16. FORUM • KULTUR UND ÖKONOMIE 17./18. März 2016

16.FORUM•KULTURUNDÖKONOMIE
17./18.März2016,Dampfzentrale,Marzilistrasse47,Bern
LiaisonsdangereusesodergegenseitigeInspiration?
ModellWirtschaft-ModellKultur:vonUnterschiedenundGemeinsamkeiten
VortragPhilippTingler,18.März2016
Kunst und Konsum: Alles dasselbe?
Ein paar Anmerkungen zum Zustand und Stellenwert der Kunst in der spätmodernen Gesellschaft
Oder: Warum der Kauf einer Birkin Bag nicht das Gleiche ist wie die Lektüre eines Romans
BILD 1: Zitat Adalbert Stifter
1.
Die Ästhetisierung der Warenwelt
Was ist Kunst heute, meine Damen und Herren? Nicht wenige Sachverständige würden sagen: eine Ware.
Und was sind Waren? Kunst! Die Warenwelt tritt uns immer kunsthafter und ästhetisierter entgegen,
Produkte begegnen uns mit Geschichten und Inszenierungen, die Artefakte und Objekte des Alltags werden
semiotisiert, d.h. aufgeladen mit Zeichen und Bedeutungen. Dinge wie Autos, Mobiltelefone oder
Handtasche verdichten und fiktionalisieren Erwartungen und Erfahrungen; sie helfen uns, Tätigkeiten,
Situationen und Erlebnisse zu interpretieren, zu verklären oder umzudeuten, sie sind Medien der Erziehung
und Unterhaltung und Vehikel der Lebensgestaltung und Strukturierung der Lebenswelt. Mit einem Wort:
Kunst.
Dinge modellieren Erfahrungen. Und sie modellieren das Ich: Gegenwärtig leben wir in einer Gesellschaft,
die Selbstperfektionierung, also die Arbeit am Ich, als Selbstgenuss postuliert; einer der letzten Leitwerte in
der Vielfalt der uns umgebenden polyvalenten, hochfragmentierten Kontingenzkultur ist: Authentizität, das
absolute Sichselbstgehören. Ein Weg dieser Selbstfindung läuft über den Konsum: Der Kauf wird zur
Ausdruckshandlung. Die Dinge ihrerseits sprechen und führen uns in ein Wunderland, in dem wir unser
ideales Selbst verkörpern. Oder jedenfalls verheissen sie das. Wenn’s nicht klappt, kaufen wir einfach was
Neues.
Einige Zeitdiagnostiker sprechen gar bereits vom „Ende der Arbeit“, und zwar in dem Sinne, dass nun eben
nicht mehr die Arbeit, sondern der Konsum zum zentralen gesellschaftlichen Integrationsmechanismus
geworden sei: der Konsum und Besitz bestimmter Sachen und ihrer symbolischen Aura sei essentiell für die
gesellschaftliche Teilhabe und für Prozesse der Identitätsbildung geworden. Dinge dienen der
Kommunikation mit anderen, zur Befestigung des sozialen Status und transportieren semiotische Codes, die
auf soziale Differenzierungen verweisen. Kulturanthropologisch ist hier von einem spätmodernen
Fetischismus die Rede, von quasi-religiöser Aufladung der Warenwelt, die in der gänzlich entzauberten
Spätmoderne einen Ersatz in der Transzendenz des Immanenten, im goldenen Kalb des Konsums bieten soll.
Das heisst: die soziale Identität erscheint in erster Linie als eine gekaufte.
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BILD 2: Kardashians shopping
Fetischisierung wiederum heisst hier Aufladung heisst Transzendenz der Dinge. In ihrem Verhältnis zu den
Gegenständen hat die Gegenwart eine tiefe Ambivalenz ausgebildet: Einerseits liegt in der Fülle der
Gegenstände und in ihrer beständige Erneuerung das Fundament der Wachstumswirtschaft. Andererseits
existiert eine Art Objektmagie, die über die Dinge hinausweist: Die Aufladung der Waren, die für bestimmte
Identitäten stehen, und der vielschichtige Zeichencharakter der modischen Objekte stellen die Grundlage der
symbolisch-integrativen Funktion der Dinge dar. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich spricht davon,
dass Markenprodukten insofern ein Aspekt der Transzendenz eigen sei, als dass sie als Teil eines Zeitgeistes
oder Lebensstils über sich hinausweisen. Sie haben symbolische Bedeutung, wecken Assoziationen, bieten
Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen und gehören insofern über die Dingwelt hinaus
auch der Welt des Fiktionalen an. Mit anderen Worten: Sie sind Kunst.
Der Bereich des Symbolischen und Fiktionalen, früher die Domäne der Kunst, dehnt sich in der Spätmoderne
also auf immer mehr Produkte und Gegenstände aus: Wenn ich eine Handtasche oder ein Paar Sneakers
kaufe, bieten mir diese Dinge Überhöhung und Fiktionalisierung wie der Plot eines Films oder ein Gemälde
oder eine Romanfigur. Das spätmoderne Produkt ist zum Zeichenträger geworden, und zwar innerhalb eines
Stilpluralismus der Warenwelt, wobei die verschiedenen Stilelemente wie Teile eines Zeichensystems dazu
dienen, Assoziationen, Symbolisierungen und Narrative zu erzeugen.
Ich möchte also die These aufstellen: Der Konsum macht der Kunst als Identitätsangebot Konkurrenz. Nach
Wellen der Metaphorisierung und Inszenierung ist die Welt der Konsumprodukte mindestens ebenso wichtig
für die Fiktionsbedürfnisse des spätmodernen Menschen geworden wie die Sphäre der Kunst. Die in
Konsumangeboten aufgerufenen Emotionen sind jenen ähnlich, die bei der Aktivierung der Vorstellungskraft
durch die Lektüre fiktionaler Texte auftreten können; sie werden als Unterbrechung oder Überhöhung des
Alltags empfunden. Jenseits ihres Gebrauchswerts sorgen also Dinge für mehr Bewusstheit; sie schaffen
Raum für Kontemplation, inspirieren innere Bilder, virtuelle Reisen, wecken Gefühle, bedienen
Erwartungen, setzen Vorstellungen in Szene. Konsumieren kann eine Kulturtechnik sein wie Lesen. Heisst
das, dass der Kauf einer Louis-Vuitton-Tasche das Gleiche darstellt wie die Lektüre eines Romans? Wir
werden darauf zurückkommen.
2.
Die Warenwerdung der Kunst
Kommen wir zur Kunst. Die Standards der Konsumkultur werden also immer sophistizierter – wie aber sieht
es aus mit den Standards des Kulturkonsums? Es ist ja nicht nur so, dass Fiktionswerte die zuvor über
Gebrauchswerte definierte materielle Dingwelt erobern, Konsumgegenstände also immer mehr zu dem
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werden, was man früher “Kunst” nannte. Sondern parallel dazu (und möglicherweise nicht unabhängig
davon) ist die umgekehrte Entwicklung festzustellen: dass die Kunst sich der Ware annähert.
BILD 3: Koons-Pudel im Regal
Und zwar bisweilen einer Ware von Ramschniveau. In jedem Milieu, von konservativ bis linksalternativ,
lässt sich gelegentlich die Klage vernehmen, man fühle sich von dem, was heute für Kunst durchgehe, unter
Niveau angesprochen oder gar zynisch behandelt, also veralbert. Ich für meinen Teil habe im letzten Jahr
nicht unkommentiert gelassen, wie ein Schundroman den Schweizer Buchpreis bekommen hat, und nachdem
ich das im „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens konstatiert hatte, waren die Reaktionen aus dem
Publikum überaus zahlreich. Ungefähr 70 Prozent in der Richtung „Endlich traut sich mal jemand“ und
ungefähr 30 Prozent in der Richtung „Sie sollten sich schämen“.
Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat festgestellt, dass die Allgegenwart einer
Unterhaltungskultur, die den Anspruch auf Transzendenz aufgegeben hat und Genuss nur noch als Konsum
vollziehen kann, das Kulturleben trivialisiert und ins Mittelmass herabzieht. Formale Laxheit und inhaltliche
Seichtigkeit der Kulturprodukte würden mit dem demokratischen Anspruch gerechtfertigt, die
grösstmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen. “Kultur” werde dann bloss noch als angenehme Art
verstanden, die Zeit zu verbringen. Bis eine Verdi-Oper, Kants Philosophie, David Bowie und eine
Vorstellung des Cirque du Soleil als gleichwertig betrachtet werden. Nicht zu vergessen: die Kardashians.
In seinem jüngsten, kürzlich erschienenen Buch “Die Kunst und das gute Leben” konstatiert der Kunstkritiker
Hanno Rauterberg, dass die Kunst und ihr Betrieb gegenwärtig einen Struktur-, wenn nicht gar
Epochenwandel durchlebten. Von den modernen künstlerischen Idealen der Autonomie, Freiheit und
Originalität ist kaum etwas übrig. Vielmehr beherrsche, gerade im hochpreisigen und hochetablierten
Segment des Kunstmarkts, ein Typus die Szene, der aus der Vormoderne zurückgekehrt scheint: der
Auftragskünstler, für vermeintliche Mäzene und Konzerne sich verdingend. Aus Kunst werde oft genug
blosses Design; die Autonomie der Kunst, eine Errungenschaft der Moderne, sei in der Spätmoderne vorbei,
sagt Rauterberg. Ende des Genie- und Originalitätsgedankens. Stattdessen: Rekreation statt Kreativität,
Bewegung vom Werk zur Tat bzw. zum “Event”, Verlust der Eigenwirkung und Eigenweltlichkeit der Kunst,
hysterische Vermarktung und Spekulation: Kunst fungiert hier nicht mehr als Ausdruck von Wahrheit,
sondern von Wohlstand; der Preis wird zum alleinigen Indikator des Werts.
Beide, Vargas Llosa und Rauterberg, weisen implizit auf einen interessanten Unterschied zwischen Kunst
und Ware hin, den ich hier pointiert wie folgt ausdrücken möchte: Bei der Ware setzt das Angebot die
Qualitätsstandards; bei der Kunst die Nachfrage, also Publikum und Kritik. Und offenbar ist just diese
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Nachfrage aktuell so beschaffen, dass keine kontinuierlichen Niveausteigerungen, sondern eher tautologische
Prozesse zu erwarten sind: Eine Mehrheit gibt sich anscheinend mit dem zufrieden, was ihr geboten wird.
Rauterbergs Thesen sind bemerkenswert und besonders interessant, wenn man sie zusammen mit dem
ebenfalls kürzlich erschienen Buch “Wir betreten den Kunstmarkt” der Juristin Monika Roth betrachtet. Es
ist ja hinlänglich bekannt und inzwischen auf dem Niveau einer Feuilletonweisheit angekommen, dass der
Kunstmarkt ein weitestgehend unreguliertes und intransparentes Phänomen darstellt und deshalb für
unlautere Praktiken anfällig ist. Geldwäscherei, Zollfreilagerverschiebungen, Preisabsprachen sind einige der
Vorwürfe. Was die Nachfrage angeht, so spricht Rauterberg im Zusammenhang mit dem Erwerb von Kunst
übrigens von einer “Sozialdividende”: Wer Geld für Kunst ausgibt, kann sich nachsagen lassen, er habe etwas
für die Bildung und ganz allgemein für die Menschlichkeit getan. Der Konsum von Kunst hat nichts
Anstössiges wie der Konsum von Pelzmänteln oder Diamanten. Ergänzen möchte ich eine weitere Form der
Kunstrendite, die ich “Reputationsdividende” nenne: Der Tabubruch des Künstlers wird zum Ausweis der
ideologischen oder geschmacklichen Offenheit des Sammlers. Dieser muss die Grenzen selbst nicht
übertreten, sondern kauft sich die Verwegenheit des Künstlers ein.
Dies ist nun kein neue Mechanismus: Mit Kunst konnten ihre Käufer schon immer demonstrieren, woran sie
glauben, wovon sie träumen und wie sie sich sehen. Nur dass eben die Kunst heute oft gar nicht mehr so
verwegen ist. Dabei verhält es sich durchaus nicht so, dass es in der spätmodernen Mediengesellschaft
schwieriger wäre, einen Skandal zu produzieren. Zwar löst vieles, was einst empörte, heute oft nur noch ein
Achselzucken aus. Doch gleichzeitig entstehen neue Tabus – etwa um die Themen Abtreibung, Religion,
Integration – Tabus, die anscheinend niemand zu durchbrechen wagt. Auch die Kunst traut sich nicht, traut
sich heute weniger als früher. Der Tabubruch per se hat seinen emanzipatorischen Gestus verloren, er kommt
heute oft von der falschen Seite, aus der falschen Ecke, der üblen Gegend. Falls die spätmoderne Kunst
überhaupt Tabus berührt, dann meist lediglich klischeehaft und politisch korrekt, zum Beispiel in der Form
der Performance des Regietheaters; also in einer Form, die Gewissensreflexe des Gutmenschentums
darstellbar und kommensurabel macht und so zugleich als versicherndes Gemeinschaftserlebnis Kunst als
Teil einer Erlebnisökonomie etabliert.
BILD 4: Schaubühne Berlin
Solche Performance-Kunst wiederum ist keine Kunst, sondern Aktionismus, Selbstdarstellung,
Selbstversicherung. Inklusive der ritualisierten Diskussion jenseits der Bühne, bei der jede Drohung etwa
durch ein aufgebrachtes Online-Prekariat die Performance-Verantwortlichen für das 3-Sat-Publikum genauso
adelt wie ein hoher Auktionspreis das flacheste Machwerk für den Kunst-Investor. Im Begriff der
Performance treffen sich ja überhaupt Börse und Kunst. Die Kunst ist selbst börsentauglich geworden,
Kunstfonds werden aufgelegt, und jeder kann daran Anteile erwerben. Arbeitsteilige Grossateliers wie die
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von Jeff Koons oder Damien Hirst arbeiten indessen nach geradezu industriellen Standards. Die kurz
bevorstehende Herausgabe einer Jeff-Koons-Billiglinie unter dem Kürzel “JK” würde mich nicht
überraschen. Und am anderen Ende des Marktes trägt auch das sogenannte Crowdfunding zur
Kunstfinanzierung selbst Züge einer Performance.
Der spätmoderne Kunstmarkt braucht das Skandalöse nicht. Werke, die nicht gesammelt, sondern nach
kurzer Zeit weiterverkauft werden, brauchen gar keinen Tiefenraum für die Narration und Fiktionalisierung,
sei sie nun skandalös oder nicht. Es genügt, wenn solche Werke als Spiegelfläche für die Mechanismen des
Geldgenerierens funktionieren. Auf dem hyperirritierten Markt für Kunst sind dann deren Preise oft noch das
einzige Skandalon. In dieser skandalösen Rolle des Geldes zeigt sich übrigens, wie ich hinzufügen möchte,
eine interessante Parallele des Kunstmarktes zur Sphäre des kommerzialisierten Spitzensports, wo Spieler
wie unerschwinglich teure Waren gekauft und verkauft werden; Spieler, deren Wert, genau wie oft bei
spätmoderner Kunst, mit ihrem Preis identisch ist. Auch in der extremen Ungleichheit der Einkommen
zwischen der obersten Liga und allen anderen gleichen sich Sport und Kunst – sowie in der Rolle und
Bedeutung des Geldes überhaupt. Denn auf beiden Märkten handelt es sich um Geld, das in keinem
Verhältnis zu einem Gebrauchswert steht und in seiner Akkumulation Dimensionen erreicht, die es in eine
pure Abstraktion verwandeln. Geld selbst wird zur Kunst, zum Schauspiel, zum Spektakel und zeigt quasi
seine narzisstische Seite: Hier bahnen sich interessante Parallelen von Kunstmarkt, Spitzensport und
Finanzkrise an, die ich an dieser Stelle nur erwähnen, aber nicht weiter verfolgen kann. Ich will stattdessen
meine Würdigung der Kunst schliessen mit der Einsicht: Was ich über den spätmodernen Konsum feststellte,
lässt sich ebensogut für die spätmoderne Kunst konstatieren: Sie spiegelt Transzendenz im Immanenten vor
und tut dies doch nur mit den Mitteln der Oberfläche. Mit anderen Worten: Sie ist Ware.
3.
Das Rollenideal des Künstlers
Wir leben also in einer Gesellschaft, in der nicht nur die Warenwelt zum Ort wurde, wo ästhetische
Satisfaktion und Selbsterhellung gesucht wird, – sondern oft genug das Warenpublikum inzwischen
emanzipierter und anspruchsvoller geworden als das Kunstpublikum. Die Kunst ihrerseits leidet an
Kommodifizierung und Korruption und hat jedenfalls ein Reputationsproblem. Eine ganz ausgezeichnete
Reputation hingegen geniesst: der Typ des Künstlers.
Jeder will ein Künstler sein. Der künstlerische Lebensentwurf ist zum massenhaften Rollenideal der
spätmodernen Gesellschaft geworden. Kunst bedeutet, symbolisch zu denken. Das heisst: Kunst hat zur
Wahrheit a priori gar kein Verhältnis, jedenfalls nicht zur materiellen Wahrheit, die sagt, ob eine
Beschreibung der Welt wahr oder falsch sei. Stattdessen bezieht sich Kunst, sofern sie diesen Namen
verdient, auf die metaphysische Wahrheit, indem sie eben grenzüberschreitende Inhalte, also: Transzendenz
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anbietet. Die Idee des Manierismus und später der Romantik, wonach Kunst nicht zuletzt als
Selbsterschaffung des Künstlers aufgefasst wird, als ein spezifisches Verhältnis von Imitation und Korrektur,
in dem der Künstler der Kontingenz der materiellen Wirklichkeit gegenübersteht – diese grundlegend
ästhetizistische Idee ist zum Selbst- und Weltauffassungsideal breitester Kreise geworden. Jederman hat
heute die Möglichkeit, sein eigenes und auch fremder Leute Dasein zu ästhetisieren, sich zur Wirklichkeit in
ein künstlerisches Verhältnis von Imitation und Korrektur zu setzen. Und sei es nur durch einen InstagramFilter.
Der hohe Stellenwert des Visuellen in unserer Gegenwart, der Stellenwert des Inszenatorischen und
Scheinhaften ist ein Zug unserer Zeit, in dem der Philosoph Wolfgang Schivelbusch eine „digitale
Entwirklichung allen tatsächlichen Geschehens” erkennt. Fest steht: In seiner Fixierung auf die eigene
digitale Repräsentation wird dem spätmodernen Subjekt in der Tat das Selfie zur Sinnverlautbarung, in der
es immer auch um Selbsterschaffung geht: dem Individuum wird seine (mutmassliche oder gefühlte)
Einzigartigkeit zur verpflichtenden Aufgabe. Das allererste Selfie stammt schliesslich von Narziss.
BILD 5: Selfie Mandela-Trauerfeier
Jeder fühlt sich heute als Künstler. Mit sämtlichen Idealzuschreibungen, die dazugehören, allen voran:
Authentizität und Unkonventionalität und Kreativität. Jeder erfindet sich selbst jeden Tag neu, umstellt seine
Existenz mit Hilfskonstruktionen aus den Welten des Konsums und Rollenversatzstücken, die allesamt dem
Götzendienst am Ich zu dienen scheinen: Das Selbstschöpferische erscheint jedenfalls als Leittugend der
Digitalmoderne und der Künstler als Rollenmodell für die Ichdarstellung. Die Biografie wird zum Projekt.
Aus dem Leben ist ein Kunstwerk zu machen: Lebenswelten und -formen werden ambitioniert
durchästhetisiert und das Pathos der Selbsterschaffung richtet sich auf die beiden grossen Ziele der
Postwachstumsgesellschaft: Spass und Glück.
Während also, wie wir gesehen haben, das Wesen der Kunst ein grundlegend anderes geworden zu sein
scheint, lebt interessanterweise ein obsoletes Künstlerbild weiter, und zwar als Massenideal. In diesem
seinem Idealbild ist der Künstler sich selbst absolut. Genau das strebt der spätmoderne Mensch an –
wenigstens dem Bilde nach. Das Grundversprechen der Moderne, deren Verheissung, ist Selbstbestimmung.
Und für die an Visualität ausgerichtete Kultur unserer spätmodernen Tage heisst das: Das Leben mag schön
sein oder schlecht; wesentlich ist das Bild, das man sich von ihm macht. Und verbreitet. Ein Erlebnis ist nicht
abgeschlossen, wenn es nicht „ausgedrückt“, d.h. anderen mitgeteilt wird. Im Grunde wird es dadurch erst
wirklich. Eine Identität ist keine Identität, wenn sie nicht mit anderen geteilt und zumindest partiell von
anderen bestätigt wird. So wird Erleben verdichtet und in eine ästhetische Form gebracht. Und sei es nur
durch einen Instagram-Filter.
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Das Ziel dabei ist immer: Resonanz. Resonanz definiert für das beschleunigte spätmoderne Subjekt
gelingende Weltverhältnisse, sagt der Soziologe Hartmut Rosa, sogar und besonders wenn es sich um triviale,
massenhafte Resonanz, zum Beispiel die sozialer Netzwerke handelt. Für Resonanz tut der spätmoderne EgoKünstler alles, bis zu äussersten Formen der Selbstentfremdung, etwa in Form der Selbstentäusserung in
Casting Shows oder im Spitzensport. Berühmtheit wird als Extrem der Resonanz verstanden, heutzutage.
Und vielleicht zeigt sich nirgends deutlicher, wie der post-industrielle Mensch die Kategorie „Schicksal“ zu
eliminieren trachtet, als am spätmodernen Konzept von Berühmtheit, das „Celebrity“ heisst und wie folgt
geht: Jeder kann vermeintlich zum „Star“ werden (oder sich jedenfalls entsprechend exponieren), denn
„Celebrity“ kennt keine Transzendenz, keinen jenseitigen Funken, keine übersinnliche Beigabe, im Zentrum
dieses Konzepts steht nichts, was nicht rein menschlich wäre. Exakt so wie bei grossen Teilen der
spätmodernen Kunst. Hier offenbart sich ein geistloser Begriff von Berühmtheit, bei dem “Prominenz” nur
noch mit Präsenz zu tun hat, nicht mehr mit Bedeutsamkeit. „Celebrity“ ist identisch mit
„Selbstzurschaustellung“, einem Konzept, das Selbstinszenierung mit Authentizität verwechselt. Auch darin
gleicht es grossen Teilen der spätmodernen Kunst.
Den grösstmöglichen Trost aber, meine Damen und Herren, der im Leben erreichbar ist, kann nur die
Beziehung zu einer Dimension der Transzendenz vermitteln. Worin immer die besteht. Transzendenz ist laut
Duden „das jenseits des Gegenständlichen Liegende, das Überschreiten von Grenzen der Erfahrung und des
Bewusstseins“ – und die Kunst, zum Beispiel, ist gewiss nicht der schlechteste Weg dahin. Und zwar Kunst,
die dem Leben ironisch gegenübersteht, distanziert, wobei ich hier Ironie nicht als stilistisches Mittel
verstehe, sondern als Haltung, das, was man in der Literatur epische Ironie nennt: die Haltung der Distanz,
der inneren Reserve. Das ist die ideale Position des Künstlers. Ironie, die Tugend des Sokrates, ist schliesslich
die Mittlerin zwischen Spass und Ernst, Geist und Leben, Selbst und Welt, Glück und Schicksal. Ironie als
Ideal der Selbsterziehung ist eine Geisteshaltung, die dem Diesseits wie dem Jenseits mit Abstand und
Reserve begegnet. Insofern ist sie post-metaphysisch und post-religiös, die weltlichste Form der
Transzendenz überhaupt, doch zugleich hinausweisend über die Welt, darinnen liegt ihre Spiritualität.
Post-metaphysisch und post-religiös erscheint auch der liberale Ironismus im Sinne Richard Rortys. Dieser
setzt Freiheit gegen eine vermeintliche Wahrheit und sieht Zweifel und Distanz als Methode, der Kontingenz
des Daseins zu begegnen. Unser Vokabular in der Welt wäre demnach immer wieder zu erneuern und zu
hinterfragen. Dies dient der Erschaffung des Selbst und fördert die Autonomie. Und eben darinnen liegt für
mich die Transzendenz der Kunst. Nämlich vor allem in der Erfahrung der Selbsttranszendenz. In der
Erfahrung, dass wir uns inwendig und existenziell angesprochen fühlen von etwas ausserhalb von uns selbst.
Diese Erfahrung eines daseinsmässigen Angesprochenwerdens und Gemeintseins lässt sich meines Erachtens
auf rein säkularem Weg nicht erreichen. Also nicht durch die Ware. So herrlich dieser Prada-Anzug auch
immer sein mag.
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Denn was mich an der Ware interessiert, ist die Komplettierung meines Selbst. Was mich jedoch in der Kunst
interessieren sollte, ist nicht zuletzt die Begegnung mit dem anderen (eine Begegnung, die mich in meinem
Selbst entweder bestätigt oder verunsichert oder korrigiert, auf jeden Fall entwickeln lässt). Nur die Kunst
bietet die Möglichkeit des radikal Anderen. Erfahren wir diese Begegnung als Bejahung, ergeben sich daraus
besondere Färbungen in der Empfindung von Demut, Dankbarkeit oder Ehrfurcht, vielleicht auch von Gnade.
Das ist Selbsttranszendenz. Und das schaffe ich nicht mit einer Handtasche, nicht mal mit einer Birkin Bag.
Ihre Anschaffung wird also für den Geist niemals das Gleiche bedeuten wie die Lektüre eines Romans,
jedenfalls wenn der Roman auch nur ein bisschen was taugt, und das ist irgendwie beruhigend, finden Sie
nicht? Andererseits gilt natürlich ebensosehr: Lieber was Hübsches von Hermès als ein Buch von Monique
Schwitter. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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