Der Damm und die Dürre: Der drittgrößte Staudamm der Welt und

Der Damm und die Dürre: Der drittgrößte
Staudamm der Welt und seine Folgen
Juni 12, 2015
Von Carl von Siemens
Ich bin ein Nachfahre des Erfinders und Industriellen Werner von Siemens, ich bin Aktionär
der Firma, die er gegründet hat, und ich bin nach Brasilien gereist, um auf ein Projekt
aufmerksam zu machen, an dem diese Firma nicht hätte mitverdienen sollen. Das Projekt ist
der Bau von Belo Monte, der drittgrößte Staudamm der Welt, der gerade im brasilianischen
Regenwaldgebiet entsteht.
Das Wasserkraftwerk von Belo Monte wird aus drei riesigen Talsperren bestehen. Mit sechs
Kilometern Länge ist die gewaltigste davon der Pimental-Damm. Der Pimental-Damm wird
einen Großteil des Xingu in zwei Kanäle umleiten, die das Wasser zum Hauptkraftwerk
führen. Angeblich sollen für Belo Monte mehr Steine und Erde bewegt werden als beim Bau
des Panama-Kanals.
Dort beschreibt der mächtige Rio Xingu eine 100 km lange Krümmung, bevor er in den
Oberlauf des Amazonas mündet. Diese Flussschlinge wird die „Volta Grande" genannt. Wo
sie beginnt, sollen bald Stauseen dieselbe Fläche wie der obere Bodensee bedecken. Für ein
Wasserkraftwerk mit der Kapazität von acht brasilianischen Angra-II-Atomkraftwerken ist
das wenig, da Belo Monte ein Durchflusskraftwerk ist, das von der Fallhöhe des Terrains
profitiert. Doch es ist genug, um ein Drittel der Stadt Altamira unter Wasser zu setzen.
Zwischen 20.000 und 40.000 Menschen müssen umgesiedelt werden, ohne groß darüber
mitreden zu dürfen. Das Vorgehen erinnert an die Fußballweltmeisterschaft, als Favelas
plattgemacht wurden, um neuen Stadien zu weichen.
Brasilien ist ein schnell wachsendes Schwellenland. Auch in Zukunft möchte es seinen immer
größeren Energiehunger zu 80 Prozent aus Wasserkraft stillen. Wasserkraft gehört zu den
erneuerbaren Energien und trägt ein grünes Etikett. Deswegen sind überall im
Amazonasgebiet neue Staudämme im Bau oder in Planung. Viel konzentriert sich auf den
unberührten Tapajós; durch die Staudämme allein könnten dort eine Millionen Hektar
Primärwald verloren gehen. Und dabei wird es nicht bleiben. Wie auch in Belo Monte werden
den neuen Straßen Bergbaufirmen, Viehzüchter, Desperados und die Holzmafia folgen. Es
geht also nicht um grüne Energie, sondern um eine Grundsatzentscheidung: Soll die Wildnis
Amazoniens erhalten bleiben—oder der Industrialisierung weichen?
Zulieferer sagen gern, Grundsatzentscheidungen dieser Art zu treffen, sei die Aufgabe
demokratisch gewählter Regierungen, die, unter Kenntnis der Gegebenheiten vor Ort, das
Beste für ihr Land entschieden. Zulieferer glauben deswegen, dass sie sich tadellos verhalten,
wenn sie nur ihre Verträge einhalten. Doch Regierungen können sich irren. Regierungen
können beeinflusst werden. So sind an den Staudammprojekten einige sehr mächtige
brasilianische Baufirmen beteiligt. Eine davon ist Camargo Corrêa. Am 8. März dieses Jahres
wurde gemeldet, dass ihr CEO vor Gericht aussagen würde, als Gegenleistung für Verträge
über den Bau von Belo Monte 30 Millionen US-Dollar Bestechungsgeld an die regierende
Arbeiterpartei und einen ihrer Koalitionspartner gezahlt zu haben.
Für die Umsetzung des Regierungsauftrags wurde ein Konsortium namens Norte Energia
gebildet, zu dem der staatliche Energieversorger Elektrobrás und, bezeichnenderweise, auch
der Bergbaukonzern Vale gehören. Federführend für die Technik ist Voith Hydro, ein Joint
Venture zwischen Siemens und der Firma Voith aus Heidenheim, das unabhängig von Belo
Monte gegründet worden ist. Firmenzusammenschlüsse dieser Art werden für Großprojekte
gebildet, da sie es ihren Teilhabern ermöglichen, ein Geschäft zu machen, ohne für dessen
schwer einschätzbare Folgen in ihrer Gänze geradestehen zu müssen. Denn keine Firma wäre
so dumm, in einer so komplexen Region wie dem Amazonasbecken die Gesamtverantwortung
für den Bau eines Großkraftwerks zu übernehmen.
Seit dem ersten Spatenstich hat es in Belo Monte Streiks gegeben, Besetzungen durch
wütende Indianer und richterlich verhängte Baustopps, da die betroffenen indigenen Völker
nicht angehört und Umweltauflagen nicht eingehalten worden sind—obwohl es die
Verfassung so vorschreibt. Der Staudamm konnte nur gebaut werden, da es, wie beim
Braunkohletagebau in Deutschland, ein Gesetz gibt, in diesem Fall noch aus der
Militärdiktatur, das die Aufhebung von Grundrechten ermöglicht, wenn dies im „nationalen
Interesse" liege.
Ich erfuhr von Belo Monte auf der Aktionärsversammlung von Siemens, als eine kleine Frau
aus Altamira gegen das Projekt vorsprach. Brasilien war weit entfernt, und seine
Umweltpolitik ging mich vielleicht nichts an. Doch da ich aus den Projekten von Siemens
eine Dividende bezog, ist die Geschichte dieser Frau zu meiner eigenen geworden, ob ich es
nun wollte oder nicht. Und mit dem Staudammprojekt im Regenwald ist für mich eine rote
Linie überschritten worden, die man nicht überschreiten darf.
Zum einen liegt das daran, dass die Lizenzvergabe eine schmutzige gewesen ist, die nicht den
rechtsstaatlichen Standards entspricht, die in einer demokratischen Öffentlichkeit agierende
Konzerne an sich selber zu stellen haben. Zum anderen liegt das daran, dass der Regenwald
und seine Völker nicht der Industrialisierung geopfert werden dürfen. Seine Artenvielfalt
gehört zu unserer biologischen Reserve für die Zukunft. Ich möchte, dass es weiter Menschen
gibt, die mit dem Blasrohr jagen. Ich möchte, dass seine Bäume auch in Zukunft täglich die
schier unvorstellbare Menge von 20 Milliarden Tonnen Wasser wie Geysire in die Luft
speien, wo sie zu atmosphärischen Flüssen kondensieren, die das Andengebirge entlang nach
Süden reisen und den Rest des Kontinents mit Regen versorgen.
Diesen Winter ist São Paulo von einer großen Dürre heimgesucht worden. Viele Menschen
haben sie mit den Abholzungen in Amazonien in Verbindung gebracht, die dafür sorge, dass
die atmosphärischen Flüsse weniger Wasser transportierten als früher. Sollte das stimmen,
und sollte sich die Abholzungen fortsetzen, könnten sich Teile Südamerikas in Steppe
verwandeln. In einer Steppe würden auch die Wasserkraftwerke nicht mehr funktionieren.
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