ZfG - Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, Heft 1/2016, S

ZfG-ZeitschriftfürGeschichtswissenschaft,Berlin,Heft1/2016,S.94ff.
Rezension
RobertM.Zoske:SehnsuchtnachdemLichte–ZurreligiösenEntwicklungvonHansScholl.
UnveröffentlichteGedichte,BriefeundTexte.HerbertUtzVerlagMünchen2014,830Seiten
„EslebedieFreiheit!“–dieseletztenWortevonHansScholl,kurzvorderHinrichtung
im Gefängnis von München-Stadelheim im Februar 1943 ausgesprochen, bleiben mit
dem Widerstand der Weißen Rose verbunden. Dieser Widerstandskreis an der
UniversitätistdurchdieFlugblätter,BriefeundTagebüchervielfältigdokumentiertund
weltweit bekannt geworden. Hans Scholl war der inspirierende Kopf – er hatte das
Format,warmutigundsportlich,auchzupackend,intelligentundgebildet.DieTexteder
Flugblätter der Weißen Rose, die er und Alexander Schmorell, diese beiden vor allem,
formuliert und verbreitet haben, sind einzigartige Zeugnisse des deutschen
Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Ohne sie wäre der deutsche Widerstand
gegendasNS-Regimeinsgesamtärmer.
ÜberdieWeißeRosegibteseinekaumzuüberblickendeZahlvonPublikationen.Esist
daher nicht übertrieben anzunehmen, dass alle wichtigen Aspekte dieses
Widerstandskreises und seiner einzelnen Persönlichkeiten von der fachhistorischen
Literatur angemessen, die Quellen auswertend, ausgeleuchtet, kritisiert und gewürdigt
wordensind.Umsoüberraschenderistfestzustellen,dassderumfangreicheFundusder
DokumenteimNachlassvonIngeAicher-SchollimInstitutfürZeitgeschichte(München)
noch Quellen enthielt, die der Aufmerksamkeit der Forscher bislang entgangen sind.
Robert M. Zoske kommt daher das Verdienst zu, diese Unterlagen aus der Feder von
HansSchollaufbereitetundderÖffentlichkeitzugänglichgemachtzuhaben.
Zoske beleuchtet in seiner Analyse eine Phase im Leben von Scholl, die bislang
weitgehenddunkelgebliebenistoderinderFamilienorientiertenPerzeptionvonInge
Aicher-Schollinterpretiertwurde.EshandeltsichumdieJahre1937bis1939,diegroße
Lebenskrise des zuvor ns-begeisterten Gymnasiasten. Seine Jugend in der Schule war
vonRessentimentsgegenDemokratieundParlamentbestimmt.Erwar15Jahrealt,als
diebrauneRevolutioninDeutschlanddieOberhandgewann.DemSogderZeitfolgend
ging er in Ulm zur HJ. Scholl war begeisterter HJ-Führer, ein fanatisch überzeugter
Antreiber – Zoske beschreibt seine Haltung in dieser Zeit zurecht als „herrisch“ und
„elitär“. Auch Schwester Sophie zeigte eine ähnliche Haltung: demonstrativ ging sie in
BDM-Uniform zur Konfirmation, eine bemerkenswerte geschwisterliche
Übereinstimmung einer demonstrierten Nähe zum NS-System. Hier erfüllt sich, wie es
der Historiker Jakob Burkhardt sagte, der Mensch sei seiner Zeit ähnlicher als seinem
Vater.
DannkommtdasJahr1937.NichtdasAbiturwirdzumEinschnitt,derdemLebenvon
ScholleineneueRichtunggebenwird,undzueinerKrise,einerganzexistentiellen,sich
auswuchs.SieerschütterteScholl,langelitter.Irgendwieundschonauchverbrämtwar
dieser Einschnitt in der Literatur bekannt. Doch nun wissen wir darüber mehr. 141
handgeschriebene Seiten: Lyrik und Lieder, Dichtungen und Prosa, einige Fragmente
undAphorismenhatZoskeentdecktundhiererstmalsediert–einliterarischerSchatz
vonhistorischemInteresse.
Waswardamalsgeschehen?UndwasbrachteScholldazu,indieserFormseinseelisches
LebeninVersenzuspiegeln?ErleisteteseineWehrpflichtab;freiwilligundgernkamer
als Reiter zu einem Kavallerie-Regiment in Bad Cannstadt. Doch dann traf ihn das
System, die Gestapo ermittelte gegen ihn wegen Homosexualität, „Unzucht“ in
jugendbündischem Umfeld; Scholl wurde im Dezember 1937 verhaftet, drei Wochen
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langblieberimGefängnis.EinOffiziersetztesichbeiGerichtfürihnein,dieWehrmacht
gewährteSchutz.
DieLebenskrisenach1937hatHansSchollgewandelt.Subjektivaufsschlimmstesozial
und familiär ausgegrenzt, hat Scholl seinen Platz gesucht, indem er sich seiner Werte
vergewisserte. Er fand wieder Boden unter den Füßen, seine Sehnsucht wurde
gesellschaftlichgestillt,zunächstimMilitär,dannimStudiumderMedizin.Akribischhat
ZoskedievielfachenUmständedesLebenswegesnachgezeichnetunddenlangwierigen
undauch–inderSprachederGedichte–offensichtlichschmerzhaftenKampfinScholls
Seele nachempfunden. Diese Quellen erklären den inneren Prozess hin zur Ausbildung
der Bereitschaft, aktiv Widerstand zu betreiben. In Verbindung mit dem bekannten
BriefwechselmitFreundenundmitderFamiliegewinntdieBiographiederJahrenach
1937unddieSträngeseinercharakterlichenAusprägunganDeutlichkeit.
Deutlichkeit konnte entstehen, da zur Analyse dieser Quellen eine erwähnenswerte
Fähigkeitunbedingterforderlichist.NahezualleTextesindineinerreligiösenSprache
verfasst, die auf eine tiefe Gläubigkeit verweist. „Dom“ oder „Maria“ sind solche
Beispiele.(Dasmagaucherklären,warumdieTextezuvorvonHistorikern„übersehen“
wurden.) Nur im Verständnis biblischer Figuren und Bilder sind sie zu lesen und zu
deuten.DasistdieStärkedieserAnalyse,dassZoskeimBerufTheologeist–erkonnte
diese Texte entschlüsseln und den theologischen Kontext verständlich machen. Mit
seiner Analyse und Interpretation des literarischen Werkes von Scholl wird der
christlicheHintergrunddesWiderstandesderWeißenRoseneuundweiterverdeutlicht.
Das Gerichtsverfahren wegen Homosexualität hatte Hans Scholl zutiefst in seinem
Selbstverständniserschüttert.Erhatteesnichtleicht,undermachteessichnichtleicht.
Seine existentielle Krise führte zur existentiellen Umkehr – eine Vergewisserung, wie
wirnungenauerwissen.DasThemakonzentriertsich,wieSchollineinemBriefschrieb
undZoskeseinemTitelvoranstellt,aufeine„SehnsuchtnachdemLichte“.
Beinah zufällig hat sich Zoske diese Studie zu Hans Scholl eröffnet. Erst vor wenigen
Jahren, nach einer Lesung von Barbara Beuys, hat er, erst 2010 also, mit intensiven
Recherchen zu Hans Scholl begonnen, zunächst nicht ahnend, dass aus diesem Projekt
eine Dissertation entstehen würde. So ist dem Utz Verlag zu danken, dieses
umfangreiche Manuskript mit all seinen fachwissenschaftlichen, historischen und
theologischen Verästelungen zu publizieren, für die der Leser Zeit benötigt, aber auch
genauereKenntnis,wennerdiezusammengetragenenpräzisenDetailswürdigenwill.
Ichdenke,diesereligiöse„Sehnsucht“vonHansSchollwarweitgespannt,gingüberden
persönlichenHorizontderSuchenachsichselbsthinausunderfassteschließlichPolitik
und Militär, Kirche und Gesellschaft des NS-Regimes, eine religiös fundierte politische
Ethik gewann ihre Konturen. Oder: wenn der eigene Lebenssinn Klarheit gewinnt,
erschließt sich ebenso der gesellschaftlich-politische Horizont; dieser wurde in den
Flugblättern als das „Böse“ angeklagt. Diese Vergewisserung nach der Krise 1937 gab
HansScholldieBereitschaftundFähigkeit,inFreiheitWiderstandzuleisten.
DetlefBald
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