicht darauf vorbereitet sind und keine Folie im Kofferraum haben, fürchten sie den rieselnden Sand und kaufen lieber nicht.“ Auf diese Weise setzt die SAG jedes Jahr immerhin 3000 Doppelzentner ab- verkauft wird, bis die Kartoffeln alle sind. Nach sechs Wochen - also ca. am 15. Oktober „ist alles raus.“ Der Ablauf ist saisonbedingt: beim Roden sind sieben bis acht Leute beschäftigt, die Auslieferung übernimmt ein anderer Angestellter, etwa der Schlosser, der sich nach Feierabend einen kleinen LKW mit Kartoffelsäcken belädt und sie im Ort verteilt. Die SAG Groß Schö n e b e c k Verändert haben sich auch die Sorten, was mit wechselnden Ernährungsgewohnheiten zusammenhängt. Das Ideal der mehlig kochenden Kartoffel hat Risse bekommen - man muss sie mit Sorgfalt und genauem Timing zubereiten, damit sie nicht zerfallen. Die mehlige Likaria hat deshalb bereits zur Hälfte der vorwiegend festkochenden Satina Platz machen müssen, die etwas einfacher zu kochen ist. Diese schlichte und effektive Form der Direktvermarktung lässt das Herz vieler Anhänger nachhaltigen Wirtschaftens höher schlagen: Kartoffeln aus der Region, so viel der Boden eben hergibt und es im Ensemble der anderen Feldfrüchte wirtschaftlich vernünftig ist. Allerdings setzt dieses Prinzip der regionalen Wertschöpfung auch Grenzen: Die regionale Gastronomie (etwa das Haus Chorin) benötigt ganzjährig konstante Lieferungen, für die die SAG keine geeigneten Lagerkapazitäten hat. Bei dem geringen Produktionsumfang wäre eine solche Investition auch nicht sinnvoll. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist der Produktionsumfang ein Optimum: wäre es weniger, würde es sich nicht mehr lohnen, sollte es mehr werden, müsste man überproportional investieren. Im Ausblick ist Gottschalk dennoch optimistisch - und ein bisschen stolz auf die Kartoffelstrecke, denn sie deckt vieles zugleich ab: sie ist Einnahmequelle, ein Stück Imagepflege für den Betrieb und die Region und sie schafft Schnittmengen zwischen der SAG, den Kunden und den anderen Betrieben in der Region. Und wer weiß, wie es noch kommt: „Je teurer die Treibstoffe werden, um so mehr gewinnt die regionale Produktion an Bedeutung.“ Wo er Recht hat, hat er Recht! � Verkaufshänger an der Schönebecker Tankstelle - Interessenten zahlen ganz normal an der Kasse und laden sich dann den Sack in den Kofferraum. Wer den Hänger bei sich aufstellen lässt und für die SAG kassiert, bekommt 20 Prozent des Erlöses. Bei der Sortierung ist ein geübter Blick vonnöten: angeschlagene, schorfige oder grüne Kartoffeln werden aussortiert und verfüttert. Die Böden um Groß Schönebeck sind voller Steine, die die Kartoffeln quetschen und schaben, so dass diese aussortiert werden müssen - es werden nicht weniger. Dickmann: „Die Steine wachsen von unten hoch“. Die Investition in eine Entsteinungsmaschine würde sich nicht rechnen. Bestellkarte für Kartoffeln der SAG. Viele Kunden sagen: „Wir wollen wieder die Kartoffeln, die wir letztes Jahr hatten.“ An den Sortennamen können sie sich indes oft nicht erinnern. 33 Di e I m k e r e i Lange in Klosterfelde „Wir brauchen die Natur, nicht die Natur uns.“ Blühende Landschaften sieht Horst Lange nur noch selten. Sein Blick fällt auf kurz geschorene Rasen ohne Blüte, auf kahle Feldraine, Monokulturen und zurechtgestutzte Bäume. In einer steriler werdenden Landschaft als Wanderimkerei ein Auskommen zu finden, „das geht nur in Familie, für einen Mitarbeiter bleibt da nichts übrig.“ Text und Fotos: Lars Fischer Jetzt, im Herbst, steht das große Grundstück der Familie Lange in Klosterfelde voll von ihren Bienenwagen. Inmitten der Wagenburg steht ihr Haus. Die Wanderzeit, in der Horst Lange mit seinen Wagen der wechselnden Blütentracht durch den Barnim, die Schorfheide und hoch bis in die Uckermark folgt, ist vorbei. Einige sind schon winterfest gemacht, die Reifen und die Zuggabel sind abgedeckt, die Beutenkästen, in denen die Bienen überwintern, mit Filzmatten geschützt. Die Waben in der letzten „Beute“ des Jahres sind geschleudert, der Honig ist fertig fürs Abfüllen. Zeit, die Wagen wieder auf Vordermann zu bringen. Einer steht schon eingerüstet für eine fällige Generalüberholung. Die 150 Bienenvölker der Imkerei werden auch langsam ruhiger. Vereinzelt fliegen noch Tiere zu den Wassertränken, landen auf kleinen Styroporflößen, die ihnen das Trinken erleichtern sollen. „Die Bienen mögen kleine Tümpel, am besten mit Entengrütze drauf.“ Eine Wespe, an ihrer schmalen Taille deutlich zu erkennen, schnippst Gertraud Lange mit dem Mittelfinger fort. Die hat hier nichts zu suchen. Einige 34 Bienen sind „verklamt“ von der nasskalten Witterung, haben keine Energie mehr für den Rückflug in ihren Stock. Sie werden verhungern. Horst Lange streicht mit der Fingerspitze seiner kräftigen Hand über eine der Bienen. Keine Regung geht mehr durch den zierlichen graubraunen Körper, an dem die Flügel kleben. „So ein Ende haben die Arbeitsbienen nicht verdient“, sagt Gertraud Lange. „Nach sechs Wochen emsiger Fliegerei haben sie sich die Flügel durchgeflogen. Die dünnen Häutchen schaffen ´s nicht mehr und dann fallen sie runter, liegen da und sterben elend. Den Bienenstaat kümmert es nicht.“ Imker, nichts anderes als Imker Horst Lange, 1934 in Klosterfelde geboren, ist mit der Imkerei aufgewachsen. Sein Vater hielt Bienen und wann immer der Sohn konnte, sah er ihm bei der Arbeit am Bienenstock zu. Mit sechs nahm er heimlich ein Bienenvolk auseinander, mit sieben fing er seinen ersten Bienenschwarm ein und mit zehn erlaubte ihm sein Vater, ein Volk selbstständig zu schleudern. Die Imkerei Lange in Kloste r f e l d e Monika, Dietmar, Horst und Gertraud Lange (v.l.n.r) ziehen in der Imkerei an einem Strang. Ihre Bienenwagen stehen im Barnim, der Schorfheide und der Uckermark. Horst und Gertraud Lange haben das Imkereigewerbe nach 25 Jahren an ihren Sohn übergeben. Nun sind sie wieder, was sie vorher waren: Bienenhalter aus Leidenschaft. 1945 verschleppten russische Soldaten den Vater. Niemand weiß wohin; er kam nicht zurück. Horst übernahm notgedrungen die acht Völker des Vaters. Er kannte die verschiedenen Bienen, konnte Arbeitsbienen von Stockbienen und die von den Ammen der Königin unterscheiden, wusste, wie die Eier aussahen und auch einiges über die Gerätschaften des Imkers, aber es gelang ihm nicht, die Völker zu halten. „Irgendwann hatte ich sie totgeimkert.“ Keiner gab ihm Tipps obwohl viele im Dorf Bienen hielten, weder der Lehrer, noch der Schmied, noch sonst jemand. Der Verlust war für die damaligen Verhältnisse kurz nach dem Krieg groß. Ein Pfund Honig brachte 365 Reichsmark, ein Volk produzierte um die 35 kg übers Jahr und ein kleines Brot kostete 30 bis 60 Reichsmark. Eine „Imkerwitwe“ bot ihm an, ihre Völker zu betreuen. Diesmal hatte er Erfolg, die Ernte war ausgezeichnet und er fasste neuen Mut. Im Winter 47 erfroren die Völker. Er fing sich herrenlose Schwärme ein. Ein aus dem Krieg zurück gekehrter Freund des Vaters, gab ihm fachliche Hilfe. Mit 13 wanderte er das erste Mal mit seinen Bienenkästen in die Schorfheide, mit 15 in die Rapsblüte. Die erträumte Imkerlehre verwehrte die Mutter und Horst Lange wurde Tischler. Dass er sein Ziel nicht aus den Augen verlor, bezeugt die Weitsicht, mit der er der Imkerei nachging: Er bepflanzte die Straße vor seinem Elternhaus mit Linden. Wohl wissend, dass die Blütentracht der Allee sich erst gut 30 Jahre später in der Honigproduktion richtig niederschlagen wird. Blüten kann es nie genug geben. Drei bis fünf Millionen Blüten müssen die Bienen anfliegen, um Nektar für ein Kilogramm Lindenhonig zu sammeln. Heute klagen viele Anwohner über das Laub der Bäume in ihren Gärten und wären froh, würden die Bäume endlich fallen. Neben der Lehre zog er sich 25 Völker. Der Beruf kam ihm dabei zustatten, viele Gerätschaften für die Bienenhaltung konnte er sich selber bauen. 1966 gab er 35 Di e I m k e r e i Lange in Klosterfelde seine Arbeit als Tischler auf und machte sich mit 100 Völkern als Imker selbstständig. Zu diesem Zeitpunkt war er 10 Jahre verheiratet. Gertraud Lange, Jahrgang 1935 und ganz in der Nähe in Ruhlsdorf aufgewachsen, arbeitete als Industriekauffrau im Holzwerk Klosterfelde. Sie war es, die ihm den ersten Wanderwagen schenkte. Vielleicht war sie es leid, bei Wind und Wetter jeden Bienenkasten einzeln auf den LKW zu laden, wenn es auf Wanderschaft ging. Und da man die Kästen nicht am Stellplatz schleudern konnte, mussten sie voll auch wieder zurück auf den Hof gebracht werden. Eine anstrengende Arbeit für alle. In den großen Bienenwagen hat man alles beieinander. Sogar schlafen kann man in ihnen, wenn einen die Bienen nicht stören. Fünf Jahre währte die Selbstständigkeit, dann entzog man ihm den Gewerbeschein. Es war die Zeit, in der die selbstständigen Handwerker in Produktionsgenossenschaften gezwungen werden sollten und obendrein wollte man seine Arbeitskraft als Tischler fürs Holzwerk. Dem entzog er sich und nahm kurzer Hand eine Stelle als Hausmeister an. Die Imkerei wurde bis 1979 wieder zum „Hobby“. Danach nie wieder. Wo Horst Lange Einfluss auf die Gestaltung der Landschaft nehmen konnte, hat er es versucht. Als Baumschutzbeauftragter hat er im Namen des Naturschutzes und der Landespflege mit seinen Baumschauen manch voreilige Baumfällung verhindert. In seiner Funktion als Gemeinderatsmitglied hat er Baumpflanzaktionen initiiert. Dabei dachte er immer auch an Blütenstaub für seine Bienen. Eine Zeit lang beriet er auch die Piloten auf dem bei Klosterfelde gelegenen Agrarflugplatz, wie sie ihre Chemikalien ausbringen können, ohne größere Versicherungsschäden zu verursachen. „Der letzte Trottel“ Horst Lange ist mit der Imkerei groß geworden. Gegen Bienenstiche ist er schon lange immun und arbeitet heute ohne Schutz an den Stöcken. 36 Die Märkte in Berlin sind für den Absatz der Imkerei unverzichtbar. Gertraud Lange und ihre Schwiegertochter stehen dreimal die Woche für 9 Stunden am Stand. Zu DDR-Zeiten gab es in den Bezirken, die heute das Land Brandenburg bilden, 150.000 Bienenvölker. Davon sind heute noch 18.000 Völker übrig geblieben. Nach 1989 überschwemmte billiger Honig die DDR. Viele kleine Imkereien blieben auf ihrer Ernte sitzen und „gingen baden“. Auch der Imkerei Lange blieben die Kunden weg, aber aufgegeben wurde nicht. Zusatzgewerbe hielten den Betrieb über Wasser. Neben der Imkerei fuhr Horst Lange Kurierdienste, trug Zeitungen aus. „Der einzige Trottel hier in der Region, der mit seinem Imkereibetrieb übrig geblieben war“, bemerkt Horst Lange, „war wohl ich“. „Was sollten wir denn machen?“ fügt seine Frau, Gertraud Lange hinzu, „Das war unser Betrieb. Wir mussten ja durchhalten. Und irgendwann haben wir auch Erfolg, dachten wir. Und das kam dann ja auch so.“ Seine Frau Gertraud war kurz nach der Wende in den Vorruhestand gegangen. Das war eine Entscheidung für die gemeinsame Imkerei und gegen den wachsenden Konkurrenzdruck bei ihrem Arbeitgeber. Sie übernahm den Verkauf und die Vermarktung des Honigs. Schon zu DDR-Zeiten hatte sie den staatlichen Honigaufkauf in der Region organisiert und wusste, worauf sie sich einließ. Sie baute Kontakte zu Marktbetreibern auf, nahm weitere Honigprodukte wie Met, Seifen, Kosmetik und Kerzen etc. ins Sortiment, besetzte wochentags die Stände, suchte Wiederverkäufer für ihre Honigprodukte in der Region, die sie in einigen Bäckereien fand. Und nebenbei musste der Honig geschleudert und abgefüllt werden. Ohne die Märkte, vor allem die in Berlin, würde der ganze Betrieb nicht funktionieren. Ihre gesamte Honigproduktion an eine Handelskette zu geben, haben Die Imkerei Lange in Kloste r f e l d e Die großen Bienenwagen sind mit einem Schlaf- und Arbeitsraum aus- Kurze Wege zum Wasserholen für die Arbeitsbienen. Bienentränken gestattet. Auf Wanderschaft kommt es öfter vor, dass Horst Lange auf sind auf dem Hof unverzichtbar. der Pritsche bei den Bienen schläft. Langes nicht versucht. „Das bringt auch keine sichere Zukunft. Die kündigen und dann stehen wir wieder bei Null da.“ Sie wollen auch nicht zu Lasten der treuen Kunden, die ihnen seit Jahren den Honig vom Hof oder auf den Wochenmärkten abnehmen, anonyme Großhändler beliefern. Am besten läuft jener Stand am Wittenbergplatz, in der Nähe vom Kaufhaus des Westens. Hier haben die Leute einfach mehr Geld in der Tasche und es wird alles gekauft: Löwenzahn mit Baumblüte, Raps, Robinie, Kornblume, Weißklee, Linde, Heidehonig. Selbst der teure Waldheidehonig geht hier. „Manchmal kommen auch Berliner Kunden nach Klosterfelde und sind überrascht, dass wir hier wirklich Bienen haben und nicht nur ein Lager mit Honigprodukten.“ Dennoch: bei 250 € Tageseinnahmen bleibt für einen Angestellten nichts über. Die Schwiegertochter hilft aus, wenn es nötig ist, wie der Sohn dem Vater beim Schleudern der Waben in den Wagen hilft. Die Langes haben es geschafft, sie können von ihrer Imkerei, die ca. 7 t Honig im Jahr erntet, bescheiden leben, nicht mehr, aber auch nicht weniger. „Irgendwann wird man müde.“ Gertraud und Horst Lange „sind froh, dass sie alt sind“. Die Imkerei hat ihr Leben bestimmt und sie möchten nicht auch noch das Ende vom Niedergang des traditionellen Imkereigewerbes miterleben müssen, dessen Zeugen sie die letzten Jahre gewesen sind. Den Betrieb hat zwar im Sommer der Sohn übernommen, aber ob er von ihm auf Dauer wird leben können? Die Langes heben die Schultern. „In seinem Beruf als Tischler würde er besser dastehen. Wenn ´s doch keine Arbeit gibt in der Gegend, was soll er denn machen?“ Dem Imkergewerbe fehle aber nicht nur der Nachwuchs, das Durchschnittsalter der Imker liegt um die 60, sondern auch die Lobby. „Die Minister“, wirft Gertraud Lange ein, „gucken sich auf den landwirtschaftlichen Messen jeden Mist an, aber an den Imkern gehen sie vorbei.“ Schlimmer sei für ihn, dass die Landschaft immer steriler wird. „Kaum dass mal ´ne Buttermilchstaude hochkommt, schon geht man mit der Spritzbrühe drüber. Weil das Laub von den Bäumen stört, werden sie verstümmelt oder ganz runter gehauen. Kein Rasen, auf dem noch Klee blüht, Löwenzahn oder Gänseblümchen. Wird alles kurz geschoren.“ 37 Di e I m k e r e i Lange in Klosterfelde So kommt für Horst Lange eins zum andern. „Viele Wenig ergeben ein Viel.“ Für die Bienen ist das Blütenstaubangebot wichtig und das lässt Stück für Stück in der Landschaft nach. Die Bienenvölker vermehren sich so, wie ihr Nahrungsangebot ist. Auch für sie gilt der Spruch der Milchbauern: „Die Kuh melkt durchs Maul.“ Das „Trachtfließband“ für die Insekten, die Bienen, Hummeln, Wildbienen etc. funktioniert nicht mehr richtig. „Nach der Rapsblüte wären die Robinien fällig, aber die nehmen ab. Robinien werden nicht mehr gepflanzt, weil sie keine einheimischen Pflanzen sind. Da tut sich dann eine Lücke auf bis die Linden blühen, die Sonnenblumen.“ Selbst das Stück Wald gegenüber seinem Grundstück, das Horst Lange von der Treuhand gekauft hat, konnte er nicht so einfach mit Robinie aufforsten. Sollte er vor Gericht eine Klage von Anwohnern wegen der Bienen verlieren und der Richter meinen, Bienen gehören nur in den Wald, dann will er seine Wagen hier abstellen. Ebenso soll die Schneebeere nicht mehr in die Landschaft gehören. Selbst viele alte gestandene Forstmänner schüttelten den Kopf darüber, was aus der Landschaft werden soll. Mit den jungen Förstern oder neuen Waldeigentümern gibt es obendrein viel Ärger um die Stellplätze im Wald. Heute brauche er zu viele Genehmigungen, um seine Bienenwagen in den Wald zu fahren, soll auch noch Wegegeld und Standgebühr berappen. Das sei schlimmer als früher bei Ulbricht und Honecker im Wald. Und bevor er betteln muss, verzichtet er lieber. Selbst dem neuen Waldgesetz seien die Bienen keine Erwähnung wert. „Dass Im- ker Plätze im Wald bekommen, ist nicht berücksichtig worden. Aus Naturschutzgründen wollen alle Bienen im Wald, im Alltag kümmert sich jedoch keiner drum. Aber froh sind sie, wenn in den Pollenanalysen unseres Honigs Pflanzen entdeckt werden, von denen man dachte, dass es sie gar nicht mehr gibt im Biosphärenreservat.“ Die Landwirtschaft hat auch das Interesse an der Imkerei verloren, das bekommt Horst Lange seit der Wende jedes Jahr aufs Neue zu spüren. Dabei nutzen die Bienen zu 80% den Bauern, der Honig für den Imker macht nur 20% aus. Zum Beispiel blühen Rapsfelder gleichmäßiger und bilden bessere Körner, wenn dort genug Bienen ausschwärmen und die Pflanzen bestäuben. Auch die Obstplantagen profitieren. Doch kaum ein Betrieb, der noch die schweren Bienenwagen zu den Stellplätzen zieht. „Früher hat das die LPG umsonst getan. Einzig die Schorfheider Agrargenossenschaft macht das noch, um Bienen im Raps zu haben.“ Für eine eigene Zugmaschine hat die Imkerei nie genug abgeworfen. Und Schulden machen ist nicht die Art von Horst Lange. 40 € pro Stunde müsste er heute für eine Zugmaschine zahlen. Da er oft die Plätze wechseln muss, um an die „Tracht“ zu kommen, wäre der Aufwand kaum zu erwirtschaften. Noch greift ihm ein befreundeter Fuhrunternehmer hier helfend unter die Arme. Könnte er noch mal anfangen mit der Imkerei, würde Horst Lange die Investition in eine geländegängige Zugmaschine wagen. Nicht nur, weil ein Wanderimker mit seinen Völkern ohnehin mobil sein sollte, son- Handarbeit dominiert die Wanderimkerei. Jedes Glas Honig wird per Hand abgefüllt, mit dem Etikett beklebt und gestempelt. Sieben Tonnen Honig im Jahr. Vater und Sohn Lange haben Tischler gelernt. Das Handwerk kommt ihnen beim Wagenbau zu Gute. 38 Die Imkerei Lange in Kloste r f e l d e dern auch, um die Standortnachteile von der Gegend auszugleichen. Klosterfelde ist nicht unbedingt das beste Terrain für einen Imker. Die Nektarabsonderung der Pflanzen ist hier auf den leichten Böden des Urstromtals und in den Sandern der Schorfheide gering. Der Honigertrag wächst mit der Bodenqualität. In Chorin und der Uckermark sind die Ernten besser. Aber eine Zugmaschine würde wahrscheinlich auch nichts nutzen, um der derzeit größten Gefahr für die Imkerei auszuweichen: dem kleinen Beutenkäfer. Dieser Schädling nistet sich in den Beutekästen ein, gräbt Gänge in die Waben, frisst den Honig und die Bienenbrut. Ein Bekämpfungsmittel, das die Bienenvölker und den Honig verschont, gibt es nicht. „Die Bienen werden eingehen“, da ist sich Horst Lange sicher. Von Afrika über Amerika ist er dieses Jahr nach Portugal eingeschleppt worden, berichten die Fachzeitschriften. Da dauert es nicht mehr lange, bis er in Klosterfelde ankommt. „Schon heute ziehen industrielle Wanderimker auf Sattelschleppern, beladen mit 1000 Bienenvölkern und mehr, von West nach Ost, dem Klima und der Tracht folgend, quer durch Europa und verbreiten Krankheiten.“ Es ist alles nur eine Frage der Zeit. „Und von weither eingeführter Honig bestäubt bei uns hier keine Pflanze!“ � Früher kein Problem: LPG-Fahrzeuge ziehen die Bienenwagen zu ihren Stellplätzen an den Äckern der Genossenschaften. Heute hat kaum mehr ein Bauer Interesse an den Leistungen der Imkerei. Ohne Blüten kein Honig. Horst Lange pflanzte diese Lindenallee 1952. Die erste „Tracht“ holten seine Bienen hier um 1980. Heute stört die Anwohner das Laub. 39 Di e B a u e r n k ä serei Wolters in Bandelow Q - Regio oder: Aufbauen, Landschaft gestalten macht Spaß Die Wolters sind seit mehreren Generationen Bauern. Ihren angestammten Hof im niederländischen Ezinge haben sie verkauft, er war der Familie zu klein geworden und ließ sich nicht mehr erweitern. Die „guten und preiswerten Böden“ der Uckermark führten sie nach Bandelow. Text und Fotos: Lars Fischer Das Dorf Bandelow liegt nördlich von Prenzlau am Rand der Niederung, in der die Ucker durch die Landschaft fließt. Die Wiesen im seichten Tal sind noch fett. Die Äcker auf den umliegenden Grundmoränen gehören zu den besseren Standorten in Brandenburg. Trotzdem sind hier viele Arbeitsplätze in Landwirtschaft verloren gegangen, wegrationalisiert worden. Ein sozioökonomischer Aderlass war die Folge, der den Dörfern und vielen Menschen hier ins Gesicht geschrieben steht. Verloren zwischen den Schlägen industrieller Landwirtschaft, so der Eindruck, der sich an Regentagen verstärkt, bewegt sich in der dünn besiedelten Landschaft das Leben. Kaum ein Kirchturm hält den Blick fest, der über die weiten Äcker schweift, bis er an den vielen Windenergieanlagen am Horizont hängen bleibt. In Holland hatten die Wolters selbst eine Windanlage für ihren Hof betrieben. Als sie in die Uckermark 40 kamen, hatten sie daher auch über Windkraftnutzung nachgedacht, um langfristig die eigenen Produktionskosten senken zu können. Aber in Deutschland, meint Pieter Wolters, wird auf Windparks gesetzt, da ginge nichts für Einzelbauern. Daher setzt er für die Zukunft auf eine Biogasanlage, um kostengünstigen Strom und Wärme für die Käserei zu gewinnen. Das Material für die Vergasung können die Milchviehanlage und der Ackerbau des Betriebes liefern. Gezwungenermaßen ein Großbetrieb Geschlossene und effiziente Stoffströme sind ein Merkmal der betrieblichen Wirtschaftsweise der Wolters und wohl auch mit ausschlaggebend für ihren bisherigen Erfolg. Ein Sohn, Jacob, betreibt Ackerbau und produziert neben dem Futter für den Milchviehbetrieb, den sein Bruder Andries führt, Raps, Weizen, Gerste und Zuckerüben. Mit seinen modernen Maschinen verrichtet er auch Lohnarbeit für andere Bauern in Die Bauernkäserei Wolters in Ba n d e l o w der Umgebung, deren Betriebsgröße die Anschaffung solcher Technik nicht lohnt. Der Milchviehbetrieb liefert den Rohstoff für die Käserei, die durch den Vater geleitet wird. Auf den Markt kommt nur, was in den eigenen betrieblichen Strukturen nicht veredelt werden kann. „Jeder der Jungs soll seinen Betrieb weiterentwickeln“, sagt Pieter Wolters, und hat als Geschäftsführer dabei das ganze Familienunternehmen im Sinn, das mittlerweile 30 Mitarbeiter beschäftigt und zum größten Arbeitgeber in Bandelow geworden ist. „Wenn Ackerbau und Milchproduktion expandieren, mehr Überschüsse und Leistung bringen, profitieren letztendlich alle davon.“ Pieter Wolters, Jahrgang 48, ist ausgebildeter Landwirt und Kaufmann. Leise und bestimmt erläutert er, dass für die kleinen Milchviehbauern die Milchpreisbindung von 27, 26, heute 25 Cent je Liter zu wenig sei, um zu überleben. „Die Richtung geht gezwungenermaßen zum Großbetrieb hin. Das war auch in Holland unser Problem.“ Auf dem Hof in Ezingen, seinem Geburtsdorf, hatten sie zuletzt 70 Kühe und 55 Hektar Land. Der Betrieb war aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen zu klein, sondern auch für die ganz auf Landwirtschaft fixierte Familie. Zwei der drei Söhne standen kurz vor dem Abschluss ihres Landwirtschaftsstudiums. „So zeichnete sich Anfang der neunziger Jahre ab, dass Andries und Jacob die bäuerliche Tradition der Familie fortführen wollen. Ziegen im dörflichen Ortsbild sind selten geworden. In Bandelow findet man sie noch. Für alle zusammen war jedoch der eigene Hof zu klein und in Holland gab es kaum größere Möglichkeiten.“ Hinzu kam, dass ein nicht geringer Teil der Wirtschaftsflächen ihres Hofes für die Umsetzung eines Naturschutzprojektes benötigt wurde. Die Distriktverwaltung bot ihnen zwar Ausgleichsflächen im Norden von Groningen an, aber die Wolters entschlossen sich, ihren Hof, den sie seit Generationen bewirtschafteten, zu verkaufen und mit ihrem Wissen neu anzufangen. In Holland ergaben sich keine Spielräume, einen Hof auf gewachsenem Land in ei- Landschaft mit Perspektive: In der Uckermark fand die Bauernfamilie Wolters was sie suchte - gute und preiswerte Böden, qualifizierte Mitarbeiter und Gestaltungsspielräume. 41 Di e B a u e r n k ä serei Wolters in Bandelow Das Herzstück der Milchviehbetrieb Wolters GmbH: die Bauernkäserei in Bandelow. In der wiederbelebten Molkerei des Dorfes wird der „Uckerkaas“ produziert und im Hofladen neben anderen Regionalprodukten verkauft. 70 Kühe hielten die Wolters auf ihrem Hof in Ezinge. Über 1.000 sind es heute in Bandelow. Die bei der intensiven Milchviehhaltung anfallende Gülle wird auf den Äckern der Milchviehbetrieb Wolters GmbH als Düngung ausgebracht. ner wirtschaftlich vernünftigen Größe zu erwerben und die Familientradition gemeinsam mit den Söhnen fortzuführen. Sie suchten in Frankreich, Belgien und Dänemark, aber in der klein strukturierten Landwirtschaft war Land von mehreren 100 Hektar für einen Betrieb mit einigen Hundert Milchkühen nicht zu haben. In den USA und Kanada entsprach das kulturelle Leben nicht ihren Vorstellungen. Sie entschlossen sich, es im nahe gelegenen Ostdeutschland zu versuchen. Die Familie fuhr in den Urlaub, um sich das Land anzuschauen und mit Leuten zu sprechen; „kann man hier leben, kommt man mit den Leuten aus?“ Zurück in Holland beauftragten sie einen Makler, in Mecklenburg oder Brandenburg für sie einen Betrieb zu finden. „Die Kriterien waren: gute Böden für Weizen, Mais und die Futterpflanzen für die Kühe.“ Die Angebote kamen schnell. Mit einem Bodenbohrer machten sie sich erneut auf den Weg, entnahmen Bodenproben und prüften, ob deren Qualität den Ertragszielen entsprach, die sie sich für ihren zukünftigen Betrieb gesteckt hatten. Bestand an Milchvieh. Am 1. Oktober 1994 übernahmen die Wolters die ‚Agrar-, Handels- und Produktionsgenossenschaft Trebenow eG‘ und begannen, sie als ‚Milchviehbetrieb Wolters GmbH‘ zu modernisieren. Die verstreuten Stallanlagen wurden zusammengefasst, die Anbindehaltung der Kühe abgeschafft und eine Laufstallhaltung eingeführt, der Ackerbau auf die Milchproduktion hin umstrukturiert und die notwendige Agrotechnik angeschafft. 735 Hektar Land bewirtschaftet der Betrieb heute nach konventionellen Anbaumethoden. 500 Jungrinder und 620 Milchkühe stehen in den Ställen und geben ca. 13.000 Liter Milch pro Tag. Davon gehen zwischen 3.000 und 4.000 Liter an die hauseigene Käserei in Bandelow und werden zu Uckerkaas verarbeitet. Die ehemalige Molkerei des Dorfes, die von der LPG Bandelow in den 80er Jahren zu einer Mosterei umgerüstet worden war und seit einigen Jahren leer stand, hatten die Wolters als „Käserei gleich im Blick gehabt“ als sie den Aufbau ihres Unternehmens in Angriff nahmen. „Wenn man die Milch hat, dann ist es gut möglich, auch Endprodukte zu produzieren. Nur landwirtschaftliche Primärproduktion wird auf Dauer nicht funktionieren - Veredelung muss passieren“, darüber war sich Pieter Wolters im Klaren. Er ist auch nicht in die Uckermark gekommen, „um nur Kühe zu melken“, sondern um dass machen zu können, „was schon seine ganze Familie gemacht hat: Landschaft mitgestalten.“ Landwirtschaft allein wird die Region nicht halten In Bandelow passte dann wirtschaftlich alles zusammen: Ausreichend große Ackerflächen mit Böden in guter Qualität und preiswert (bis zu 9 Hektar konnte er hier für einen Preis erhalten, für den er in Holland einen Hektar hätte erwerben können) und ein ausbaufähiger 42 Die Bauernkäserei Wolters in Ba n d e l o w Bauernkäse Mit der Käserei begaben sich die Wolters auf Neuland. Zwar ist es in Holland bei vielen Bauern Tradition, dass die Frauen eigenen Käse produzieren, aber weder Pieter noch Wiebkje Wolters - eine Biologielehrerin, die ihren Beruf zugunsten des Bauernhofes aufgegeben hat - kannten sich in diesem Handwerk aus. Eine Käseproduktion, so die betriebswirtschaftliche Überlegung, würde das Unternehmen auf dem Markt absichern und auf ein breiteres Fundament stellen. Der Gemeinde würde sie auch zu Gute kommen. Ohne engagierte Mitarbeiter war aber an eine Käserei nicht zu denken. „Wir haben dann mit allen unseren Mitarbeitern in Bandelow gesprochen“, so Pieter Wolters. „Darüber, was sie in Zukunft erwarten und wollen. Einige wollten in der Produktveredelung mitarbeiten.“ Darauf hin wurde die alte Molkerei gekauft und zur Käserei umgebaut. Als das Unternehmen 2001 die Zulassung als Käserei erhielt, wusste man über die eigentliche Käseproduktion noch nicht viel. „Bücher wurden gekauft, Mut gesammelt und angefangen.“ Praktika bei Käsereien in Holland, die mit ungefähr gleichen Maschinen arbeiteten, waren unverzichtbar. „Um den Bedarf und das Interesse zu prüfen, sind wir zuerst mit gekauftem Käse aus Holland an den Markt gegangen und haben zu unseren zukünftigen Kunden gesagt, dass wir diesen Käse dann in Bandelow produzieren. Wir mussten ja erst mal ein Gefühl für den Markt bekommen.“ Im Frühjahr 2001 startete dann die Käseproduktion in Bandelow, die das Prüfzeichen „Regionalmarke des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin“ trägt. Zwölf Arbeitsplätze sind mit dem „Uckerkaas“ aus der Käserei entstanden, fünf in der Produktion, vier im Vertrieb und drei im Hofladen. 70 Tonnen Käse Im Reiferaum der Käserei. Von Bärlauch/Alge über Knoblauch bis Zwiebel/Paprika - 13 Sorten umfasst das derzeitige Käseangebot. Die Manufaktur verarbeitet ca. 70 Tonnen Mich im Jahr. in 13 verschieden Sorten sollen 2004 produziert und verkauft werden. Die Reifekulturen und Gewürze für den Käse kommen aus Deutschland und Holland. „Die deutschen Kulturen sind etwas anders und bringen noch nicht den Geschmack, den wir uns wünschen.“ In der Region sind die Kulturen ebenso wenig zu beziehen, wie gefriergetrocknete, keimfreie Kräuter. Vertrieben wird der „Uckerkaas“ bundesweit. Die Auslieferung an die Wiederverkäufer in der Region erfolgt mit dem Lieferauto, die Großkunden in Rostock, Lübeck oder Dresden werden mit einem Kühlwagen beliefert. Ein Onlineshop auf der Internetseite der Firma ermöglicht einzelnen Kunden den Bezug der handtellergroßen Käse per Post. Einiges wird auch im Hofladen verkauft. In einer Handelskette ist die Bauerkäserei auch gelistet, aber Pieter Wolters überlegt, ob er diesen Weg weiter beschreiten will. Seine Pläne gehen in eine andere Richtung. „Q-Regio“ Als Geschäftsmann ist Pieter Wolters nicht daran interessiert, großen Handelsketten aber auch Hotels und Restaurants, die „auch scharf rechnen müssen“, Preisnachlässe neben den für alle Kunden üblichen Mengenrabatten zu gewähren. „Unser Käse soll verkauft werden, wie wir es gerne mögen!“ Die Voraussetzung dafür will Wolters mit Regionalläden schaffen, die unter dem Namen „Q-Regio - Qualität aus der Region“ ausschließlich Produkte regionaler Produzenten anbieten. Dabei denkt er an ein Franchisesystem, mit dem sich Existenzgründer in den Städten niederlassen. Gefördert über Mittel aus dem Bundesprogramm „Regionen Aktiv“ entwickelt er derzeit das Ladenkonzept und erprobt es in den Kleinstädten Templin und Prenzlau. Trotz vieler Kooperationen mit Regionalmarkenträgern ist es schwierig, das Warensortiment mit Pro- Die Vermarktungsstrukturen in der Region sind fest etabliert. Für den mit Kühltheken und Käsegrill für ´s Uckerbraat, einer Molkespezialität der Käserei, ausgestatteten mobilen Verkaufswagen wird in der Nähe von Berlin ein Mieter gesucht. 43 Di e B a u e r n k ä serei Wolters in Bandelow Ein Grundstein für die geplante Q-Regio-Regionalladenkette: Der Uckerland-Hofladen im Zentrum von Prenzlau. Der Umsatz im der Modellverkaufstelle steigt langsam, aber noch könnte die Verkäuferin nicht von ihnen leben. Im Regionalladen wird auf ein vielfältiges Angebot für den Kunden gesetzt. Mitunter stößt die Konkurrenz verschiedener Produkte in den Auslagen auf das Unverständnis der Produzenten, die nur ihre Produkte im Blick haben. Eine Region hat aber oft nicht nur eine Wurst zu bieten. dukten aus der Region zu bestücken. „1.000 Produkte“, so Wolters, „muss man haben, um dauerhaft interessant für die Kunden zu bleiben. Das Regionalmarkenangebot ist zu eng. Viele Produkte müssen zugekauft werden, aus Brandenburg, aus den Nachbarländern, aus der ganzen Welt - zum Beispiel fair gehandelte Eine-Welt-Produkte wie Tee oder Kaffee.“ Jede Betriebsaufgabe von regionalen Produzenten ist ein Schritt zurück. Im Sortiment der Läden finden sich auch Handwerksprodukte, Keramik, Wollsachen. In den Läden setzt Wolters auf professionelles Design der Ausstattung und der angebotenen Produkte. „Wir wollen Produkte und Produzenten verkaufen. Die Leute sollen ein Gesicht kennen. „Leider können die Produzenten nicht immer präsent sein mit Bild und Unternehmensgeschichte. Bei vielen reichen für gute Werbung die Erträge oft nicht aus.“ Dabei böten die Regale ausreichend Platz für Produktinformationen. Vielen Produzenten müsse man auf die Sprünge helfen, was Etikette, Design, Verpackungen angeht, so Wolters. „Wenn man einen guten Preis erzielen will, muss in Werbung investiert werden. Ein hoher Preis ist ohne gleichwertiges Marketing nicht zu erzielen.“ Mit den Regionalläden will Wolters die Kunden in den Städten erreichen, die sich die teureren Regionalprodukte leisten wollen. „Da muss das Ambiente gut sein; gutes Interieur, guter Stil, gute Beratung und 1a Lage... Regionalprodukte sind etwas Besonderes und das muss man auch sehen können.“ Die Regionalläden verkaufen für Wolters auch die Landschaft. Deshalb will er auch, dass die „Q-Regio“- Läden das Prüfzeichen des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin bekommen. „Die Konsumenten müssen das Zeichen so oft wie möglich sehen. Schorfheide-Chorin hat einen positiven Klang - den wollen wir nutzen für die Auftritte in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.“ Eine Kette von „Q-Regio“Läden, in denen die Produkte aus der jeweiligen Region verkauft und das, was im Sortiment fehlt, von anderen Produzenten aus anderen Regionen bezogen wird, ist die Vision von Pieter Wolters. „Und wenn nur eine oder anderthalb Personen von einem solchen Laden leben können, ist viel erreicht.“ Noch brauchen die beiden Läden die Unterstützung des Milchviehbetriebes der Wolters. Ein Grundstein für die geplante Q-Regio-Regionalladenkette: Der Uckerland-Hofladen im Zentrum von Prenzlau. Der Umsatz im der Modellverkaufstelle steigt langsam, aber noch könnte die Verkäuferin nicht von ihnen leben. 44 Dauergast in Bandelow Selbst in dörflichen Strukturen groß geworden, wusste die Familie Wolters um die eigenwillige Dynamik, die sie in der 300 Einwohner zählenden Gemeinde Bandelow erwarten würde. „Trauer und Leid, Feier und Freude“ mit den Menschen hier wirklich zu teilen, das wird seinen Söhnen und den hier geborenen Enkelkindern vorbehalten bleiben. Andries und Jacob haben hier geheiratet, sind Uckermärker geworden. Einer ist in der freiwilligen Feuerwehr, der andere Vorsitzender des Dorfklubs. „Ich und meine Frau Wiebkje werden Gäste bleiben und uns entsprechend verhalten, das Po- Die Bauernkäserei Wolters in Ba n d e l o w Die Produktionsleiterin Käserei, Uta Gerlach, beim Wachsen der Käse. Die Agraringenieurin ist von Anbeginn in der Bauernkäserei dabei. Ihre Skepsis, die den Erfolgaussichten des Projektes galt, ist nach 4 Arbeitsjahren vollends verflogen. Pieter Wolters, 56 Jahre: Landwirt, Kaufmann, Marketingstratege und Geschäftsführer. Sein Interesse ist es, Landschaft mitzugestalten. Dazu bedarf es vieler Qualifikationen sitive betonen und mehr Lob verteilen. Wie in Holland kann ich hier nicht durchziehen.“ „Zu Beginn waren die Leute sehr reserviert“, erinnert sich Wolters. „Sie hatten sicher schon viele Versprechen gehört.“ Der Einstieg war nicht einfach. Pieter Wolters pendelte die erste Zeit zwischen Bandelow und Ezingen, da die Söhne ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatten. Daher wurde ein Betriebsleiter eingestellt, was aber nicht gut funktionierte. „Die Bauern hier kennen ihre Böden, Ackerbau, das können sie sehr gut. Aber mit den Kühen und dem Melken haben sie wohl nicht so das Händchen“, meint Wolters und schmunzelt. „Da gehen wir Holländer mit ein bisschen mehr Seele an die Arbeit.“ Auch mit einigen Mitarbeitern gab es Probleme und „ich musste Leute entlassen, musste hart sein. Ein Teil im Dorf begriff das nicht. Erst positive Meldungen über Bandelow beruhigten dann.“ Mit 30 Mitarbeitern, von denen viele aus Bandelow sind, ist die Milchviehbetrieb Wolters der größte Arbeitgeber im Dorf. Pieter Wolters „will aber das Dorf nicht dominieren“, sonder hier leben und arbeiten, und das heißt auch, „sich zu arrangieren.“ Rein wirtschaftlich gesehen, „wären polnische Arbeitskräfte billiger gewesen. - Aber für die Zukunft des Dorfes der falsche Weg. Die Menschen hier waren hoch qualifiziert und hatten nichts zu arbeiten, die Stimmung war niedergeschlagen. Es wurde kaum miteinander geredet und viel ‚gesoffen‘. Positives Denken, das fehlte ein bisschen im Dorf.“ Wenn es seiner Familie und ihm mit dem Betrieb gelungen ist, zu „verhindern, dass die Jungen, die was im Kopf haben, wegziehen“ aus Bandelow und sie ein wenig dazu beigetragen haben, im Dorf die sozialen Strukturen zu erhalten oder neue aufzubauen, dann ist das gut so, meint Pieter Wolters, „schließlich wollen wir in Bandelow leben und nicht nur arbeiten. Und sterbende Dörfer“, sagt Pieter Wolters mit leiser Stimme, „sind ein schlechtes Zeichen“. � 45 De r R E W E - M a r kt in Joachimsthal Im Teelöffelverfahren zum regionalen Warenkorb Obwohl die Umsätze bei den regionalen und ökologischen Produkten in den letzten Jahren überproportional zurückgegangen sind, hält Renate Witthuhn an ihrer Strategie fest: mit einer Angebotspalette aus der Region gibt sie ihrem Einkaufsmarkt ein besonderes Gepräge und lässt sich auf das Experiment regionaler Wertschöpfung ein. Text und Fotos: Kenneth Anders „Zum Glück hab ich Leute, auf die ich mich verlassen kann.“ Frau Witthuhn vor dem Joachimsthaler Rewe-Markt, gemeinsam mit ihren beiden Mitarbeiterinnen Almut Wrensch und Peggy Pommer. 46 Der REWE-Markt in Joachi m s t h a l Steckbrief: Renate Witthuhn ist 1959 geboren und in Ringenwalde aufgewachsen. Von 1978-81 studierte sie an der IHK in Berlin-Friedrichshain Bauingenieurwesen, entschied sich aber 1987, eine Konsumverkaufsstelle in Joachimsthal zu leiten. „Der politische Druck war geringer, ich hatte meinen Tante-Emma-Laden und verdienen konnte man auch ganz gut.“ Ihr Großvater hatte bis 1980 im Haus gegenüber gewohnt, dadurch gab es eine Beziehung zum Ort. Ein Crash-Kurs reichte damals, um in das Gewerbe einzusteigen, „dann ging es los, richtig mit frischer Milch und 14 Tagen Einkaufsfrist“. Von 1989 an gingen auch diese Uhren anders, 1991 wurde die Verkaufsstelle in einen Rewe-Markt umgewandelt, deren Inhaberin und Leiterin Frau Witthuhn ist. Ihr Mann arbeitet ebenfalls im Betrieb. Beide haben zwei erwachsene Kinder. Sesam öffne Dich! Betritt man den Einkaufsmarkt in der Joachimsthaler Rosenstraße, ist man erst einmal überrascht: von außen wirkt das Objekt immer noch wie ein Tante-Emma-Laden; hinter der Glasschiebetür tun sich dagegen 500m2 Verkaufsfläche auf, geschickt und üppig dekoriert, so dass man zunächst nicht absehen kann, wie weit sie sich erstreckt. Es gibt viel zu gucken: Im Eingangsbereich werden Blumensträuße und -gebinde angeboten. Auf dem Gemüseregal ruht ein Kanu und erinnert an die mit viel Wasser gesegnete Lage des Ortes (und Der Rewe-Markt in der Joachimsthaler Rosenstraße: Von außen ahnt man nicht, was einen drinnen erwartet. an das Hobby der Witthuhns). Im Getränkemarkt hängen Bilder von Schulkindern, alte Waagen und neue Gurkenfässer zieren die Kühlregale. Wo möglich, wurde Holz eingesetzt, das Licht ist nicht zu grell. Manches hier erinnert an deutsche Ökoläden, vieles auch an die skandinavischen „Lanthandel“ oder die englischen Budgens-Märkte. „Hier waren früher die Garage und unser Garten, der alte Laden befand sich vorn in der Hausecke.“, erklärt Frau Witthuhn. „Dass der Markt nach außen so unscheinbar aussieht, ist eine unserer größten Schwächen, da müssen wir an der Fassade was machen.“ Das tägliche Geschäft Im Betrieb haben neun Menschen Arbeit - sie selbst und ihr Mann, zwei Auszubildende und fünf Angestellte, im Sommer arbeiten noch Schüler in Ferienjobs mit. Auch Frau Witthuhns Mann stammt nicht aus dem Handelsgewerbe, er ist gelernter Autoschlosser. Heute bestreitet er den Überlandverkauf, mit einem Verkaufsbus werden die Dörfer in der dünn und weitläufig besiedelten Schorfheide angefahren, zwei Tage packt er in Joachimsthal mit an. Der Überlandverkauf verliert an Bedeutung, da die Bevölkerung schwindet - noch dazu jene, die darauf angewiesen ist, im eigenen Dorf versorgt zu werden. Auch in Joachimsthal selbst ist die Kundendecke dünn und es gibt mit drei Märkten für 3000 Einwohner reichlich Konkurrenz - hinzu kommen die kon- Sesam, öffne Dich! Betritt man den Markt, ist man zunächst von der großen Warenvielfalt verblüfft. 47 De r R E W E - M a r kt in Joachimsthal junkturbedingten Umsatzverluste. Das Prinzip der Rewe-Märkte basiert auf einer zentralen Warenlistung, die von den Einzelhändlern abgefordert wird. Die Handelskette gibt eine Mischkalkulation vor, das sei auch gut so, man könne nicht für jedes Produkt einen Preis ausloten. Letztendlich entscheidet aber der Einzelhändler, was er in seine Regale legt. Die Bedingungen sind in den letzten Jahren härter geworden. Die Handelsgesellschaft zentralisiert sich immer stärker, welche Strukturen sich auf den überregionalen Märkten halten, hat ein Einzelhandel nicht in der Hand. Die Arbeitstage sind lang, wochentags ist von 8-20 Uhr geöffnet, am Samstag immerhin bis 16 Uhr. „Wir fangen um sechs Uhr an und es geht bis Abends um neun. Da ist es unbedingt nötig, sich auch ein paar Freiräume offen zu halten.“ Witthuhns machen also richtig Urlaub, fahren Rad oder Kanu. Das Handy wird dann - zumindest nach einer ersten Frist - ausgeschaltet. „Zum Glück habe ich Leute, auf die ich mich verlassen kann.“ Die politische Diskussion über die Ladenöffnungszeiten verfolgt Frau Witthuhn mit Interesse: „Für uns wäre eine Sonntagsöffnung gut. Sortimentsbegrenzungen sind für einen Markt wie unseren nicht realistisch, wie wollen sie das machen, ein paar Regale absperren? Die Tankstellen bieten ohnehin alles an, da sollte es auch uns erlaubt sein, zumindest saisonal.“ Tatsächlich ist der Tourismus für Joachimsthal be- reits zu einer zentralen Einnahmequelle geworden. „Wir leben hier von der Ferienkundschaft.“ schätzt Renate Witthuhn ein und findet den Vergleich mit anderen Urlaubsregionen eher ernüchternd: „Wenn ich mir Waren/Müritz angucke und was dort schon erreicht worden ist, davon kann ich hier nur träumen.“ Ein Kanu auf dem Regal: Die Gegend um Joachimsthal ist nicht nur mit Wäldern, sondern auch mit schönen Gewässern gesegnet. An der Frischetheke wird auch ein richtiges Mittagessen angeboten, den Kunden scheint es zu schmecken. 48 Aktionen und Angebote Trotz der wachsenden Bedeutung des Feriengeschäfts bemüht sich der Markt um die heimische Kundschaft. Man will im Gespräch bleiben und sich für die eigene Landschaft engagieren. So organisieren Witthuhns jährliche Radtouren durch die Umgegend, die auch gern angenommen werden - einmal waren es mit 78 Leuten sogar ein bisschen zu viele für ein gemeinsames Erlebnis. Mit Schulklassen wird regelmäßig gearbeitet, z.B. in einem Zeichenwettbewerb zum Mehrwegsystem oder einem Wettbewerb für ein heimisches Sektetikett. In der Adventszeit oder anlässlich eines Jubiläumsfestes veranstaltet der Markt Tombolas, deren Erlös der örtlichen Kindertagesstätte zu Gute kommt. Der Markt setzt Themen und macht Angebote und versteht sich dabei auch als Teil einer allgemeinen Debatte über den Wert der heimischen Infrastruktur: Die kontinuierliche Versorgung mit Lebensmitteln ist in Deutschland selbstverständlich geworden, Kriterien wie die geringe Siedlungsdichte dringen nur mühsam ins öffentliche Bewusstsein vor. Die Aktionen wollen das ändern. Der REWE-Markt in Joachi m s t h a l Supermarkt mit Prüfzeichen Regionale Produkte in den Regalen eines Supermarktes: angefangen hat es mit einem Kundenwunsch, inzwischen ist es Programm. Die regionalen Waren sind nicht immer leicht zu beziehen, zumal die absetzbaren Stückzahlen oft sehr klein sind. Also sind Zeit und Zähigkeit gefragt - und ein vitales Interesse an den Dingen, die die eigene Landschaft so hervorbringen kann. Eine gemeinsame Listung regionaler Produkte würde den Aufwand erheblich verringern. Im September 2004 erhielt der Joachimsthaler ReweMarkt die Regionalmarke des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin, übergeben wurde das Siegel vom Umweltminister. Es war das erste Mal, dass ein Supermarkt in diesen Kreis aufgenommen wurde. Der Grund: in seinen Regalen finden sich überdurchschnittlich viele Produkte aus regionaler Produktion - meist tragen diese auch das Zeichen der Regionalmarke. Begonnen hatte es bereits in den frühen Neunzigern, als eine Kundin Interesse an Molkereiprodukten aus Brodowin anmeldete. Renate Witthuhn bestellte sie kurzerhand. Und fing bald an, sich umzutun. Auf Messen wie der Berliner Grünen Woche entdeckte sie weitere regionale Produkte und forstete die Preislisten durch; wo immer es sich ergab, tauschte man Visitenkarten und rief sich an, um gemeinsame Spielräume auszuloten. „Wir haben auch herumgefragt, ob jemand regionale Produzenten kennt, mit denen man arbeiten kann.“ Eine Initialwirkung hatte auch der Regionalmarkenladen, der vorübergehend in Berlin betrieben wurde - hier entdeckte Renate Witthuhn weitere Produkte, die sie interessierten; was dort gut lief, wurde auch in Joachimsthal ausprobiert. Wenn heute etwas Neues auf den Markt kommt, wird die Information auch direkt vom Bürgerbüro des Biosphärenreservates herübergereicht. So findet man inzwischen einiges aus heimischer Produktion in Joachimsthal: den Uckerkaas der Käserei Wolters, Weidefleisch aus Liepe, Brodowiner Milch, Butter und Käse, Hemme Milch und Joghurt, Trautmann- und Zimmermann-Senf, Fruchtsäfte von Klimmek aus Angermünde und Honig aus Groß Schönebeck. Bei den größeren Produzenten ist das relativ leicht gemacht - man bestellt aus einer Liste und die Ware wird geliefert. Die Waren kleinerer Produzenten muss man sich dagegen ziemlich mühsam zusammentelefonieren, für den Bezug der oft kleinen Mengen ist Einfallsreichtum und Geduld gefragt. Was an logistischer Vernetzung fehlt, muss durch permanente Information und Kommunikation kompensiert werden. Eine gemeinsame Listung der regionalen Produkte wäre sehr praktisch - aber ihre kontinuierliche und synchrone Verfügbarmachung würde zusätzliche Kosten verursachen, was wiederum den Absatz weiter erschweren würde. Der Versuchung, einfach überregionale Produkte auf der konventionellen Liste per Mausklick zu bestellen, widersteht Frau Witthuhn trotzdem immer wieder. Warum eigentlich? Immerhin macht der Umsatz an regionalen und 49 De r R E W E - M a r kt in Joachimsthal Joachimsthal: der Tourismus gewinnt an Bedeutung; ob die regionalen Produzenten davon etwas haben, hängt nicht zuletzt von Akteuren wie Renate Witthuhn ab. „Sydney 2000:“ zu Themen wie Sport oder gesunder Ernährung spricht der Markt kontinuierlich die Bildungseinrichtung des Ortes an und veranstaltet Malwettbewerbe. ökologisch produzierten Produkten (beides wird zusammen gebucht) gerade einmal 1-2 % aus - ist das nicht zu vernachlässigen? Nun, überlegt Frau Witthuhn, tatsächlich sei der Anteil regionaler Produkte am Verkauf sehr gering viel geringer etwa als die Präsenz der Waren in den Regalen glauben machen könnte. Aber es gäbe doch einige gute Gründe, auf das regionale Pferd zu setzen. Zum einen gebe es einige Kunden, die gezielt nach bestimmten Waren verlangten - „die wissen genau, was sie wollen und man kann sie dadurch als Kunden halten.“ Zum anderen geht ein gewisser Werbeeffekt von den regionalen Produkten aus. Vor allem aber ist es eine Frage der Strategie. Denn die Bedingungen für den Einzelhandel werden nicht besser - im Gegenteil, eher ist mit einem weiteren Bevölkerungsrückgang und einer Veränderung des Einkaufsverhaltens zu rechnen. In einem solchen Prozess ist es sinnvoll, sich auf charakteristische Stärken zu besinnen - und die regiona- len Produkte, da ist sich Renate Witthuhn sicher, sind eine solche Stärke. Sie sind unverwechselbar, genießen ein hohes Verbrauchervertrauen und werden gerade von Touristen gern probiert. Dabei könnte es ein Vorteil sein, dass ein Einkaufsmarkt eine vergleichsweise breite Palette anbieten kann. „Wir können hier alles verfügbar machen und würden deshalb die regionalen Produkte noch stärker präsentieren.“ Würden? Es gibt noch gar nicht so viele, resümiert Witthuhn - oder nicht mehr. „Viele Produzenten, mit denen wir Anfang der neunziger Jahre angefangen haben, sind nicht mehr da.“ Vielleicht wird das wieder besser, da auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit regionaler Wertschöpfung zunehme, wie z.B. eine aktuelle Initiative für einen Regiotaler zeige. Es bleibt offen, man kann nur hoffen - und seinen Teil dazu tun. Bei Renate Witthuhn findet man beides: die Hoffnung und die Arbeit. � 50 Keine Idyllen - T h e s e n Keine Idyllen Thesen zum nachhaltigen Wirtschaften in regionalen Wertschöpfungsketten Kenneth Anders und Lars Fischer 1. Die Spielräume für ein nachhaltiges Wirtschaften in regionalen Wertschöpfungsketten sind sehr klein. Sie liegen in der Direktvermarktung eigener, vorzugsweise land- und forstwirtschaftlicher Produkte, im Aufbau von betrieblichen Kooperationen und in der Nutzung regionaler Zulieferer. Oft finden sie sich nur in Segmenten kleiner und mittelständischer Unternehmen. In vielen Fällen sind die Strategien seit Jahrzehnten erprobt und nur in Grenzen optimierbar. Neuanfänge benötigen nicht nur technologischen Vorlauf sondern ebenso sensible Kenntnisse der Besonderheiten des regionalen wie des überregionalen Marktes. 2. Wer die o.g. Spielräume trotzdem nutzen will, muss neben seiner beruflichen Qualifikation über klaren ökonomischen Sachverstand und über Ausdauer verfügen. Oft werden von den Akteuren außerökonomische Ressourcen mobilisiert: Familie, Tradition; soziales Kapital. Wer über diese Ressourcen nicht verfügt oder sie Ein verlassener Laden in Friedrichswalde. Verschwindende Infrastruktur gehört seit über zehn Jahren zu den verwirrenden Erfahrungen der Landbevölkerung in Ostbrandenburg. War die erste Zeit nach 1989 noch von dem Eindruck geprägt, eine hungrige Marktwirtschaft würde die letzten Winkel des Landes erobern, scheint diese inzwischen das Interesse an der hiesigen Landschaft verloren zu haben. 51 Ke i n e I d y l l e n - Thesen Eine Straße, die nach Nirgendwo führt. Die Infrastrukturmaßnahme in der Nähe von Groß Schönebeck sollte der Ansiedlung einer Marina dienen, die jedoch nie zustande kam. Der Fördermitteleinsatz war sehr umstritten, insbesondere die Landwirte wehrten sich gegen die Zerschneidung ihrer Ackerflächen und ahnten früh, dass die Investitionsabsicht nicht seriös war. nicht neu schaffen will, muss in weit höherem Maße materielles Kapital einsetzen, das auch bei erfolgreicher Unternehmensführung nicht so schnell wachsen wird, wie in anderen Wirtschaftsbereichen. Deshalb ist der Fluss fremden Kapitals in eine ländliche Region dünn und diese bleibt auf Akteure angewiesen, die mit ihrem unternehmerischen Engagement eine persönliche Perspektive in der Region verbinden. 3. Im Zuge der ostdeutschen Deindustrialisierung, der sinkenden Beschäftigung in der Landwirtschaft und des drastischen Abwanderns der Bevölkerung gewinnen die außerökonomischen Ressourcen für regionales Wirtschaften immer mehr an Bedeutung. Die enorme Schwierigkeit für kleine und mittelständische Unternehmen in der Region, qualifizierte Mitarbeiter und fähige Lehrlinge zu finden, steht nur scheinbar in einem krassen Gegensatz zur Massenarbeitslosigkeit. Jene Milieus im ländlichen Raum, die sich wirtschaftlich selbst organisieren, erhalten deutlich weniger Zulauf, als ihnen verloren geht. 4. Die gewerblichen Felder für regionales Wirtschaften liegen an der Schnittstelle von primärer Landnutzung, eigener Veredlung und direkter Vermarktung. Damit bewegen sich regionale Produzenten in einem Feld, das gern mit Klischees wie Ländlichkeit und Ruhe verbunden wird. Der Arbeitsalltag in den Unternehmen sieht jedoch genau entgegengesetzt aus: er verlangt von den Beteiligten große Härten ab, in den meisten Fällen sind komplexe Abläufe zu organisieren, die in den arbeitsteiligen Hierarchien der Städte nicht üblich sind. Regionale Produzenten arbeiten an einer doppelten Front - auf der einen Seite sind sie von Saison, Wetter und Klima abhängig und geraten daher in vielen Arbeitsabläufen unter Zeitdruck, zugleich gibt der Markt, auf dem sie agieren, eine ganz anders geartete Leistungsdynamik, einen ganz anders strukturierten Zeittakt vor. 52 Keine Idyllen - T h e s e n 5. Obwohl das Bild vom ländlichen Produzenten nicht mit seiner Arbeitswirklichkeit übereinstimmt, sind doch alle bekannten Vermarktungsstrategien darauf abgestellt, den Konsumenten einen Schein ländlicher Idylle zu verkaufen. Regionalmarketing sollte sich nicht vorschnell auf diese Strategie festlegen. Es ist zutreffend, dass Konsumenten ein positives Lebensgefühl verlangen - die Vermittlung glatter Werbeästhetik beherrschen aber große Unternehmen auf dem Markt meist besser als kleine regionale Wirtschaftsnetze. Was dabei entsteht, ist oftmals schwächer und blasser als die Images großer Ketten. Stattdessen sollte die regionale Vermarktung mit dem Trumpf der Authentizität arbeiten. Hier besteht die Chance, das Spannungsfeld zu nutzen, das sich aus attraktiver Naturausstattung, technologischer Modernität und handwerklicher Tradition ergibt. Hier stehen konkrete wirtschaftliche Akteure, die mit ihrer Arbeit ein persönliches Risiko eingehen. Dass die regionale Wertschöpfung keine Nische ist, in der man sich aufwärmen kann, sollte nicht verschwiegen werden, sondern selbst mit zum Bestandteil der Vermarktungsstrategie gemacht werden. 6. Vor allem bei den alteingesessenen Familienunternehmen wird deutlich, dass die Generationenkette retrospektiv eine Ressource bildet, aus der die Akteure Wissen, Kundenpotenzial, Identität und technologischen Vorlauf schöpfen. In den Kriegskatastrophen des letzten Jahrhunderts, in der für privatwirtschaftliche Betriebe schwierigen DDR-Zeit und in der beinahe noch schwierigeren Umbruchszeit nach 1989 haben die betroffenen Wirtschaftsformen mehr Flexibilität und Belastbarkeit bewiesen, als ihnen gemeinhin zugetraut wird. Dieses Vermögen sollte auch bei den bevorstehenden Belastungen durch die Dynamik des Marktes nicht unterschätzt werden. Landschaft bei Götschendorf. Naturraum, Geschichte, Landnutzung und Lebenskultur liegen im ländlichen Raum oft zutage wie in einem offenen Buch. Regionalmarketing kann dabei helfen, dieses Buch zu lesen. 53 Ke i n e I d y l l e n - Thesen Autowerkstatt in Joachimsthal. Der Trabant ist selten geworden, aber für viele ist er immer noch ein ganz normales Nutzfahrzeug. 7. Bei dem Versuch, regionale Wertschöpfungsprozesse (z.B. in Modellregionen wie Biosphärenreservaten) zu fördern, scheint es jedoch sehr schwierig, aus diesem „Schöpfen aus der Vergangenheit“ ein in die Zukunft gerichtetes Prinzip nachhaltigen Wirtschaftens abzuleiten. Die betroffenen Akteure wissen oft nicht einmal, ob die von ihnen etablierte oder übernommene Wirtschaftsform überhaupt von Nachfolgern, etwa den eigenen Kindern, aufgegriffen wird. Sie wollen und können nicht stellvertretend Probleme der Gesellschaft lösen, sie versuchen vor allem, ihre eigenen Probleme zu lösen. Herrscht hierüber keine Klarheit, wird die Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmern in erster Linie aus Enttäuschungen bestehen. 8. Will man den regionalen Produzenten helfen, muss man an ihrer Praxis anschließen und sie als Experten ihrer eigenen Arbeitswirklichkeit ansprechen. Die in diesem Heft vorgestellten Unternehmen haben die Grenzen ihres eigenen Wachstums meistens durch gut überlegte Gründe dargelegt. Diese Gründe reichen von betriebswirtschaftlichen Überlegungen bis hin zu Vorstellungen von der eigenen Lebensqualität und einem Platz im Ensemble der anderen regionalen Produzenten, die man nicht vom Markt verdrängen will. Eine Hilfestellung ist nur möglich, wenn man diesem Komplex aus Gründen mit Respekt begegnet. 9. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren innerhalb des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin im Zusammenhang mit der Etablierung einer Regionalmarke Arbeitsbeziehungen gewachsen, die von ebenjenem Respekt und von gegenseitigem Vertrauen geprägt sind. Sie bilden ein Potenzial für weitere Schritte, für die man vor allem eines benötigen wird: Zeit. Denn nichts schadet der Nachhaltigkeit mehr als vorschnelle Versprechungen. � 54 Impressum: Texte und Fotos: Büro für Landschaftskommunikation Dr. Kenneth Anders und Lars Fischer Herrenwiese 9, 16259 Schiffmühle/Oder 03344/300748, www.landschaft-im-wandel.de [email protected], [email protected] Beratung: Anke Jenssen Die Porträts wurden im Sommer 2004 erstellt. Die Texte wurden von den porträtierten Personen autorisiert. Wir danken allen, von denen im Heft zu lesen ist, für Ihre Mitarbeit. Das Projekt wurde aus Mitteln des Wettbewerbs des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft „Regionen Aktiv- Land gestaltet Zukunft“ gefördert. Was haben ein Landwirt aus Groß Schönebeck und ein Gastronom aus Chorin gemein? Was verbindet einen Gärtner aus Oderberg mit der Leiterin eines Joachimsthaler Lebensmittelmarktes? Sie arbeiten alle in und mit der gleichen Landschaft, sie teilen die Vorund Nachteile der Naturausstattung und der regionalen Wirtschaftsstrukturen. Die Regionalmarke des Biosphärenreservates Schorfheide Chorin ist zugleich ein Herkunfts- und ein Gütesiegel. Wer es trägt, verpflichtet sich auf bestimmte Grundsätze des Wirtschaftens und trägt zur regionalen Wertschöpfung bei. Im Rahmen des Bundeswettbewerbs REGIONEN AKTIV wurden acht Regionalmarkenträger auf ihre landschaftliche Beziehung hin befragt. Wie arbeiten sie mit dem umgebenden Naturraum? Welche sozialen Strukturen und Traditionen nutzen sie? Wie sehen ihre wirtschaftlichen Perspektiven aus?
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