1000 und 1 Buch

Die Anwälte des Teufels.
Oder: »Rettet das Schimpfwort!«
Von Moustapha Diallo
Wenn es um das N.-Wort geht, hört man erstaunliche Wortes gewandelt, wie Ulrich Greiner behauptet, sondern
Argumente: »Das sagt man so«, »Es ist nicht böse gemeint«, »Ich kenne Afrikaner, die das nicht schlimm finden«, »Man muss nicht jedes Wort auf die Goldwaage
legen« … Ist es geistige Trägheit oder Respektlosigkeit?
Die jüngste Diskussion über das N.-Wort zeigt wieder einmal, wie es um die Bereitschaft zum Umdenken steht.
Offensichtlich fällt manchen Leuten der Abschied vom
schlimmsten Schimpfwort für Afrikaner schwer. Jetzt, wo
das Wort nach langem Kampf weitgehend aus dem
Sprachgebrauch vertrieben worden ist, ruft man zu seiner
Erhaltung in Neuauflagen auf. Das Kinderbuch als letzte
Bastion im Kampf gegen das Umdenken! Entsprechend
hysterisch wirft man mit Schlagwörtern um sich: »Zensur!«, »Fälschung!«, »Vergehen an der Literatur!«, sogar
»Grundgesetz«! Warum nicht gleich »Menschenrecht auf
Beschimpfung«? Es ist erstaunlich, wie schwer es manchen Leuten fällt, sich in die Lage anderer zu versetzen.
Erstens: Es ist keine Zensur, wenn man das N.-Wort durch
»Schwarz« ersetzt, denn der Inhalt wird nicht geändert:
Die gemeinte Person bleibt schwarz. Eine Verfälschung
des Inhalts wäre es nur, wenn man unterstellt, dass der
Autor bzw. die Autorin mit dem Wort eine Verunglimpfung
der Afrikaner beabsichtigte. Auf ein solches Kinderbuch
könnte, ja, müsste man ganz verzichten. An dieser Stelle
ist die Vermischung von Sachverhalten offenzulegen, die
Ulrich Greiner vornimmt, indem er auf Uwe Timms »Morenga« verweist: Es gibt einen Unterschied zwischen
einem historischen Roman, der eine bestimmte Epoche
abbildet, und einem Kinderbuch, das eine fiktive – zeitlose – Geschichte erzählt. Im ersten Fall hat das N.-Wort
eine grundlegende Funktion, während es im zweiten Fall
nur die Unbekümmertheit in der Entstehungszeit verrät,
eine Information, die für Kinder völlig irrelevant ist. Insofern ist der Vorwurf der »Geschichtsklitterung« haltlos.
Hinsichtlich des Verweises auf Schiller u.a. ist anzumerken, dass kleine Kinder solche Texte nicht lesen. Alles zu
seiner Zeit! Sonst könnte man die Altersgrenze bei Filmen
auch abschaffen.
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Zweitens: Dass das N.-Wort früher nicht verletzend gewesen sei, ist schlichtweg falsch: Es war von Anfang an als
Herabwürdigung des Afrikaners gemeint. Nicht zufällig
gelangte es Ende des 17. Jh. in die deutsche Sprache, als
man das Wort »Rasse« auf Menschen übertrug, um einen
Unterschied zwischen Weißen und anderen zu konstruieren und so die Unterdrückung nicht-europäischer Völker
zu rechtfertigen. Wer an der grundsätzlich negativen Bedeutung des N.-Wortes zweifelt, kann versuchen, einen
Ausdruck zu finden, in dem es keine Beleidigung beinhaltet. (Daran ändert auch nichts, dass Afrikaner das Wort
verwenden: In Surinam nennen sich die Schwarzen sogar
»Busch-N.«, eben weil sie von den Holländern als solche
bezeichnet wurden.) So hat sich nicht die Bedeutung des
das Bewusstsein der Menschen. Die Einsicht in die menschenverachtende Konnotation des Begriffs hat zur Distanzierung von dessen Gebrauch geführt, und das ist der
Ausdruck eines geistigen Fortschritts. Genau dieses Bewusstsein lässt der Autor vermissen, wenn er in den beleidigenden Sprachgebrauch zurückfällt und grundlos
schreibt: »Lukas ist der Karnevals-N., Jim Knopf der richtige N.« Daran erkennt man, dass das Problem nicht nur
bei den Illiteraten liegt. Wie soll das Wort aus dem
Sprachgebrauch verbannt werden, wenn Kinder es in
Büchern lesen können?
Drittens: Es ist irreführend, das Grundgesetz in diesem
Zusammenhang ins Feld zu führen, wie der Autor es tut.
Wenn die Ersetzung eines Schimpfwortes schon Zensur
wäre, dann könnte man sich auf denselben Artikel 5 des
Grundgesetzes berufen und die Bestrafung von Volksverhetzung auch als Zensur bezeichnen, denn im ersten
Satz heißt es: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort,
Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […].«
Statt maßloser Übertreibung und Verspottung, bis
zum absurden Hinweis auf die Aggressivität von Kindern,
könnte sich der Autor fragen: Wie ernst meint man es mit
dem »respektvollen Umgang«, wenn man die Gefühle des
Anderen missachtet? Ist Pippi Langstrumpf in der korrigierten Fassung uninteressant geworden? Geht etwas
Wichtiges verloren, wenn
man ein unsägliches Wort
ersetzt? (Die alten Fassungen bleiben ja für die
Wissenschaftler erhalten!)
Wer im Namen der Authentizität an der unnötigen
Reproduktion von Verunglimpfungen festhält, der
erwartet nicht nur, dass
Kinder wissenschaftlich mit
Büchern umgehen; er plädiert auch für die Gleichgültigkeit gegenüber dem
Anderen.
Dr. M. Moustapha Diallo,
Literaturwissenschaftler; Studium
in Senegal, Österreich, Frankreich
und Deutschland. Lehrtätigkeit an
der Universität Paderborn und am
Ludwig-Erhard-Berufskolleg Münster;
Veröffentlichungen über Interkulturelle Kommunikation,
Germanistik in Afrika, Afrika
in der deutschen Literatur,
literarischen Postkolonialismus.
Warum ganze Völker abwerten?
Von Hermann Schulz
Zweifel, ob man das Wort »Neger« in Übersetzungen Niemand verlangt, dass nun die gesamte Weltliteratur
oder sonstigen Werken verwenden sollte, kamen mir zum
ersten Mal im Jahre 1978. Ich leitete seinerzeit den Peter
Hammer Verlag. Die beiden Übersetzer des dickleibigen
Werkes von Joseph Ki-Zerbo »Die Geschichte SchwarzAfrikas« (Hatier, Paris 1978), Elke und Frieder Hammer,
hatten durchweg das französische »nègre« mit »Neger«
übersetzt. Das Warnsignal in meinem Innern war schwach,
aber vorhanden. Schließlich überzeugten sie mich, das
Wort bedeute »schwarz« und sonst nichts! Ganz wohl, so
erinnere ich mich, war mir nicht dabei, aber ich reflektierte es nicht weiter. In keiner der zahlreichen Rezensionen
des erfolgreichen Werkes wurde der Gebrauch beanstandet.
Mein Sinneswandel, meine
Wachsamkeit für das Abwertende in
dem Wort wurde erst geweckt, als
ich den tansanischen Journalisten
Said Mzee befragte. Er hatte mit
seiner Familie acht Jahre lang in
Deutschland gelebt und gearbeitet.
Er ist ein freundlicher Herr, gerade
deshalb ist mir seine scharfe Antwort unvergesslich: »Das Wort empfinden wir als verletzend, beleidigend, herabwürdigend. Ekelhaft!«
Das ging mir unter die Haut. Man
kann auch sagen: Es öffnete mir die
Augen. Seit dieser Zeit wurde das
N.-Wort in Büchern des Verlages
nicht mehr benutzt.
In meinen eigenen Romanen,
die oft in Afrika spielen, habe ich
das Wort nie verwendet und hatte
nicht den Eindruck, dass ich mich
auf Grund von political correctness
»reduzieren« oder »disziplinieren«
müsste.
In Frankreich wird das Wort
»nègre« offenbar in manchen Zusammenhängen, z.B. für »Ghostwriter«, benutzt, erfuhr ich von
Moustapha Diallo, einem senegalesischen Germanisten, und dass das
französische »nègre« ebenso als abwertend empfunden wird! Nur, so
Diallo, hat wohl in Frankreich eine
Sensibilisierung für die kolonialen
Erblasten der Sprache noch kaum
stattgefunden.
Es geht um die Empfindungen
der Betroffenen: das N.-Wort ist für
alle, die ich befragte, offene Verachtung!
überarbeitet wird, aber gerade bei Kinderbüchern sollte
die Änderung bei Neuauflagen eine Pflicht sein! Wir dürfen Kinder nicht länger in die Perversionen unserer Sprache hineinziehen! Diallo hat recht, wenn er fragt: »Werden
Bücher wie ‚Pippi Langstrumpf ‘ oder ‚Die kleine Hexe‘
schlechtere Bücher, wenn man das N.-Wort tilgt?«
Für den Westdeutschen Rundfunk hatte ich den
Roman »Zerbrochenes Glas« von Alain Mabanckou (Liebeskind, 2013) zu besprechen. Zu meinem Erstaunen wurde im deutschen Text das N.-Wort verwendet. Ich fragte
die Übersetzer, ob das bewusst geschehen sei. Sie verwiesen auf ein Interview mit dem kongolesischen Autor, in
dem er sich über die plötzliche
Sprach-Sensibilität der Europäer
lustig macht. Wer die Bücher dieses
Autors aber genau liest, wird nicht
übersehen, dass er solche und andere Rassismen auf die Spitze
treibt, als wolle er die europäischen
Leser durch seine Übertreibungen
provozieren, ihnen den Spiegel vorhalten.
In einer Eisdiele in Wuppertal
wurde auf einem Werbeschild
»Neger-Eis« angeboten. Ich machte
den italienischen Inhaber darauf
aufmerksam, das N.-Wort sollte
man nicht benutzen! Er überklebte
es noch in meiner Gegenwart.
Ein paar Stunden später kam
eine Kollegin in diese Eisdiele, ich
hatte ihr von meinem Vorstoß erzählt. Sie fragte den Italiener, warum er das Wort überklebt habe. Seine Antwort: »Ach, wissen Sie! Da
war so ein Spinner hier im Geschäft,
der meinte, ich sollte es verschwinden lassen. Und ich will meine Kunden ja nicht verärgern!«
Hermann Schulz, geboren 1938 in Ostafrika,
leitete von 1969 bis 2001 den Peter Hammer
Verlag in Wuppertal. Reisen führten ihn in mehr
als 50 Länder. 1998 erschien sein erster Roman
»Auf dem Strom« und seitdem über zwanzig
Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher.
Zuletzt erschienen: Mandela & Nelson.
Das Rückspiel (Aladin 2013), Warum wir
Günter umbringen wollten (Aladin 2013)
Illustration auf dieser & der nächsten Doppelseite
von Christine Aebi (Ausschnitte, siehe Seite 26)
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Kindgerechtes Sprachgefühl
Vom Unterschied zwischen Zensur und Sensibilität
Von Doron Rabinovici
Die Empörung war groß: Version ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Das Recht,
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Die Zensur habe zugeschlagen, hieß es. Die Literatur für
die Kleinsten werde von der
politischen Korrektheit nicht
mehr verschont. Tugendterroristen, so wurde behauptet,
würden gegen die Kinderbücher Sturm laufen. In Wirklichkeit war nichts dergleichen geschehen. Niemand
hatte ein Werk gegen den
Willen seines Autors unterdrückt. Nirgends war eine
ideologische Hetzjagd ausgebrochen, um ein rassistisches Wort aus einer Kindergeschichte zu verbannen. Im
Gegenteil; der aufgeregte
Protest entbrannte erst, als
ein Verlag – und zwar mit Zustimmung des Schriftstellers
– beschlossen hatte, die
Bezeichnung »Neger« aus einem Text zu entfernen. »Die
kleine Hexe« von Otfried Preußler sollte dem neuen
Sprachgefühl eines jungen Lesepublikums angepasst werden. Der Begriff hatte im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel erfahren. Einst war noch nicht in Misskredit geraten, was mittlerweile als Beschimpfung verwendet
wird. Die kleine Korrektur sollte die Geschichte nicht verfälschen, sondern sie davor bewahren, falsch verstanden
zu werden. Nichts anderes geschieht bei manchem Lektorat – in Zusammenarbeit mit dem Autor. Von Zensur konnte im Grunde überhaupt nicht die Rede sein. Trotzdem
wurde das Bemühen um Sensibilität für sprachliche Neuerungen bekämpft, als müsse nun Widerstand geleistet
werden gegen eine totalitäre Diktatur.
Der Thienemann Verlag beschloss in »Der kleinen
Hexe« nicht nur die Wörter »Neger« und »Zigeuner«, sondern auch den Begriff »wichsen« auszutauschen. »Wichsen« wurde durch »verhauen« ersetzt, denn heutzutage
kennen kleine Kinder das »Durchwichsen« nicht als das
Verhauen des Hinterns. Selbst das Schuhputzen wird
längst nicht mehr »Wichsen« genannt. Wenn Viertklässler
nun vom Wichsen oder von einem Wichser sprechen, denken sie nicht an Lederpflege und nicht an Züchtigung.
Niemand ereiferte sich über die Tilgung des Wortes
»wichsen«. Auch beklagt keiner, wenn Grimms Rotkäppchen in neuen Lesefassungen nicht mehr – wie einst im
Originaltext –, als »kleine süße Dirne« bezeichnet wird,
sondern als »Mädchen«. Wen wundert’s: Kein Kind kann
noch verstehen, was damals mit »Dirne« gemeint war. Wie
merkwürdig: Erst, wenn es um Begriffe wie »Neger« oder
»Zigeuner« geht, wird so getan, als wäre jede modernere
das hier eisern verteidigt wird, ist jenes auf Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid jener, die mit diesen Ausdrücken
verhöhnt werden. Unerträglicher noch ist die trotzige Unverdrossenheit, mit der manche darauf bestehen, mit jenen Wörtern bei jeder Gelegenheit aufzutrumpfen, die
längst zur Parole des Rassismus verkommen sind.
Wir begreifen sonst durchaus, dass Kinderliteratur in
eingängiger Sprache gehalten sein muss. Im Kindergarten
und in der Volksschule würden Texte, die mit Fußnoten
über die historische und editorische Entstehung einer Erzählung ausgestattet sind, nicht viel taugen. In diesem
frühen Alter geht es darum, die Lust auf Sprache und auf
Geschichten zu wecken und zu üben, dem Sinn einer
Handlung zu folgen. Es ist falsch, die Kleinsten mit Wörtern zu überfordern, die bloß mit langen Erklärungen ins
Geschehen eingefügt werden können.
Unsinnig ist es, alte Texte für Erwachsene zu bereinigen. Aber keiner empörte sich bisher, wenn in Jugendausgaben des »Robinson Crusoe« oder des »Oliver Twist«
dem jüngeren Publikum manche rassistischen oder antisemitischen Wendungen erspart werden, die reiferen
Lesern durchaus zugemutet werden können. Abstrus
auch, wenn ein diskriminierender Kontext im Nachhinein
beschönigt wird. Die abfälligen Bezeichnungen gegenüber den Schwarzen in »Huckleberry Finn« zu tilgen, hieße
den gesellschaftlichen Kontext und die Charaktere zu verfälschen und der Darstellung die Schärfe zu rauben.
Ganz anders liegt eben der Fall im Kinderbuch »Die
kleine Hexe.« Von manchen wird dennoch eingewendet,
der Begriff allein mache kein österreichisches Kind zum
Rassisten und seine Streichung sei noch keine Garantie
für antirassistisches Bewusstsein. Das mag sein, doch mit
dieser Logik ließe sich jede sprachliche Ignoranz rechfertigen. Wer so argumentiert, denkt zudem nur daran, wie
das Wort auf weiße Kinder wirken könnte, als gäbe es andere in unseren Schulen gar nicht oder – schlimmer noch
– als zählten sie für uns einfach nicht.
Ich kann zudem nicht vergessen, was an manchen
Hauswänden in Wien geschrieben steht: »Tötet Neger«.
Ich stelle mir vor, wie ein Volksschulkind – eines wie andere in Wien nur eben mit dunklerer Hautfarbe – durch die
Straßen geht und, um die neuen Buchstaben zu üben, alle
Aufschriften eifrig entziffert. Es lernt mit dem Alphabet
gleich die Mordhetze gegen sich selbst. Täglich ist es diesen Verfluchungen ausgesetzt. Was für ein Schock, wenn
es dann mitten in einer lieben und lustigen Geschichte
auch auf so einen Schimpfnamen stoßen muss. Allein für
dieses eine Kind ist es richtig, das Wort nicht mutwillig zu
gebrauchen, sondern tunlichst zu vermeiden.
Doron Rabinovici, 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1964 in Wien.
Er ist Schriftsteller, Essayist und Historiker. Zuletzt publiziert: Andernorts,
Suhrkamp 2010; eine kleine Auswahl der Essays und Kommentare des Autors
ist auf seiner Homepage nachlesbar: http://www.rabinovici.at/
Über den Umgang mit
»belasteten« Wörtern
Von Hildegard Gärtner
Die Diskussion um »political correctness« im Kinder- nicht zu verändern, sondern ihm eine kurze Erklärung vorbuch wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt, die meistens miteinander vermischt werden, weil das Thema vielfach emotional abgehandelt wird und man schnell bei
Betroffenheitsstellungnahmen landet. Diese Betroffenheit
generiert dann Lösungen, wie mit dem Problem der »belasteten« Wörter umzugehen sei – der einfachste Weg
scheint, sie alle zu entfernen. Was nicht da ist, mit dem
muss ich mich auch nicht beschäftigen.
Solche Lösungen sind mir zu oberflächlich: Mit dem
Entfernen einzelner Wörter aus Texten entferne ich weder
diskriminierendes Verhalten aus der Gesellschaft noch
schaffe ich ein deutlicheres Bewusstsein dafür, wo diskriminiert wird. Diskriminierung findet nicht nur auf der
Wortebene statt.
Wenn ich mich mit »belasteten« Wörtern beschäftige, lande ich immer wieder bei denselben Fragen, die
letztlich lauten: »Wie weit darf ich in das geistige Eigentum eines anderen Menschen eingreifen?« und »Wie steht
es um die Freiheit der Kunst?«
Zur ersten Frage: Bis zu welchem Punkt sind Eingriffe in
das geistige Eigentum anderer Menschen gerechtfertigt
und ab wo nicht mehr? Und noch wichtiger: Wer entscheidet, wo diese Grenze verläuft?
Ich meine, dass formale Änderungen, wie z.B. orthografische, immer und auch ohne Zustimmung der AutorInnen möglich sind, wenn der Text nicht eine bestimmte
Form bedingt (wie z.B. konkrete Poesie).
Abgesehen davon unterscheide ich als Verlegerin
zwischen lebenden und verstorbenen AutorInnen. Erstere
entscheiden darüber, was sie in einem Text sagen und wie
sie es sagen. Ich kann das mit ihnen diskutieren und gegebenenfalls einen Text nicht veröffentlichen, wenn ich Haltungen, die darin vertreten werden, nicht mittragen kann.
Bei Büchern verstorbener AutorInnen muss man Inhalt, Wortwahl und Bilder im historischen Kontext sehen.
Literatur ist immer auch ein Ausdruck der Zeit, in der sie
entstanden ist. Und da ist für mich klar, dass ich Geschichte maximal kommentieren, aber nicht verändern kann.
Wenn irgendeine Komponente eines Buches im gegenwärtigen Kontext so missverständlich und diskriminierend
ist, dass es zu viele Erklärungen brauchen würde, um dieses Werk für die heutige Leserschaft verständlich zu machen, würde ich mich dafür entscheiden, es nicht mehr
aufzulegen.
Dazu zwei Beispiele aus unserem Verlag: Wir haben
in unserem Herbstprogramm auf vielfachen Wunsch
einen Klassiker von Mira Lobe neu aufgelegt, »LOLLO«.
Der Text erzählt in Reimen von einer Puppe, die auf einem
Müllplatz alles Mögliche findet und sehr liebevoll die kaputten Wesen und Dinge repariert. Lollo ist eine schwarze
Puppe und wird einmal von Mira Lobe als Negerpuppe bezeichnet. Wir haben uns entschieden, den Originaltext
anzustellen, die deutlich macht, dass dieses Wort im
historischen Kontext zu sehen ist. Wir können so anregen,
dass diese Thematik im Umfeld der Kinder diskutiert wird.
Aber nicht nur Texte sind betroffen: Wie verfahren wir
mit Bildwelten? Müssen aus allen historischen Bildern, auf
denen Menschen stereotyp in diskriminierenden Situationen dargestellt werden, diese Menschen entfernt werden?
»Titi im Urwald« von Mira Lobe und Susi Weigel ist
ein früher feministischer Text, der sich auch heute noch
gut in unserem Programm machen würde. Die Illustrationen zeigen aber ein so stereotypes Bild von Afrikanern,
dass es mir nicht vertretbar erscheint, dieses Buch in seiner ursprünglichen Gestaltung neu aufzulegen.
Zur zweiten Frage: Kinderliteratur ist eine literarische Gattung, die sich von Erwachsenenliteratur durch das Alter
der Zielgruppe unterscheidet. Kinderliteratur ist Kunst,
die eine bestimmte Zielgruppe anspricht, die sie auch erreichen soll. Das darf sie mit allen Mitteln, die der Kunst
zur Verfügung stehen.
AutorInnen, die für Kinder schreiben, sind keine
»Schreiberlinge« zweiter Klasse, die bei der Kinderliteratur gelandet sind, weil sie keine »richtigen« Bücher zustande bringen. Sie sind mit demselben Respekt zu
behandeln wie AutorInnen, die für andere Zielgruppen
schreiben. Sie müssen einfach und verständlich schreiben, das heißt aber nicht dümmlich oder kindisch.
Kinderliteratur ist keine erzieherische Maßnahme.
Pädagogik muss auf anderen Ebenen stattfinden: Dort, wo
Erwachsene Kinder begleiten, ihre Fragen beantworten,
ihnen mit Erklärungen Welten zugänglich machen, auch
wenn all diese Dinge für die Erwachsenen manchmal unbequem und nervend sind.
Wenn man sich von Literatur eine erzieherische Wirkung erwartet, warum wird dann zwischen Kindern und
Erwachsenen unterschieden? Auch in der Welt der Erwachsenen kommt Diskriminierung vor, und das nicht zu
knapp. Da wäre einiges an Erziehungsarbeit vonnöten.
Es reicht nicht, einzelne Begriffe auszuwechseln und
anzunehmen, damit sei das Bezeichnete aus der Welt
geschafft und komme im Leben von Kindern nicht mehr
vor. Wir müssen Kinder so stärken, dass sie sich gegen
negative Einflüsse wehren können, dass sie Dinge differenziert und kritisch betrachten, dass sie nachdenken.
Dazu kann Literatur beitragen.
Hildegard Gärtner gestaltet seit gut 20 Jahren als Geschäftsführerin und Lektorin das Programm des 1923 von den Österreichischen Kinderfreunden gegründeten Wiener Jungbrunnen Verlags. Im laufenden Herbst wurde das 1987 erstmals erschienene Buch »Lollo« von Mira Lobe und Susi Weigel neu aufgelegt.
In einer Erklärung zu Beginn des Buches heißt es: Das ist Lollo. Sie ist schwarz –
eine schwarze Puppe. Als dieses Buch geschrieben wurde, hießen solche Puppen
»Negerpuppen«. Heute ist die Bezeichnung »Neger« abwertend. Deshalb wollen Menschen mit dunkler Hautfarbe so nicht mehr genannt werden.
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WAS
machen?
Zur Debatte über nachträgliche Änderungen in (Kinder)büchern
Von Christine Aebi und Lilly Axster
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Beginnen wir konkret mit unserem Buch »DAS machen?
Projektwoche Sexualerziehung in der Klasse 4c«. Es ist ein
Bilderbuch über und für Kinder, die sich dafür interessieren, warum Leute Sex machen, was für verschiedene Arten
Liebe es gibt, welche Worte im Zusammenhang mit Sex
verdächtig klingen, wie Binden aussehen könnten, was
und warum in der Beschäftigung mit Körpern und Berührungen verletzend ist, wieso Erwachsene erstaunliche Unterwäschemodelle haben, wie es sich anfühlt, verliebt zu
sein, ob es neben x und y auch andere Buchstaben gibt,
die Rückschlüsse auf Geschlechter zulassen, wieso Erwachsene beim Sex manchmal gerne Rollen spielen, ob
Orgasmus mit zwei, drei oder vier s geschrieben wird, wieviele Mütter ein Kind haben kann …
Es war ein langer Prozess, zu entscheiden, welche
kindlichen Körper wir repräsentieren, welche Namen, von
wessen Haar- und Hautfarbe wir sprechen, wie Kleidung
formatieren soll, welche unserer Protagonist_innen auf
gar keinen Fall über Sexualität sprechen und welche
immer noch mehr wissen möchten. Da diesen Entscheidungen wie immer unsere jeweils eigene Sprechposition,
Haltung und Identität zugrunde liegt, war für uns zentral,
wie Behauptungen als solche markiert, Setzungen sprachlich und optisch ausgewiesen und Projektionen wie auch
Verschiebbarkeiten erkennbar gemacht werden können.
Es gibt Farbe, die Hautfarbe heißt.
Aber wessen?
Dieser Minidialog und die Versuchsanordnung der Farben,
Papiere, Stoffschichten und Körperentwürfe sind ein Beispiel für den Versuch, solche Beweglichkeiten in Text und
Bild umzusetzen. Das Bemühen um diese Art der Durch-
lässigkeit ist natürlich kein Garant dafür, dass Setzungen
von Leser_innen nicht doch anders verstanden werden.
Allein die Vorstellung, dass ein Wort oder eine Darstellung
jetzt oder in Zukunft einzelne Kinder trifft, abwertet, verletzt, diskriminiert, kurz schwächt, macht unruhig.
»Natürlich ändern« ist unser erster Gedanke. Damit die
Worte und Bilder, um die wir so gerungen haben, niemanden auslachen, fertig machen, ausschließen oder verstummen lassen.
In der Debatte taucht immer wieder die Frage auf,
was Kindern zugemutet und zugetraut werden kann. Wir
setzen früher an, bei uns Erwachsenen, den Produzent
_innen und Käufer_innen.
Wir müssen keine Vermutungen darüber bemühen,
was ein Kind wie auffasst und wohin was bei einem Kind
fällt, um zu beurteilen, was wir selber beim Lesen unerträglich finden, z.B. die schleichende Normalisierung diskriminierender Darstellungen und Sprache. Das nagt, das
verunsichert, das verstört. Denke nur ich so, wieso stört
mich das, bin ich empfindlich, wie kann es sein, dass so
etwas erscheint, hat das niemand bemerkt … sind einige
Gedanken, die auftauchen, wenn unwidersprochen abgewertet, pauschalisiert, verhöhnt wird. Dabei spielt es keine
Rolle, ob eine Formulierung oder Illustration als z.B. rassistisch oder homophob geplant war, unbedacht ist oder
»Kind seiner Zeit«. Aktiv subtiler Normalisierung etwas
entgegenzusetzen, jeden Tag aufs neue, verstehen wir als
eine der Hauptaufgaben von Erwachsenen im Zusammenleben mit Kindern.
Wieso also nicht auch und gerade im Bereich des
geschriebenen Wortes und gemalten Bildes.
Was konkret adaptiert werden könnte und wie und von
wem, bleibt, sobald es die Verfasser_innen selber nicht
mehr gibt oder sie nicht interessiert sind, ihre Werke zu
überarbeiten, letztendlich im Bereich von gesellschaftspolitischen Diskussionen verortet. Wir selber würden uns
wünschen, dass Verlage auf jene Stimmen vertrauen, die
sich, die Haltung des jeweiligen Buches zur Kenntnis nehmend, mit dem Wissen um aktuelle, emanzipatorische
Denkbewegungen zu Wort melden.
Das können die Stimmen von Leser_innen sein, von
Fachleuten, politischen Aktivist_innen oder auch Institutionen. Denkbar wäre auch eine testamentarische Verfügung von Autor_innen und Illustrator_innen, in der sie ihr
grundsätzliches OK für Adaptionen geben, ähnlich einer
Patient_innenverfügung, möglichst mit Ideen für ein konkretes Procedere und inhaltliche Gewichtigungen.
Ein allgemein gültige Vorgangsweise kann es nicht
geben. Wichtig erscheint uns, jedenfalls nicht (nur) Maß
zu nehmen an individualisierten Betroffenheiten. Bei dieser Art Maßstab wird häufig übersehen, dass Diskriminierung nicht nur diejenigen trifft, die mit der jeweiligen Herabsetzung unmittelbar adressiert werden oder sich
angesprochen fühlen, sondern gleichzeitig jene in ihrem
Überlegenheitsgefühl stärkt, die sich innerhalb der Norm
wähnen, und deren abschätzigen Blick auf die sogenannt
»Anderen« verfestigt. Kein Kulturbereich, der ernst genommen werden und Maßstäbe setzen will, kann heute
auf die Erkenntnisse und Arbeiten der postcolonial und
queer studies, der feministischen Wissenschafts- und
Kunstkritik, der Repräsentationsforschungen und Kunstgeschichte verzichten. Involviertes Betrachten und Lesen
im Sinne von Reflektieren der Brille, durch die jemand
sieht, kann sich kaum auf einen Standpunkt zurückziehen, der Werktreue über Wirkung stellt. Es geht nicht um
correctness um einer Korrektheit willen. Es geht um Involviertheiten, die eigenen und die Anderer. Diese wahrzunehmen und anzuerkennen, ist die Grundlage der Debatte, ob in Büchern für Kinder und Jugendliche Änderungen
erlaubt, vielleicht sogar notwendig sind.
Eine erstaunliche Leerstelle ist die Frage nach dem
diskriminierenden Potential nicht nur von Text, sondern
von Illustrationen. Womöglich lässt die Überforderung der
ungleich schwierigeren Eingriffe in Bilder eine Diskussion
erst gar nicht aufkommen. Wir wissen, es ist komplex und
gibt kein Patentrezept. Aber wir plädieren für das Bemühen darum, dass jedes Kind sich bei der Buchlektüre
gemeint und sicher fühlen kann und wünschen uns für
unsere Bilder und Texte auch in 5, 10 oder 50 Jahren ein
ggf. neuerliches Ringen darum.
Lilly Axster lebt als Autorin und Regisseurin in Wien; zusammen mit Corinne
Eckenstein gründete sie das TheaterFOXFIRE; seit 1995 ist sie Mitarbeiterin bei
SELBST-LAUT. Verein zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch in Wien.
Christine Aebi lebt als freischaffende Künstlerin in den Bereichen Malerei,
Grafik, Bühnenbild und Illustration in Winterthur; seit 2010 ist sie Lehrbeautragte an der Schule für Gestaltung St. Gallen.
Nach drei gemeinsamen Buchprojekten erschien zuletzt:
DAS machen? Projektwoche Sexualerziehung in der Klasse 4c,Gumpoldskirchen: de’A Publishing 2012, 56 S. | € 24,50 | ab 8 Jahren
(ausgezeichnet mit dem Österreichischen Kinderbuchpreis 2013, nominiert
für den Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis 2013)
Illustration von Christine Aebi aus DAS machen?
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Für und wider die Worte
Zur Debatte über Rassismus in der Kinder- und Jugendliteratur
Von Sonja Matheson
Über Rassismus in Kinderbüchern wird schon lange gabe schon seit einigen Jahren ein »Südseekönig«, auch
debattiert. Bereits 1980 erschien, vom Weltkirchenrat in
Genf herausgegeben, das Buch »The Slant of the Pen –
Racism in Children’s Books«. Es wurde 1981 in deutscher
Übersetzung unter dem Titel »Das Gift der frühen Jahre –
Rassismus in der Jugendliteratur« im Lenos Verlag publiziert. Es war nicht das erste und nicht das letzte Werk,
das sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Thema
Rassismus in Kinderbüchern befasste. Als häufiges Beispiel wird »Pippi Langstrumpf fährt nach Taka-Tuka-Land«
herangezogen.
1994 kam es zu einer öffentlichen Diskussion um
»Jim Knopf« von Michael Ende, nachdem eine schwarze
Mutter bei der Kindergartenleitung ihrer Wohngemeinde
bei Zürich vorgesprochen hatte. Sie bat darum, dieses
Buch nicht weiter als Unterrichtsmaterial einzusetzen,
denn ihr fünfjähriger Sohn fühle sich durch die stereotype
Darstellung des schwarzen Jungen beleidigt. Dem Wunsch
der Mutter wurde nicht entsprochen. Der Fall kam in die
Presse und füllte die Leserbriefspalten.
Tonlage und Argumente von 1994 und 2013 sind frappant ähnlich, Buchtitel und Autorennamen lassen sich
austauschen. Einem so engagierten und verdienstvollen
Autor wie Michael Ende könne man doch nicht ernsthaft
Rassismus vorwerfen. Man selbst habe den »Negerkönig«
im Taka-Tuka-Land auch unbeschadet überstanden und
sei nicht Rassist geworden, ist gleichermaßen im Feuilleton wie auf Leserbriefseiten zu lesen. Und überhaupt sei
es sowieso unmöglich, dass ein einziges Wort einen Menschen zum Rassisten werden lasse.
Bei den Debatten fällt auf, dass jene, die sich aus
grundsätzlichen Überlegungen dafür aussprechen, in Kinderbüchern keine beleidigenden und diskriminierenden
Bezeichnungen für Menschen zu verwenden, einen schweren Stand haben. Sie werden unter anderem der Zensur
bezichtigt – ein schwerwiegender Vorwurf. Auf der anderen Seite gibt es die Weltverbesserer, die in Rundumschlägen all jene des Rassismus bezichtigen, die sich aus differenzierten Erwägungen gegen eine Umschreibung von
historischen Texten aussprechen. Ein nicht weniger
schwerwiegender Vorwurf.
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Einfache Antworten sind nicht zu haben
Rassismus und Rassismusvorwürfe sind eine ernste Angelegenheit. Allein die Vehemenz der Debatte macht deutlich, dass es hier nicht um einen Nebenschauplatz geht;
die Zeit hatte das Thema auf der Frontseite platziert. So
viel Aufmerksamkeit für die sonst so marginalisierte
Kinderliteratur – und doch so wenig Substanz. Mehrheitlich wird emotional argumentiert.
Bleiben wir konkret beim »Negerkönig« von Astrid
Lindgren. Dieser König ist in der deutschsprachigen Aus-
das hat zu Diskussionen geführt. Der Eingriff seitens des
Verlags geschah zweifellos in guter Absicht. Vorurteile und
Abwertungen gegenüber Menschen anderer Kulturen
respektive gegenüber Minderheiten wirken tiefgreifend
und der Sprachgebrauch spielt dabei eine zentrale Rolle.
Gerade hier wird aber deutlich, dass eine Umschreibung
eines einzelnen Wortes in aller Regel zu kurz greift, wenn
nicht gar falsch ist.
Das Wort »Neger« hat seine Wurzeln im europäischen Rassismus, da gibt es nichts zu deuten. Wenn es
verwendet wird, dann um zu beleidigen oder zumindest
die eigene Überlegenheit hervorzustreichen. Das war
auch früher so, als das Wort noch salonfähig war. Dass das
Wort unkommentiert in Kinderbüchern vorkommt, ist
deshalb inakzeptabel, ganz egal, ob es einst aus Mangel
einer Alternative oder schlicht aus Unbekümmertheit verwendet wurde. Der Verweis, dass diese Bücher begleitend
gelesen werden müssen, ist gut gemeint. Aber ob Eltern
»Pippi Langstrumpf« mit ihren Kindern kritisch lesen und
diese gleich noch über das Kolonialsystem und Rassismus
aufklären, ist doch fraglich.
Was aber noch schwerer wiegt als das N-Wort ist die
durch und durch ethnozentrische Haltung gegenüber den
primitiven »Eingeborenen«. Die ist auch mit einem »Südseekönig« nicht vom Tisch. Im Fall von Pippi Langstrumpf
wäre die ursprüngliche Variante »Negerkönig« ehrlicher
und würde die offensichtlichen Mängel dieses Buches
schneller fassbar machen.
Pippi war und ist eine verdienstvolle Mädchenfigur
und hat viele Leserinnen fürs Leben geprägt – so wie gute
Literatur das eben kann. Aber der Zweck heiligt nicht die
Mittel. Vor blinden Flecken in Bezug auf das koloniale
Weltbild war auch Astrid Lindgren nicht gefeit, und davor
sollten wir, bei allem Respekt für ihr Werk, die Augen nicht
verschließen. Bücher mit frechen und eigenständigen
Mädchenfiguren sind seither viele erschienen, und
das Aufarbeiten der Kolonialgeschichte muss auch
die Kinderliteratur miteinbeziehen. Geht es nur um
einzelne Worte, lässt sich
das bei Bedarf mit einem
Kommentar klären. Meistens geht es aber um mehr.
Qualität im Kinderbuch
muss sich neben allen anderen Kriterien zwingend
auch an den Werten antirassistischer Erziehung
messen. Das bezieht sich
sowohl auf den Subtext wie auf die Wortwahl im Detail. Und es bezieht sich auf
die Buchauswahl. Die Kinderliteratur erneuert sich laufend, schauen wir doch
etwas öfter vorwärts als rückwärts. Wir sind alle aufgefordert, kritisch zu lesen
und auszuwählen – Kindern einen Zugang zu einem vielfältigen Literaturangebot
zu ermöglichen, in dem die heutige Welt in ihrer Komplexität und Respekt vor
dem Anderen als eine Grundhaltung erfahrbar wird, die unverhandelbar ist.
Literaturnachweis
Jörg Becker und Charlotte Oberfeld (Hg.): Die Menschen sind arm, weil sie arm sind – Die Dritte Welt im
Spiegel von Kinder- und Jugendbüchern, Frankfurt: Haag + Herchen 1977.
Roy Preiswerk (Hg.): The Slant of the Pen, World Council of Churches, Genf 1980; dt.: Das Gift der frühen
Jahre, Basel: Lenos Verlag 1981.
Heidi Rösch: Jim Knopf ist nicht schwarz, Schneider Verlag Hohengehren 2000.
Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf fährt nach Taka-Tuka-Land, Hamburg: Oetinger 2009.
Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer; erstmals erschienen: Stuttgart: Thienemann 1960.
Sonja Matheson, Zürich, ist Geschäfts- und Programmleiterin von Bobab Books. Diese Schweizer Fachstelle
zur Förderung der kulturellen Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur publiziert nicht nur Bücher, sondern
ist auch in Projekten engagiert, die zum Nachdenken über das kulturelle Selbstverständnis, über Vorurteile
und Ausgrenzung anregen. www.baobabbooks.ch
Im Gleichgewicht
Baobab heisst der Affenbrotbaum – in seinem Schatten, so heißt es, sitzen die Menschen und erzählen
sich Geschichten. Von diesem Baum hat Baobab
Books seinen Namen und sein Logo. Und das passt.
Mit seiner Arbeit will der gemeinnützige Verein mit
Sitz in Basel »zum Nachdenken über das kulturelle
Selbstverständnis, über Vorurteile und Ausgrenzung«
anregen. Seit Mitte der 70er Jahre publiziert Baobab
Books zu diesem Zweck alle zwei Jahre eine Empfehlungsliste für Kinderund Jugendliteratur mit interkultureller Thematik, seit 1989 unter dem
Titel »Fremde Welten«. Da mittlerweile, wie es im Vorwort heißt, auch im
Zuge der Globalisierung und Transkulturalität nicht mehr wirklich so klar
ist, »wo das sogenannte Fremde anfängt und wo es aufhört«, hat Baobab
Books einen neuen Namen für die ab jetzt im Jahresrhythmus erscheinende Empfehlungsliste gefunden: »Kolibri«. Die kleinen wendigen Flugakrobaten sind »Meister des Gleichgewichts«, die keinen Aufwand scheuen, um sich mit ihren langen Schnäbeln und den ebenso langen Zungen
den besten Nektar aus den Blüten zu holen. Den Kolibris will es die
Redaktion gleichtun und aus den Neuerscheinungen die bewegensten,
spannensten und klügsten Bücher auswählen, »die sich mit der kulturellen Identität und mit dem interkulturellen Zusammenleben beschäftigen.
Bücher, die globale Zusammenhänge anschaulich machen, Rassismus
thematisieren, Hintergründe von Migration und Konflikten aufzeigen«.
80 Titel aus dem Erscheinungszeitraum 2011 bis Frühjahr 2013 für LeserInnen aller Altersgruppen sind im ersten »Kolibri« enthalten, kurz rezensiert und mit Stichwörtern versehen. Der Kriterien- und Fragenkatalog,
den die RezensentInnen in Ihrer Urteilsfindung herangezogen haben,
wird den Besprechungen vorangestellt, Register (AutorInnen, Titel, Themen sowie Kontinente, Regionen, Länder) erleichtern die Suche. Zu finden sind preisgekrönte und bekannte Titel, aber auch Randständiges.
Naturgemäß kann man über einzelne Bücher diskutieren, die Sorgfalt der
RezensentInnen und der Redaktion ist dem Empfehlungsverzeichnis in
jedem Fall abzulesen. Alle Titel (dazu einige aus früheren Listen) sind
auch auf der Online-Datenbank unter www.baobabbooks.ch/de/kolibri
zu finden. Dem »Kolibri« ist ein guter Flug zu wünschen.
(fl)
Bezugsbedinungen: in der Schweiz kostenlos bei Baobab Books (Jurastrasse 49, CH-4053 Basel,
T. +41 61 333 27 27, M. [email protected]), in Deutschland und Österreich gegen eine
Schutzgebühr von € 4,50 beim Arbeitskreis für Jugendliteratur ([email protected]).
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