Wirksamkeit eines ambulanten Bewegungsprogramms

BETTINA SCHAAR, CORINNA THIELE & JOCHEM MOOS
Wirksamkeit eines ambulanten Bewegungsprogramms
mit adipösen Erwachsenen
1
Einleitung
Übergewicht, Adipositas und damit einhergehende Risikofaktoren sind heute primäre Kostenverursacher im Gesundheitswesen. Unter den häufigsten Erkrankungen
mit ICD-10 wird Adipositas auf Platz sieben bei den Allgemeinärzten und auf Platz
sechs bei den Internisten geführt (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
in der Bundesrepublik Deutschland, 2003). Die Behandlungskosten für die Begleitund Folgeerkrankungen von Adipositas liegen in Deutschland jährlich nach Schätzungen zwischen 3,9 und 10,3 Mrd. Euro. Das Bundesministerium für Gesundheit
(BMG)(1995) hat zur Überprüfung der epidemiologischen Ausprägung der Adipositas im Erwachsenenalter Musterungs- und Annahmeuntersuchungen für die Bundeswehr anhand des Body Mass Index (BMI) untersucht. Innerhalb des Geburtsjahrgangs 1974 hatten von 1.000 Erstuntersuchten 154 ein Übergewicht von leichter bis mittelschwerer Ausprägung und weitere 15 bereits schwere Ausprägungsgrade (BMG, 1995). Die im Zeitraum von 1993 bis 2003 publizierten systematischen Reviews zum Themenbereich „Bewegungsprogramme zur Gewichtsreduktion bei Übergewicht oder Adipositas“ weisen differente Ergebnisse auf. Rippe &
Hess (1998) und McInnis (2000) stellten fest, dass eine Kombination aus Bewegung und Diät den höchsten kurz- und auch langfristigen Effekt zur Körpergewichtsreduktion hat. Dagegen zeigte Wing (1999), dass es kaum Unterschiede in
den erzielten Ergebnissen bei differenten Interventionen „Bewegung“ und „Diät und
Bewegung“ gab. Gleim (1993), Harris (1999) und Ross, Freeman und Janssen
(2000) sprechen der Bewegung positive Effekte zur Reduktion von Zivilisationserkrankungen gerade bei übergewichtigen Menschen zu, auch wenn das Körpergewicht nur geringfügig oder gar nicht vermindert wurde. Ziel der vorliegenden Studie
ist es, die Wirksamkeit eines Herzfrequenz gesteuerten Trainings auf die körperliche Leistungsfähigkeit und das Körpergewicht bei adipösen und normalgewichtigen
Erwachsenen vergleichend zu betrachten. Nicht nur eine Körpergewichtsstabilisation steht im Vordergrund, sondern die physiologischen und metabolischen Trainingsanpassungen bei einer vorliegenden Adipositas (≥Grad I) werden ebenfalls
untersucht.
2
Methodik
Die durchgeführte prospektive und kontrollierte Studie mit Experimental- und Kontrollgruppe erfolgte im Prä-Posttest-Design in einem Zeitraum von 16 Wochen mit
dvs Band 157 © Edition Czwalina
253
24 direkt betreuten und 24 Trainingseinheiten ohne Anleitung mit dem Schwerpunkt
„Ausdauer“. Die Labortests umfassten vor und nach der Treatmentphase eine Laufband- (HPcosmos Saturn) und Fahrradergometrie (ergoline 900EL) sowie eine
Grundumsatzmessung mittels Spirometrie (ZAN). Während des Programms fand
eine kontinuierliche Körpergewichtskontrolle per geeichter Waage (Seca) statt. Die
Treatmentphase beinhaltete ein Herzfrequenz gesteuertes Ausdauertraining (Polar
S610i) mit Nordic Walking, Aquajogging und Fahrradfahren. Die Trainingsintensitäten waren individuell gestaltet und die Trainingshäufigkeit betrug drei Mal pro Woche 90 Minuten mit einem Ausdaueranteil von 60 Minuten. Das Training wurde protokolliert und die Trainingseinheiten von einem qualifizierten Trainer betreut.
Die Experimentalgruppe (VG) (n=9, 4 m, 5 w; 42,9± 13,0 Jahre, 177,9± 9,0 cm,
2
117,4± 24,5 kg) hatte einen BMI von 36,8± 4,8 kg/m . Die Kontrollgruppe (KG) (n=8,
3 m, 5 w; 40,5± 13,4 Jahre, 177,6± 10,3 cm, 68,7± 13,0 kg) war normalgewichtig
2
(BMI: 21,6± 1,9 kg/m ).
3
Ergebnisse
Das 16-wöchige Bewegungsprogramm stabilisierte das Körpergewicht beider Grup2
2
2
pen (VG: T1: 36,8± 4,8 kg/m , T2: 36,6± 4,4 kg/m [p>0,05]; KG: T1: 21,6± 1,9 kg/m ,
2
T2: 21,6± 2,3 kg/m [p>0,05]). Die VG wies bei beiden Testzeitpunkten (T1,T2) einen signifikant höheren Grundumsatz im Vergleich zur KG (p<0,05) auf. Vor und
nach der Treatmentphase sind keine Veränderungen im Grundumsatz aufgetreten.
Die Ergebnisse der Varianzanalyse der Laufbandergometrie zeigen, dass bei der
VG ein signifikanter zweifacher Interaktionseffekt der Herzfrequenzen zwischen
den Haupteffekten „Testzeitpunkt“ und „Stufe“ aufgetreten ist (p<0,05). Als Posthoc-Verfahren wurde der Student-Newmans-Keuls Test eingesetzt. Von T1 zu T2
sind bei der Stufe 1 (Stufengeschwindigkeit 1 m/s) die Herzfrequenzen um 8,3
Schläge/min von 103,3± 17,2 auf 95,0± 13,1 Schläge/min (p<0,05) und bei der Stufe
2 (Stufengeschwindigkeit von 1,5 m/s) um 11,7 Schläge/min von 122,0± 16,6 auf
110,3± 14,9 Schläge/min (p<0,001) gesunken. Bei der KG traten keine Interaktionseffekte auf. Auch ein dreifacher Interaktionseffekt war nicht nachweisbar. Die Berechnungen der Varianzanalysen der Fahrradergometrie ergaben weder im zweifaktoriellen Vergleich mit den Haupteffekten „Stufen“ und „Testzeitpunkt“ noch im dreifaktoriellen Vergleich (Haupteffekte: „Stufen“, „Testzeitpunkt“ und „Gruppe“) signifikante
Interaktionseffekte. Die Herzfrequenzen bei den Laktatkonzentrationen von 2 und 4
mmol/l zeigen keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Jedoch erreichte die KG
bei den Laktatkonzentrationen von 2 und 4 mmol/l höhere Geschwindigkeiten als die
VG (2 mmol/l: p<0,05; 4 mmol/l: p<0,001). Zusammenhangsprüfungen zwischen der
erzielten Leistung bei einer Laktatkonzentration von 2 mmol/l und dem BMI bei der
Laufbandergometrie (r=-0,712; p<0,005) bestätigten, dass je höher der BMI umso
geringer die Geschwindigkeit auf dem Laufband. Der Nachweis von Steigerungen
der Leistungsfähigkeit konnte innerhalb der VG und KG dokumentiert werden. Im
Posttest weist die Versuchsgruppe signifikant niedrigere Herzfrequenzen bei einer
254
SCHAAR et al.: Wirksamkeit eines ambulanten Bewegungsprogramms mit adipösen Erwachsene
200
150
100
50
0
2
4
2
T1
4
T2
KG
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0
2
4
2
T1
Laktat (mmol/l)
VG
Geschwindigkeit (m/s)
Herzfrequenz (S/min)
Laktatkonzentration von 2 mmol/l auf (p<0,05). Die KG steigerte ihre Geschwindigkeiten nach der Treatmentphase (p<0,05). Die Ergebnisse bestätigen, dass das
Körpergewicht als leistungslimitierender Faktor zu nennen ist. Abbildung 1 stellt die
Herzfrequenzen und Geschwindigkeiten bei Laktatkonzentrationen von 2 und 4
mmol/l dar.
4
T2
Laktat (m m ol/l)
(nVG=9)
(nKG=8)
VG
KG
(nVG=9)
(nKG=8)
Abb. 1. Herzfrequenzen (links) und Geschwindigkeiten (rechts) bei Laktatkonzentrationen von 2 und 4 mmol/l
(*=signifikant; ***=höchst signifikant).
Die VG hatte nach der Treatmentphase bei den Laktatkonzentrationen von 2
(p<0,05) und 4 mmol/l (p<0,05) eine Steigerung der Wattleistung sowie längere Belastungszeiten (p<0,05). Keine Veränderungen waren in der Physical Work Capacity (PWC) 130 und 150 zu erfassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich
die Ausdauerleistungsfähigkeit bei beiden Gruppen erhöht hat und das Körpergewicht in dem Zeitraum der Untersuchung konstant geblieben ist. Bei adipösen Menschen ist als primärer leistungslimitierender Faktor das zu hohe Körpergewicht zu
nennen.
4
Diskussion
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestätigen die Resultate von Gleim (1993),
Harris (1999) und Ross et al. (2000), dass bei einer Intervention mit „nur sportlichem Training“ das Körpergewicht stabilisiert und Steigerungen der körperlichen
Leistungsfähigkeit nachgewiesen wurden, die sich positiv auf die Reduktion von Zivilisationskrankheiten auswirken können. Die metaanalytische Übersichtsarbeit von
Garrow & Summerbell (1995) fasst insgesamt 28 Primärstudien mit 916 Probanden
im Zeitraum von 1966 bis 1993 zusammen. Das wesentliche Ergebnis ist, dass
„Bewegung ohne Diät“ nach 30 Wochen zu einem Verlust an Gesamtkörpergewicht
von drei Kilogramm führte. Der Zeitraum der eigens durchgeführten Studie betrug
nur 16 Wochen. Dies lässt vermuten, dass eine zeitlich längere Intervention zu einer Gewichtsreduktion führen kann. Diese Annahme bestätigt auch die Metaanalyse von Miller, Koceja und Hamilton (1997), die 493 Primärstudien im Zeitraum von
dvs Band 157 © Edition Czwalina
255
1969 bis 1994 beinhaltet. Die Literaturstichprobe umfasste meist Menschen mittleren Alters, die nur leicht übergewichtig waren. Die Interventionen dauerten maximal
15 Wochen. Bei einer vergleichenden Betrachtung der Interventionen hatte in dieser
Studie „nur Bewegung“ die geringsten Effekte im Vergleich zu „nur Diät“ und „Diät
und Bewegung“ erzielt.Bei der eigens durchgeführten fahrradergometrischen Untersuchung erreichten die adipösen Versuchspersonen im Vergleich zu den normalgewichtigen ähnliche körperliche Leistungen mit einer analogen physiologischen und
metabolischen Leistungsfähigkeit. Hier kann vermutet werden, dass die Entlastung
des Körpergewichts durch das Fahrrad zu dieser Leistung beiträgt. Diese Annahme
bestätigt, dass das Körpergewicht als primärer leistungslimitierender Faktor bei adipösen Menschen zu nennen ist. Diese Vermutung bestätigen die Resultate der Laufbandergometrie. Beim freien Gehen und noch mehr beim Laufen vervielfacht sich die
Last des Körpergewichts. Hier erreichten die normalgewichtigen Probanden höhere
Leistungen im Vergleich zu den adipösen Versuchspersonen.
Auch adipöse Personen erreichen durch ein moderates Ausdauertraining ohne
Körpergewichtsreduktion eine Steigerung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und
können ihr Körpergewicht durch sportliches Training stabilisieren. Zur systematischen Körpergewichtsreduktion ist eine Ernährungsumstellung oder sogar eine Diät
ergänzend zu einem Sportprogramm erforderlich.
Literatur
Bundesministerium für Gesundheit (BMG). (1995). Daten des Gesundheitswesens (Schriftenreihe
des Bundesministeriums für Gesundheit, 51). Baden-Baden: Nomos.
Garrow, J.S. & Summerbell, C.D. (1995). Meta-analysis: effect of exercise, with or without dieting,
on the body composition of overweight subjects. Eur J Clin Nutr, 49, 1-10.
Gleim, G.W. (1993). Exercise is not an effective weight loss modality in women. J Am Coll Nutr, 12,
363-367.
Harris, J.E. (1999). The role of physical activity in the management of obesity. JAm Osteopath
Assoc, 99(Suppl.), 15-19.
McInnis, K.J. (2000). Exercise and obesity. Coronary Artery Dis, 11, 111-116.
Miller, W.C., Koceja, D.M. & Hamilton, E.J. (1997). A meta-analysis of the past 25 years of weight
loss research using diet, exercise or diet plus exercise intervention. Int J Obesity, 21, 941947.
Rippe, J.M. & Hess, S. (1998). The role of physical activity in the prevention and management of
obesity. J Am Diet Assoc, 98), 31-38.
Ross, R., Freeman, J.A. & Janssen, I. (2000). Exercise alone is an effective strategy for reducing
obesity and related comorbidities. Exerc Sport Scie Rev, 28, 165-170.
Wing, R.R. (1999). Physical activity in the treatment of the adulthood overweight and obesity: current evidence and research issues. Med Scie Sports Exerc, 31(Suppl.), 547-552.
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (2003). Die
50 häufigsten ICD-10-Schlüsselnummern nach Fachgruppen. Köln: ZI-ADT-Panel Nordrhein.
256
SCHAAR et al.: Wirksamkeit eines ambulanten Bewegungsprogramms mit adipösen Erwachsene