8 Brandenburger Blätter Freitag, 26. Juni 2015 Freitag, 26. Juni 2015 9 Als Nacktsein plötzlich Mode war Um 1890 entwickelte sich eine Anti-Bewegung zu der rasant voranschreitenden Industrialisierung. Die Lebensreformer machten Brandenburg zu einer ihrer Spielwiesen – weil Berlin nicht weit war Samuel Thomas von Soemmerring war ein Mann mit vielen Talenten. Er erforschte die menschliche Anatomie und das menschliche Gehirn. Er schrieb 1774 „Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer“ und kam zu dem damals aufrüttelnden Schluss, dass es Afrikaner gebe, die ihre weißen Brüder „sogar an Verstande übertreffen“. Soemmering entwickelte außerdem ein Teleskop und einen elektrischen Telegrafen. Er untersuchte die Sonnenflecken und wollte das Modebewusstsein reformieren. 1788 veröffentlichte er in Mainz ein Buch „Über die Schädlichkeit der Schnürbrüste“. Man könnte es als eine der vielen Quellen sehen, die 100 Jahre später zu einer Bewegung zusammenliefen, die die Gesellschaft irgendwie natürlicher, gesünder, gerechter und sexuell befreiter gestalten wollte. Lebensreform wurde diese Bewegung genannt. Ihre Zentren hatte sie zunächst in Wien und in der Schweiz. Doch ihr Echo reichte bald bis nach Berlin. Die Stadt wurde zu einem Humus für Reformer, Aussteiger, Wanderprediger, Utopisten, die zum Zwecke ihrer Selbstverwirklichung und um einen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten, nach Brandenburg ausschwärmten. Sie richteten sich in dem Land Nacktbadeoasen ein, gründeten Gartenstädte und probierten sich in biodynamischer Landwirtschaft und Naturheilkunde aus. Das Potsdamer Haus für Brandenburgisch-Preußische Geschichte arbeitet seit Monaten an einer Ausstellung, die zeigen soll, wie Brandenburg zur Spielwiese dieser Lebensreformer wurde. Ab 10. Juli ist die Schau zu sehen. Dann erscheint auch der von Christiane Barz herausgege- bene Band „Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939“. Es ist der Zeitraum, in dem die Lebensreform blühte und verwelkte. Aber ihre Wurzeln reichen weiter zurück. Zu Männern wie Soemmering eben, der mit seiner Schnürbrustverdammung den Reformkleidern den Weg bereiten half. Oder zum Urvater der Aussteiger, zu Henry David Thoreau, der sich 1845 eine Blockhütte am Waldensee unweit der Stadt Concord (US-Bundesstaat Massachusetts) zimmerte, in die er sich zwei Jahre verkroch. Um über das Sein nachzudenken und darüber, was es wirklich wertvoll macht. In seinem Buch „Walden oder Leben in Wäldern“ bezeich- Die Szene war nie homogen, dafür bunt und mitunter versponnen net er es als „Narrenleben“, wenn der Mensch lieber Schätze sammelt, die der Rost zerfrisst, als mit Muße „an seiner wahren Ganzheit“ zu arbeiten. Was Thoreau in „Walden“ andeutet, sollte zum Hauptziel der Reformer werden: den Menschen zu veredeln. In diesem Punkt treffen sich die Lebensreform-Projekte, die es in Brandenburg gab, so unterschiedlich und zum Teil gegensätzlich sie sonst auch gewesen sind. Die Reform-Szene war nie homogen, dafür umso bunter und politisch unübersichtlich, mitunter versponnen, von Künstlern durchdrungen und einem athletischen Schönheitsideal zugetan. Das fächern Christiane Barz und ihre Mitautoren sehr gut auseinander und liefern ei- nen hervorragenden Überblick über die Lebensreform-Experimente in Brandenburg. Da findet sich unter anderem: die FreilandSiedlung Gildenhall bei Neuruppin, in der sich eine kunsthandwerkliche Genossenschaft ähnlich den Wiener Werkstätten zu etablieren versuchte. 1932 wurde sie aufgelöst. Nicht nur wegen der Wirtschaftskrise, sondern auch weil die Kunstschmiede, -tischler und -weber zwar wunderbare Produkte herstellten, aber nicht wirtschaften konnten. Die Weberin Else Möglin sagte, sie sei selbst schuld gewesen, dass sie trotz aller Mühe Pleite ging. „Ich hatte keine Ahnung vom Geschäft, von Kalkulation.“ Wenn ihr neues Material gefiel, kaufte sie, bis ihr Lager überquoll. Besser ging es mit dem Versuchshof von Erhard Bartsch in Marienhöhe bei Bad Saarow. Das berühmte Pionierprojekt biologisch-dynamischer Landwirtschaft ist der älteste DemeterBetrieb in Deutschland. Dann finden wir an der Grenze von Berlin und Brandenburg den Friedrichshagener Dichterkreis, der Kontakte hatte zu links-anarchistischen Autoren wie Erich Mühsam, aber auch zu Männern wie Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, die von einem „Geistesaristokratismus“ träumten. Christian Morgenstern hielt Verbindung zu diesem Zirkel, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé und Else Lasker-Schüler. Auch Edvard Munch schaute am Müggelsee vorbei – und mit ihm Dagny Juel. Gertrude Cepl-Kaufmann nennt sie in ihrem Aufsatz für Barz’ Buch die „Femme fragil des Jugendstils“, die den Dichterkreis offenbar erotisch etwas aufheizte. Auch das gehörte zur Lebensreform: die Entdeckung ent- Neue Freikörperkultur: Berliner Nacktbader hatten nach dem Ersten Weltkrieg den Motzener See für sich entdeckt. Von ihrer ausgelassenen Unbefangenheit fühlte sich der Aktfotograf Gerhard Riebicke angezogen. Dies ist eines der Fotos, die er am See machte. hemmter Körperlichkeit. Um sie auszuleben, strömten die Berliner Nackt- und Sonnenbader an den Motzener See bei Kallinchen. Ihr hüllenloses Herumturnen in den Sanddünen lockte Gerhard Riebicke, einen Pionier der Aktfotografie, in dieses Getümmel. Seine Aufnahmen sind berühmte Zeugnisse einer positiven Selbst- befreiung und wurden zu Ikonen der Lebensreformbewegung. Einige davon finden sich auch in dem neuen Band wieder, der überhaupt sehr gut bebildert ist. Dabei half, dass ein Sonderling wie Gustav Nagel Fotos von sich und seinen Botschaften zum Zwecke der Selbstvermarktung als Postkarten verkaufte. Nagel ver- Die Pole der Bewegung: Während Gustav Nagel (links) eine Lebenserneuerung versuchte, indem er sich wie Jesus darstellte, Frieden predigte und seine eigene Rechtschreibung erfand, setzten die Kunsthandwerker von Gildenhall auf Handfesteres. Zu der Genossenschaft gehörten Weber, die diese Reformkleider herstellten. suchte, wie Christus auszusehen, zog barfuß durch die Lande, erfand seine eigene Rechtschreibung und gründete eine bedeutungslose pseudochristliche Partei. Er verquirlte Christentum, Vegetarismus und Kneipps Wassertherapie zu einer Weltanschauung, die ein bisschen verrückt wirkte, aber niemandem wehtat. Er predigte Frieden, Naturheilkunde und Selbstreform. Er wohnte mal in einer Erdhöhle bei Arendsee in der Altmark, mal wanderte er als Prediger bis nach Jerusalem. In Arendsee ließ er sich irgendwann ganz nieder und vermarktete sich und sein Programm so erfolgreich, dass er zu einem der wichtigsten Steuerzahler der Gemeinde wurde. Die Nazis ließen ihn in eine Irrenanstalt bringen. Die Kommunisten in der jungen DDR später auch. Nagel starb 1952 im psychiatrischen Gewahrsam. Zur Reformbewegung gehörten aber nicht nur Egozentriker wie er, sondern auch der kluge, weitsichtige Adolf Reichwein, der in Tiefensee eine Dorfschule aufbaute, die wegen ihres Konzepts des projektbezogenen Lernens, des Selbst-Erfahrens und der Selbst-Erziehung international für Aufsehen sorgte. All diese unterschiedlichen Strömungen, die wir unter dem Begriff Lebensreform zusammen- fassen, wurden aus dem Unmut geboren, den die sich ungnädig durch die Gesellschaft grabende Industrialisierung auslöste, als Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Geschwindigkeit aufholte, die Europa schwindlig machte. Zwischen Reichsgründung und dem Beginn des Ersten Weltkrieges versechsfachte das Land seine Industrieproduktion. Einer der Motoren, der diese hektische Modernisierung antrieb, war Berlin, dessen Einwohnerzahl sich zwischen 1871 und 1914 auf etwa zwei Millionen Menschen mehr als verdoppelte. So schnell wie die Stadt wuchs, wucherten auch ihre Probleme. Wir kennen das aus den Grafiken von Käthe Kollwitz, wie die Schwindsucht in den eilig hochgemauerten Mietskasernen hockte und das Prekariat auffraß. Es gab schon damals Kapitalismuskritiker, die sich darüber erzürnten, wie sich Profitgier, körperliche Ausbeutung und Umweltzerstörung verschwägert hatten. Die Lebensreformer fürchteten, die Gesundheit und die Würde des Menschen werde dem Maschinenzeitalter geopfert. Andere fühlten sich verunsichert, weil die Moderne alles in Frage zu stellen schien: die Religion, die Moral, die Kultur, selbst die Wissenschaft. Als Albert Einstein 1905 seine Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte, erodierte ein ganzes Weltbild. Auf einmal gab es keine absoluten Wahrheiten mehr. Aber die Sehnsucht nach ihnen blieb und nährte das Treiben von selbsternannten Heilsbringern wie Gustav Nagel. Aussteiger wie er radikalisierten, was Thoreau vorgelebt hatte. Andere Reformer setzten „mit einer naturnahen und ganzheitlich ausgerichteten Lebensweise einen Gegenpol“, schreibt Judith Baumgartner in ihrem Aufsatz über die Obstbausiedlung Eden. Es war das ausgereifteste und beständigste Reformprojekt in Brandenburg. Diese Siedlung, die sich am Rande von Oranienburg befindet, gibt es immer noch. Die meisten ähnlichen Projekte sind nach wenigen Jahren wieder eingegangen. Der Ort empfahl sich, weil er nicht zu weit aber weit genug von Berlin entfernt und durch einen Bahnanschluss mit der Metropole verbunden war. Das war typisch für die Flucht nach Brandenburg. Sie sollte so gestaltet sein, dass die Hauptstadt bequem erreichbar blieb. Und von ihr ging auch die Initiative für Eden aus. Der weitgereiste Berliner Kaufmann Bruno Wilhelmi, der Reformsiedlungen aus Brasilien und der Schweiz kannte, gründete mit Gleichgesinnten 1893 in dem bei Vegetariern sehr gefragten Lokal „Cerces“ in Berlin-Moabit die Siedlungsgenossenschaft Eden. Sie erklärten dabei auch, warum. Sie wollten „unter Gleichgesinnten wohnen, den eigenen Bedarf an Obst und Gemüse in bester Qualität selbst anbauen, die Kinder recht gesund und frei aufziehen.“ Außerdem sollte Eden allen, die mit ihren „naturwidrigen, schädlichen Berufen unzufrieden waren ... Daseinsmöglichkeiten auf naturgemäßer Grundlage“ schaffen. Was Eden von ähnlichen, kurzlebigeren Versuchen unterschied: Man machte sich früh Gedanken, wie man den Traum vom gesunden, selbstbestimmten Leben finanziert. Dabei spielte sicher eine Rolle, dass Eden von einem Kaufmann mit initiiert wurde und in dem Sozialökonom Franz Oppenheimer einen weitsichtigen Unterstützer fand. Eden blühe „wie eine Oase inmitten der kapitalistischen Wüste“, schwärmte der Wissenschaftler. Doch ganz ohne Kapitalismus ging es auch in Eden nicht. Um die Siedlung beständig gedeihen zu lassen, wurde im Juni 1895 die „Oranienburger Bau- und Kreditanstalt“ gegründet. Die Kombination aus Eigeninitiative, Fleiß, Ganz ohne Kapitalismus ging es auch in der Siedlung Eden nicht genossenschaftlichem Wirtschaften, solider Finanzierung und dem Verlangen nach gesunder Lebensweise erwies sich als so fruchtbar, dass Eden sich alles leisten konnte, was ein Ort braucht, der zukunftsfähig sein will und damit familienfreundlich sein muss. Die Siedlung schenkte sich eine Schule, einen Kindergarten, eine Bibliothek und einen Sportplatz. Sie besaß eine Post, ein Gemeinde- und Kulturhaus, eine Baumschule, eine Mosterei, eine Marmeladenfabrik und ein Pflanzenfleischwerk. Es produzierte, was wir heute Tofu-Produkte nennen würden. Im Vergleich dazu wirkte die völkische Siedlung Heimland in der Ostprignitz geradezu erbärmlich. Sie war entstanden, weil den Völkischen die Moderne wie ein böses Gären erschien, das nicht nur ihre Werte, sondern die Reinheit ihrer Rasse bedrohte. Heimland sollte ein Ort der körperlichen und moralischen Gesundung werden, entwickelte sich aber zu einem Flop. Wirtschaftlich bekamen die Völkischen dort keinen Fuß auf den Boden, nicht zuletzt, weil sich ihre Bewegung für dieses landwirtschaftliche Trauerspiel kaum interessierte. Das mittelständische, völkische Klientel zog es vor, sich in der Stadt gegen die Moderne und ihre vermeintlichen Gefahren zu ereifern, resümiert Uwe Puschner in seinem Beitrag. Aber selbst im urbanen Raum konnten die Nationalkonservativen nicht verhindern, dass die Menschen in großer Zahl die Freude an der neu entdeckten nackten Zwanglosigkeit auslebten. Harry Graf Kessler schreibt davon in seinen Tagebüchern. Man liest dort, wie er am 4. Juni 1930 mit dem französischen Bildhauer Aristide Maillol durch Frankfurt am Main bummelt. Auf der Terrasse über dem Freibad beobachten sie vergnügt die Nacktbader. Maillol ist ganz entzückt wegen der schönen Körper der jungen Frauen und Männer und der „unbefangenen Nacktheit“. Graf Kessler antwortet ihm, dies sei Teil „einer neuen Lebensauffassung, eines neuen Lebensgefühls“, wie es sich nach dem großen Krieg in Deutschland ausbreite. Man habe wirklich leben wollen, schreibt Kessler. „Licht, Sonne, Glück, den eigenen Körper genießen.“ Uwe Stiehler Am 10. Juli erscheint: „Christiane Barz (Hg.): „Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939“, vbb, 188 S., 24,99 Euro Ab 10 Juli: Sonderausstellung im Haus für Brandenburg-Preußische Geschichte Potsdam, Am Neuen Markt 9, Di–Do, 10–17 Uhr, Fr–So, 10–18 Uhr Das erfolgreichste Projekt der Alternativen: Die Obstbausiedlung Eden bei Oranienburg, die bis heute existiert. Die Luftaufnahme stammt von 1920. Fotos: HBPG/Verlag für Berlin Brandenburg
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