Fall 6 Der 7-jährige P wird nach einem Verkehrsunfall schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Arzt (A) erkennt, dass er zwar bei Bewusstsein, jedoch innerlich schwer verletzt ist und es einer sofortigen Notoperation zur Rettung seines Lebens bedarf. Er fragt P daher, ob er ihn operieren dürfe, „damit es nicht mehr weh tut“. P, der schon die ganze Zeit weint, nickt heftig. In der Zwischenzeit erscheint der alleine sorgeberechtigte Vater (V) des P und verweigert die Einwilligung in die Operation aus religiösen Gründen. Obwohl A ihn mehrmals auf die dringende Erforderlichkeit der Operation zur Lebensrettung des P aufmerksam macht, verweigert V weiterhin die Zustimmung. A ruft daraufhin beim Familiengericht an, wo er allerdings aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit niemanden mehr erreicht. Daher entschließt er sich unter Inkaufnahme einer möglichen Strafbarkeit zur Operation, die er sodann durchführt. Hierdurch kann das Leben des P gerettet werden. V stellt daraufhin Strafantrag. Strafbarkeit des A? Gutachten Strafbarkeit aus § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB A könnte sich gem. § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er P operierte. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand A müsste tatbestandlich gehandelt haben. Problematisch ist hierbei bereits, ob ein ärztlicher Heileingriff überhaupt zur Erfüllung des objektiven Tatbestands der Körperverletzung geeignet ist. Die Rechtsprechung sowie Teile der Literatur bejahen dies mit dem Argument, dass jeder Eingriff in die körperliche Integrität – auch zu Heilzwecken – den Tatbestand erfülle, da hierdurch gesunde Körperteile verletzt würden, die dann wiederum selbst einer Heilung bedürften. Das Problem der Strafbarkeit sei auf Rechtfertigungsebene zu lösen, da auf diese Weise auch dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten am besten 1 Rechnung getragen werde. Hiernach hätte A durch die Vornahme der Operation den objektiven Tatbestand des § 223 StGB erfüllt. Nach anderer Auffassung kann die Vornahme eines ärztlichen Heileingriffs den objektiven Tatbestand der Körperverletzung nicht erfüllen, da man einen Arzt nicht mit einem Messerstecher gleichsetzen dürfe. Zudem ginge es dem Patienten nach dem Eingriff besser als vorher. Ein Heileingriff könne nach seinem Sinngehalt keine „Misshandlung“ oder „Gesundheitsschädigung“ sein. Der Aktor wolle heilen, nicht verletzen. Daher sei eine teleologische Reduktion des Tatbestands für ärztliche Heileingriffe geboten. Hiernach hätte A nicht tatbestandlich i.S.d. § 223 StGB gehandelt. Da die beiden Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist der Streit zu entscheiden. Die erstgenannte Auffassung verkennt, dass ein Heileingriff einen einheitlichen Lebenssachverhalt darstellt, der nicht künstlich in verschiedene Teilakte (z.B. Spritzen, Schneiden mit Skalpell usw.) aufgeteilt werden kann. Im Ergebnis wird das körperliche Wohl des Patienten im Gesamten erhöht und nicht verschlechtert. Den ärztlichen Heileingriff erst auf Rechtfertigungsebene straffrei zu stellen, erscheint gekünstelt und lebensfremd. Richtigerweise muss ein nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommener Heileingriff bereits aus dem Anwendungsbereich des objektiven Tatbestands des § 223 StGB ausgeschieden werden, um der Tatsache hinreichend Rechnung zu tragen, dass der Arzt eben gerade heilen und nicht verletzen will. Die Auffassung, die § 223 StGB bei einem ärztlichen Heileingriff als erfüllt ansieht, ist daher abzulehnen. [Hinweis: Um die Systematik des Hilfsgutachtens zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle nicht der Rechtsprechung gefolgt. In wissenschaftlichen Gutachten im Rahmen der Ausbildung ist diese Vorgehensweise eher ungewöhnlich, jedoch nicht unvertretbar. Wer sich an dieser Stelle tatsächlich gegen die Rechtsprechung entscheidet, muss zwingend im Hilfsgutachten weiterprüfen, wenn – wie vorliegend – in der weiteren Prüfung noch Probleme zu erwarten sind.] Somit ist bereits der objektive Tatbestand der Körperverletzung nicht erfüllt. 2 b) Zwischenergebnis Der Tatbestand des § 223 StGB ist nicht erfüllt. – Hilfsgutachten – Unterstellt, der ärztlichen Heileingriff erfülle entgegen der hier vertretenen Auffassung den objektiven Tatbestand des § 223 StGB, wäre wie folgt weiter zu prüfen: A könnte die Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB begangen haben. Unter einem gefährlichen Werkzeug versteht man einen Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Verwendung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Ein Skalpell ist sowohl nach seiner objektiven Beschaffenheit (scharfe Klinge) als auch nach der Art seiner Verwendung (als Schneidwerkzeug) zur Verursachung erheblicher Verletzungen geeignet. Auch die Verwendung des Skalpells de lege artis nimmt diesem nicht seine Eigenschaft als gefährliches Werkzeug, da von der Fallgruppe der Verwendung von medizinischen Hilfsmitteln de lege artis keine schweren und gefährlichen Eingriffe erfasst werden. Im vorliegenden Fall wurde jedoch ein erheblicher Eingriff vorgenommen, der die typischen Risiken einer Notoperation mit sich bringt. Somit stellt das Skalpell hier ein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. Eine das Leben gefährdende Behandlung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB liegt indes nicht vor, da die Lebensgefahr für P ohnehin bestand und A sie nur verringert bzw. beseitigt hat. Der objektive Tatbestand der §§ 223, 224 StGB wäre hiernach erfüllt. c) Subjektiver Tatbestand A handelte vorsätzlich hinsichtlich der Gesundheitsschädigung und des Einsatzes des gefährlichen Werkzeugs. 3 Somit wäre auch der subjektive Tatbestand der §§ 223, 224 StGB erfüllt. 2. Rechtswidrigkeit a) Rechtfertigung aus Einwilligung Das Handeln des A könnte jedoch aufgrund einer Einwilligung gem. § 228 StGB gerechtfertigt sein. Eine Einwilligung des P lag vor, denn das Nicken ist insoweit als Zustimmung zu der von A vorgeschlagenen Operation zu deuten und somit als Einwilligung zu verstehen. Fraglich ist jedoch, ob diese Einwilligung auch wirksam ist. Die Disponibilität des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit ist, wie schon dem Rechtsgedanken des § 228 StGB entnommen werden kann, zu bejahen. P war auch alleiniger Träger des Rechtsguts. Er müsste allerdings auch einwilligungsfähig gewesen sein. Einwilligungsfähig ist, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen. Zwar ist ein bestimmtes Alter hier nicht erforderlich, jedoch weinte P stark, was von erheblichen Schmerzen zeugte. Insoweit ist davon auszugehen, dass seine Wahrnehmungsfähigkeit und Konzentrationsfähigkeit erheblich eingeschränkt waren. Zudem kann man nicht davon ausgehen, dass ein stark leidendes und zudem traumatisiertes Kind die weit reichenden Risiken einer Operation vollständig überblicken kann. Daher kann von einer Einwilligungsfähigkeit des P vorliegend nicht ausgegangen werden. Abzustellen ist somit nach familienrechtlichen Grundsätzen auf den gesetzlichen Vertreter des P. Der Vater des P ist als alleiniger Sorgerechtsinhaber gem. §§ 1626, 1629, 1671 BGB zur Vertretung des Kindes befugt. V hat die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff jedoch ausdrücklich verweigert. Aufgrund der ausdrücklichen Verweigerung der Einwilligung bliebt auch kein Raum für die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung. Möglicherweise könnte jedoch auf den Willen des Familiengerichts abzustellen sein. Dieses hat allerdings aufgrund der Nichterreichbarkeit keine Einwilligung erteilt, sodass vorliegend allenfalls noch eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht käme. 4 Dazu müsste das Familiengericht allerdings verfügungsberechtigt gewesen sein, was nur dann möglich wäre, wenn der ausdrücklich erklärte entgegenstehende Wille des V familiengerichtlich ersetzt werden konnte. Eine solche Möglichkeit der Ersetzung des Willens des V durch denjenigen des Familiengerichts könnte sich aus § 1666 Abs. 1 BGB ergeben. Demnach kann das Familiengericht Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren für das Wohl des Kindes treffen, wenn dessen Eltern dazu nicht willens oder nicht in der Lage sind. Im vorliegenden Fall war das körperliche Wohl des P gefährdet. V wäre zur Abwendung der Gefährdung des körperlichen Wohls des Kindes zwar in der Lage gewesen, hat sich aber bewusst dagegen entschieden. Fraglich ist, ob V hier deshalb „nicht willens“ i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB war. Das Sorgerecht umfasst gem. § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB die Personen- und Vermögenssorge. Bei der Personensorge entscheidet der sorgeberechtigte Elternteil treuhänderisch über das Wohl des Kindes. Die treuhänderische Ausübung hat zum Vorteil des Kindes, also um des Kindeswohls willen, zu erfolgen. Da P ohne die Notoperation verstorben wäre, war dem vorliegend evident nicht der Fall. V hat somit das Sorgerecht nicht im Rahmen seiner gesetzlichen Befugnis ausgeübt. Er war folglich „nicht willens“ i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB, sein Sorgerecht in rechtmäßiger Weise, namentlich zum Wohl seines Kindes, auszuüben. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 4 GG, da insoweit Art. 2 Abs. 2 GG, also das Recht des Kindes auf Leben, in jedem Fall absoluten Vorrang genießt. Somit ist die Entscheidung des Familiengerichts maßgeblich, da dieses verfügungsberechtigt war. Da das Familiengericht jedoch nicht erreichbar war, ist keine ausdrückliche Einwilligung erklärt worden. Fraglich ist daher, ob eine mutmaßliche Einwilligung des Familiengerichts überhaupt möglich wäre. In Betracht käme hier einerseits die Anwendung der „normalen“ Regeln über die Einwilligung, sodass auf den mutmaßlichen Willen des Familiengerichts abgestellt werden könnte. Andererseits könnte es sich bei der familiengerichtlichen Genehmigung aber auch um einen Hoheitsakt handeln, der gerade nicht fingiert, sondern nur erklärt werden kann. Einzig der erstgenannte Ansatz erzielt erträgliche Ergebnisse. Es ist nicht einzusehen, dass ein Menschenleben von der (teilweile rein zufälligen) Frage abhängig gemacht 5 werden darf, ob der zuständige Richter am Familiengericht gerade erreichbar ist oder nicht. Dieses Ergebnis begegnet auch nicht vor dem Hintergrund rechtlichen Bedenken, dass auf diese Weise eine gesetzlich vorgeschriebene Entscheidung eines Richters umgangen würde, da zum einen auch ein Arzt eine höchst vertrauenswürdige und fachkompetente Persönlichkeit darstellt, in deren Hände man die Entscheidung über lebensrettende Maßnahmen ohne Bedenken legen kann, zum anderen die Entscheidung des Arztes später in einem Strafverfahren (sofern es denn angestrengt werden sollte) wiederum von einem Richter überprüft werden kann. Vor diesem Hintergrund bestehen keine Bedenken dagegen, eine lebensrettende Notoperation nach den Grundsätzen der mutmaßlichen Einwilligung zu rechtfertigen. Andere Ergebnisse wären mit dem Rechtsempfinden schlechterdings unvereinbar. A ist daher aufgrund mutmaßlicher Einwilligung des Familiengerichts gerechtfertigt. Er hat somit nicht rechtswidrig gehandelt. b) Zwischenergebnis Unterstellt, die Handlung des A wäre tatbestandsmäßig, wäre sie jedenfalls aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung des Familiengerichts gerechtfertigt. – Hilfsgutachten – Unterstellt, die Handlung des A wäre tatbestandsmäßig und auch nicht aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt, könnte sich eine Rechtfertigung noch aus § 34 StGB ergeben. c) Rechtfertigung aus § 34 StGB aa) Notstandslage Eine Notstandslage lag vor, da eine gegenwärtige Gefahr für das Leben des P bestand. 6 bb) Notstandshandlung Weiterhin war die von A vorgenommene Handlung zur Lebensrettung auch erforderlich. Zudem überwiegt auch das Rechtsgut Leben dasjenige der körperlichen Unversehrtheit erheblich. Ebenso war die Vornahme der Notoperation auch angemessen i.S.d. § 34 S. 2 StGB. cc) Subjektives Rechtfertigungselement A handelte schließlich auch in Kenntnis der objektiven Rechtfertigungslage. dd) Zwischenergebnis Sofern eine Rechtfertigung aus mutmaßlicher Einwilligung nicht anzuerkennen wäre, wäre A jedenfalls aus § 34 StGB gerechtfertigt. 3. Endergebnis A handelte nach zutreffender Ansicht nicht tatbestandlich und ist daher straflos. Unterstellt, das Handeln des A hätte den objektiven Tatbestand des § 223 StGB erfüllt, wäre A jedoch aus mutmaßlicher Einwilligung gerechtfertigt und somit ebenfalls straflos. Wiederum unterstellt, das Handeln des A wäre auch nicht aus mutmaßlicher Einwilligung gerechtfertigt, ergäbe sich die Rechtfertigung jedenfalls aus § 34 StGB. Somit ist A in jedem Fall straflos. 7
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