Ist faire und gerechte Arbeit auch gesund?

Gusy, Burkhard & Lesener, Tino
Arbeit und Gesundheit – Ist faire und gerechte Arbeit auch
gesund?
Einleitung
Hat die Bewertung der Arbeitssituation als fair oder gerecht einen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter? Mit dieser Frage beschäftigen sich u.a. die beiden Forschungsgebiete
zum psychologischen Vertrag bzw. zur organisationalen Gerechtigkeit/Fairness. Betrachtet wird
der Grad der Erfüllung antizipierter Erwartungen des Arbeitnehmers in Bezug auf die Verteilung
betrieblicher Leistungen sowie den dazu führenden Regeln. In diese gehen neben der subjektiven Wahrnehmung konkreter Arbeitsbedingungen, auch soziale Rahmenbedingungen ein. Ein
besonderes Gewicht hat dabei die Beziehung(squalität) zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Die Frage ist dabei nicht, ob eine als unfair oder ungerecht erlebte Behandlung zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt – dies wurde bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert (siehe Rigotti, 2010; Ndjaboué, Brisson, & Vézina, 2012) – sondern ob erfüllte Erwartungen die
Gesundheit fördern. Ziel ist dabei, wie im Rahmen der Kopenhagen Konferenz der Weltgesundheitsorganisation im Jahre 2000 bereits formuliert wurde, einen Beitrag zu leisten gesündere
Arbeitsbedingungen zu schaffen um das Wohlbefinden der arbeitenden Bevölkerung sowie deren Gesundheitszustand zu verbessern. Die Beziehungsqualität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist dabei ein möglicher Ansatzpunkt.
Es ergeben sich folgende drei Fragestellungen:
1. Welche theoretischen Modelle sind geeignet, um Austauschprozesse zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abzubilden?
2. Wie wird das subjektive Erleben der Beziehungsqualität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der empirischen Forschung untersucht?
3. Welche salutogene Wirkung hat eine als fair bzw. gerecht erlebte Arbeit?
Wirkmodelle & Hypothesen
Relevant sind für vorliegendes systematisches Review die Konzepte des psychologischen Vertrags, der organisationalen Gerechtigkeit, das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen sowie
die psychologischen Führungstheorien. Den meisten empirischen Studien unterliegt eine stresstheoretische Betrachtungsweise, pathogene Wirkungen unerfüllter Erwartungen, erlebter Ungerechtigkeit sowie ein Missverhältnis von hoher Verausgabung bei ausbleibender Gratifikation
werden vorrangig untersucht.
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Im Folgenden werden die beiden zentralen Konzepte dieses Beitrags – der psychologische Vertrag und die organisationale Gerechtigkeit – einleitend beschrieben, um anschließend die Ergebnisse aus Studien zusammenzufassen, die salutogene Wirkungen untersuchen.
Das Konzept des psychologischen Vertrags fokussiert soziale Austauschbeziehungen zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche über die schriftlich fixierten Vereinbarungen im Arbeitsvertrag hinausgehen. Im- und explizite Erwartungen der jeweiligen Vertragspartner werden zum
Gegenstand. Dies kann z. B. aus der Perspektive des Arbeitnehmers die Angemessenheit der
erhaltenen Gratifikationen (für den geleisteten Einsatz bzw. die Qualifikation) aber auch die
Wertschätzung durch die Organisation sein. Zentrale Elemente der Beziehungsgestaltung umfassen gegenseitiges Vertrauen, Akzeptanz sowie (wahrgenommene) Reziprozitätserwartung.
Hinsichtlich der Inhalte sind transaktionale und relationale Vertragskomponenten zu differenzieren. Transaktionale Inhalte sind gekennzeichnet durch konkrete ökonomische Vereinbarungen
bzw. den Kompetenz-Entgelt Austausch; relationale Inhalte betrachten sozio-emotionale Aspekte wie die Erwartungen an den Arbeitgeber – und sind somit subjektiver, weniger konkret und
transparent. Werden die Erwartungen nicht erfüllt wird von Vertragsbruch bzw. -verletzung gesprochen, pathogene Wirkungen sind erwartbar. Bei erfüllten Verträgen hingegen sind salutogene Wirkungen erwartbar. Reader & Grote (2012) verorten die Vertragserfüllung als Mediator
zwischen Arbeitsgestaltung, Leistungsbeurteilung, Partizipation auf der einen Seite und Arbeitszufriedenheit, Kündigungsabsicht, Commitment oder Arbeitsplatzsicherheit auf der anderen Seite (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Psychologischer Vertrag (Raeder & Grote, 2012)
Mit Arbeitsplatzunsicherheit und (geringer) Kündigungsabsicht (Turnover) wird eigentlich Gesundheit im Sinne der Abwesenheit pathogener Konsequenzen operationalisiert, als positive Facetten von Gesundheit können hier aber Arbeitszufriedenheit und Identifikation mit der Einrichtung (Commitment) betrachtet werden.
Ähnlich wie der psychologische Vertrag fokussiert das Konzept der organisationalen Gerechtigkeit betriebliche Austauschprozesse. Unterschieden werden dabei drei Domänen von Gerechtigkeit.
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Unter distributiver Gerechtigkeit wird die faire Verteilung von Gütern (Entgelt, Aufstiegsmöglichkeiten) in der Organisation verstanden. Bei der prozeduralen Gerechtigkeit ist der zum Ergebnis
führende Prozess (universell, unvoreingenommen, Bedürfnisberücksichtigung der Mitarbeiter)
Gegenstand der Gerechtigkeitsbetrachtung. Zudem gibt es eine interaktionale Facette der Gerechtigkeitsbewertung, welche sich aus einem respekt- und würdevollen Umgang mit Kollegen
oder Vorgesetzten zusammensetzt.
Die Bewertung der Arbeitssituation in diesen drei Domänen als gerecht oder ungerecht hat nach
Ford (2014) bedeutsamen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. Abbildung 2). Auch
in diesem Kontext überwiegt bislang die Betrachtung der gesundheitsschädigenden Wirkung
von Ungerechtigkeitsepisoden in Organisationen. Nur ein kleiner Teil der Studien untersucht eine als gerecht erlebte Arbeitssituation mit Blick auf den Zuwachs an Gesundheit und Wohlbefinden.
Abbildung 2: Organisationale Ungerechtigkeit (Ford, 2014)
Methodik
Es wurde eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken MEDLINE, PsycINFO und
PSYNDEX durchgeführt. Der Suchstring war so konzipiert, dass Studien die positive Gesundheitsindikatoren (Wohlbefinden, Lebensqualität, Arbeitszufriedenheit, Gesundheit) im Kontext
organisationaler Fairness/Gerechtigkeit oder dem psychologischen Vertrag im Längsschnitt empirisch untersuchen, gefunden wurden.
174 Treffer wurden erzielt, von denen sich nach Sichtung der Abstracts 27 Dokumente als relevant erwiesen und im Review berücksichtigt wurden.
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Wirkungen der Beziehungsqualität auf positive Facetten von Gesundheit
Sowohl in Bezug auf organisationale Gerechtigkeit/Fairness als auch dem psychologischen Vertrag werden unterschiedliche Facetten von Gesundheit als Endpunkte untersucht. Als Endpunkte
in den Studien zu organisationaler Fairness werden neben Arbeitszufriedenheit und Commitment, psychische und physische Gesundheit, langfristige Abwesenheit vom Arbeitsplatz sowie
die Kündigungsabsicht (Turnover) untersucht. Belegt werden kann eine positive Wirkung organisationalem Gerechtigkeitserleben (global) auf die genannten Gesundheitsindikatoren. Die
Identifikation mit der Einrichtung steigt und die Kündigungsabsicht sinkt bei erfahrener Verteilungsgerechtigkeit, die Arbeitszufriedenheit und die psychische Gesundheit sind von der wahrgenommenen distributiven Gerechtigkeit unbeeinflusst. Das gleiche Muster zeigt sich auch in
Bezug auf die erfahrene prozedurale Gerechtigkeit, hier zeigt sich zusätzlich keine salutogene
Wirkung in Bezug auf den Indikator der physischen Gesundheit. Erlebte interaktionale Gerechtigkeit wurde in 4 Studien untersucht, eine salutogene Wirkung konnte hier nicht bestätigt werden.
Tabelle 1: Organisationale Gerechtigkeit und Gesundheit
Die Forschungsergebnisse zur salutogenen Wirkung psychologischer Verträge sind ähnlich heterogen. Erfüllte Verträge steigern die Arbeitszufriedenheit, möglicherweise die Leistung, nicht
aber den positiven Affekt oder die Identifikation mit der Einrichtung. Ein Vertragsbruch hingegen senkt die Arbeitszufriedenheit und ebenso die Identifikation mit der Einrichtung.
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Eine pathogene Wirkung eines Vertragsbruchs in Bezug auf Burnout sowie die berufliche Karriere konnte nicht bestätigt werden. Eine Vertragsverletzung hingegen mindert die Identifikation
mit der Einrichtung (vgl. Tabelle 2).
Tabelle 2: Psychologischer Vertrag und Gesundheit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nur wenige Studienergebnisse vorliegen, die positive Facetten von Gesundheit im Zusammenhang mit diesen beiden Konzepten untersuchen.
Das subjektive Erleben der Beziehung zur Organisation – in Form eines psychologischen Vertrags oder durch eine als gerecht empfundene Arbeitssituation – kann, so zeigen diese Ergebnisse, die Gesundheit fördern. Die Ergebnisse sowie die betrachteten Facetten von Gesundheit
sind allerdings zu heterogen, um diese Frage abschließend beantworten zu können. Zudem
bleibt unklar, ob die Beziehungsqualität oder die damit verbundenen Ausführungsbedingungen
der Tätigkeit ausschlaggebend für Gesundheitseinbußen oder -gewinne sind.
Ausblick
Mit dem Job-Demands-Resources Modell (Bakker & Demerouti, 2007) steht ein Modell zur Verfügung, was sich um subjektive Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse ergänzen ließe. Die
Integration von konkreten Arbeitsbedingungen (Anforderungen und Ressourcen der Arbeit) als
prädisponierende Merkmale der subjektiven Beurteilung des Arbeitsplatzes als fair oder gerecht
erscheint sinnvoll und würden möglicherweise auch Ansatzpunkte für Interventionen bieten. Zu
klären wäre dabei, ob die behandelten Austauschprozesse einen über die Ausführungsbedingungen hinausreichenden Anteil der Arbeitssituation aufklären – oder ob sie vielmehr eine Bewertung der Ausführungsbedingungen darstellen und möglicherweise als Mediatoren bzw. Moderatoren anzusehen sind. Hierzu ist es zwingend notwendig herauszuarbeiten, auf welchen Kriterien die Bewertung der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung fußt. Wünschenswert wären Forschungsansätze und Instrumente, die diesen Fragen nachgehen.
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Literatur / Quellen :
Bakker, A. B., & Demerouti, E. (2007). The job demands-resources model: State of the art. Journal of managerial
psychology, 22(3), 309-328.
Ford, M. T., & Huang, J. The Health Consequences of Organizational Injustice. Contemporary Occupational Health
Psychology: Global Perspectives on Research and Practice, Volume 3, 35-50.
Ndjaboué, R., Brisson, C., & Vézina, M. (2012). Organisational justice and mental health: a systematic review of prospective studies. Occupational And Environmental Medicine, 69(10), 694-700.
Raeder, S., & Grote, G. (2012). Der psychologische Vertrag: Analyse und Gestaltung der Beschäftigungsbeziehung
(Vol. 26). Hogrefe Verlag.
Rigotti, T. (2010). Der Psychologische Vertrag und seine Relevanz für die Gesundheit von Beschäftigten. In Fehlzeiten-Report 2009 (pp. 157-165). Springer Berlin Heidelberg.
Kontakt
Burkhard Gusy & Tino Lesener
Freie Universität Berlin (FB Erwiss. & Psych.)
AB Public Health: Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
Tel: (030) 838-55155
[email protected]
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