VGH München: BayEUG, RSO, Disziplinarausschuss

VGH München, Beschluss v. 22.07.2015 – 7 CS 15.1231
Titel:
VGH München: BayEUG, RSO, Disziplinarausschuss, Schulordnung, Einhaltung des
Verfahrens, Verhältnismässigkeit, Schimmelpfennig, Schutzgeld, Rechtsquelle,
aggressiven Verhaltens, Ordnungsmaßnahme, Sportunterricht, Rechtsschutzziel, ohne
mündliche Verhandlung, Erpressung, Realschulordnung, Schülerin, Schüler,
Gewaltanwendung
Normenketten:
VwGO § 80 V
BayEUG Art. 55 I Nr. 5, 86 I
§ 17 RSO
VwGO § 80 V
BayEUG Art. 55 I Nr. 5, 86 I
§ 80 Abs. 5 VwGO
Schlagworte:
Entlassung, Disziplinarverfahren, Ordnungsmaßnahme, Lehrerkonferenz, Erziehungsberechtigter
Tenor
I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 30. April 2015 wird in Nrn. 1 und 2 aufgehoben.
II.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vor dem Verwaltungsgericht Ansbach (Az. AN 2 K
15.00567) wird angeordnet.
III.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
IV.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner gegen seine Entlassung von
der Städtischen Real- und Wirtschaftsschule H...-...-... in F. gerichteten Klage.
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Das Verwaltungsgericht hat seinen Antrag mit Beschluss vom 30. April 2015 abgelehnt. Die
ausgesprochene Entlassung erweise sich nach vorläufiger Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig und sei
aufgrund der Vielzahl der vom Antragsteller begangenen kleineren Verstöße und insbesondere angesichts
der von mehreren Schülern und Schülerinnen bestätigten Erpressung von Schutzgeld von einem Mitschüler
sowie seines im Sportunterricht gezeigten, aggressiven Verhaltens verhältnismäßig.
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Der Antragsteller verfolgt sein Rechtsschutzziel im Wege der Beschwerde weiter. Er macht insbesondere
geltend, seinen Eltern und Erziehungsberechtigten sei weder ein vorläufiges Ermittlungsergebnis mitgeteilt,
noch seien deren Stellungnahmen bei der Entscheidung des Disziplinarausschusses berücksichtigt worden.
Da im Übrigen der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt
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worden sei, erscheine seine Entlassung unverhältnismäßig. Er hat beantragt,
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den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach aufzuheben und die aufschiebende Wirkung
seiner Klage anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin hat beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen
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und verteidigt den angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts. Alle formellen Vorgaben des
Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes (BayEUG) seien eingehalten worden, die Entlassung sei
rechtmäßig.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der vorgelegten Schulakte
Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der bereits anhängigen Klage des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt, weil
dessen Entlassung nach summarischer Überprüfung rechtswidrig ist. Die Schule hat das der Entscheidung
des zuständigen Disziplinarausschusses gemäß § 17 der Schulordnung für die Realschulen in Bayern
(Realschulordnung - RSO) bzw. - inhaltsgleich - § 16 der Schulordnung für die Wirtschaftsschulen in Bayern
(WSO) vorausgehende Verfahren nicht eingehalten.
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Zwar kann bei massiver Gewaltanwendung oder -androhung gegenüber Mitschülern je nach den
Umständen des Einzelfalls durchaus die Entlassung als Ordnungsmaßnahme in Betracht kommen. So kann
beispielsweise die als ernsthaft empfundene Bedrohung eines Mitschülers mit einem Messer die Entlassung
von der Schule rechtfertigen (BayVGH, B. v. 4.6.2012 - 7 CS 12.451 - juris). Die von der Schule
dokumentierten Ermittlungen belegen jedoch nicht, dass diese das in einem solchen Fall zwingend
vorausgehende, vorgeschriebene Verfahren eingehalten hat.
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Nach Art. 86 Abs. 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG)
können zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags oder zum Schutz von Personen und Sachen
nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ordnungsmaßnahmen gegenüber Schülerinnen und Schülern
getroffen werden, soweit andere Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen. Die (sofort vollziehbare)
Entlassung von der Schule durch die Lehrerkonferenz (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9, Art. 14, Art. 87 BayEUG)
bzw. durch den bei größeren Schulen an deren Stelle tretenden Disziplinarausschuss (Art. 58 Abs. 1 Satz 3
BayEUG) greift empfindlich in die Rechtsstellung des betroffenen Schülers ein und ist mit erheblichen
Nachteilen für ihn verbunden (Art. 55 Abs. 1 Nr. 5 BayEUG), auch wenn der entlassene Schüler seine
Ausbildung an einer anderen Schule fortsetzen kann. Sie ist deshalb nur zulässig, wenn der Schüler durch
schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer
gefährdet hat (Art. 86 Abs. 7 BayEUG). Außerdem muss die Schule den Sachverhalt umfassend und
zeitnah aufklären und ihre Ermittlungen sorgfältig dokumentieren (BayVGH, U. v. 13.6.2012 - 7 B 11.2651 juris; Kiesl/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, Art. 86 BayEUG Rn. 15). Hierzu bestimmen § 17 Abs. 1 Satz 1
und Abs. 2 RSO, dass die Untersuchung von der Schulleiterin oder vom Schulleiter oder einem
beauftragten Mitglied der Lehrerkonferenz oder des Disziplinarausschusses zu führen, das vorläufige
Ergebnis der Untersuchung den Erziehungsberechtigten unter Hinweis auf die Möglichkeit zur
Stellungnahme durch Einschreiben mitzuteilen und das Untersuchungsergebnis schriftlich niederzulegen ist.
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Gemessen daran erweist sich die von der Schule ausgesprochene Entlassung des Antragstellers als
rechtswidrig.
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Die Entscheidung des Disziplinarausschusses wurde durch die Schule nicht in der durch § 17 RSO
vorgeschriebenen Weise vorbereitet. § 17 RSO sieht hierzu für die Entlassung mehrere Verfahrensschritte
vor. Zunächst hat der Schulleiter bzw. die Schulleiterin oder ein beauftragtes Mitglied der Lehrerkonferenz
oder des Disziplinarausschusses dem Schüler nach Aufnahme der Untersuchung ausreichend Gelegenheit
zu geben, sich zu äußern (§ 17 Abs. 1 Satz 2 RSO). Anschließend wird das vorläufige Ergebnis der
Untersuchung den Erziehungsberechtigten durch Einschreiben mitgeteilt, die gleichzeitig unter
angemessener Fristsetzung auf die Möglichkeit zur Stellungnahme und auf ihre Rechte nach Art. 86 Abs. 9
und Art. 87 Abs. 1 Satz 3 BayEUG hinzuweisen sind (§ 17 Abs. 2 Satz 1 RSO). Das Ergebnis der
Untersuchung wird unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Erziehungsberechtigten schriftlich
niedergelegt (§ 17 Abs. 2 Satz 3 RSO).
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Nach den von der Schule vorgelegten Akten, von deren Vollständigkeit das Gericht ausgeht, wurde im
vorliegenden Fall weder den Eltern des Antragstellers das vorläufige Ergebnis der Untersuchung per
Einschreiben und unter Hinweis auf die Möglichkeit einer Stellungnahme mitgeteilt, noch befindet sich ein
schriftlich niedergelegtes Untersuchungsergebnis bei den Akten. Die beiden als Anlage 7 und 8 bei den
Akten befindlichen, den Eltern des Antragstellers nach Aktenlage lediglich formlos übersandten Schreiben
der Schule vom 9. März 2015 genügen diesen Anforderungen an eine entsprechende Unterrichtung der
Eltern nicht. Zwar informieren sie die Erziehungsberechtigten darüber, dass der Antragsteller ab sofort vom
Unterricht ausgeschlossen wird und dass „aufgrund nachfolgend beschriebenen Vorfalls“ ein
Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet werde, weil eine massive Störung des Schulfriedens vorliege, aus
der sich eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften ergebe
und dass die Schule ein solches Verhalten auf keinen Fall dulden könne. Worin allerdings die geltend
gemachte, massive Störung des Schulfriedens bestanden hat, geht aus keinem der beiden Schreiben
hervor, die zwar angekündigte („nachfolgend beschriebener Vorfall“), aber nicht folgende Darstellung der
maßgeblichen, dem Antragsteller zur Last gelegten Verfehlungen fehlt ebenso wie das Ergebnis der von der
Schule durchgeführten Untersuchung.
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Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang der Auffassung ist, den Eltern des Antragstellers
seien alle relevanten Vorfälle, die zur Einberufung des Disziplinarausschusses geführt haben, ohnedies
bekannt gewesen, eine genauere und lediglich wiederholende Beschreibung des
Untersuchungsergebnisses habe sich deshalb erübrigt, verkennt sie, dass die Einhaltung des in § 17 RSO
vorgesehenen Verfahrens zum einen nicht nur einer (nochmaligen) eingehenden Überprüfung der
eingeleiteten Maßnahmen und des bereits ermittelten Sachverhalts und damit dazu dient, dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit im Falle der - harten - Ordnungsmaßnahme einer Entlassung Rechnung zu tragen,
sondern zum anderen auch dazu, sicherzustellen, dass die Eltern eines noch minderjährigen Schülers unabhängig von ihrer tatsächlich bestehenden Kooperationsbereitschaft - in einer (verfassungs-)rechtlichen
Vorgaben genügenden und darüber hinaus nachweisbaren Weise bereits in einem frühen Stadium in das
Verfahren einbezogen werden.
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Der nicht näher substantiierte Hinweis, die Mutter des Antragstellers habe sich bei einem Gespräch mit der
stellvertretenden Schulleiterin am 11. März 2015 (das in den Akten indes auch nicht - etwa durch einen
entsprechenden Vermerk oder ein kurzes Gesprächsprotokoll - dokumentiert ist), lediglich „schützend vor
ihren Sohn gestellt“ genügt diesen Verfahrensanforderungen ebenfalls nicht und liefert insbesondere auch
nicht den nach den Grundsätzen der materiellen Beweislast (vgl. dazu in einem ähnlichen Fall BayVGH, U.
v. 13.6.2012 - 7 B 11.2651 - juris m. w. N.) der Schule obliegenden Nachweis, dass und mit welchem Inhalt
ein derartiges Gespräch stattgefunden hat.
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Aus den dargestellten - formellen - Gründen war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
hier stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs.
1, § 52 Abs. 2 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, abgedruckt bei
Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014.
20
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.