aktuell - Hess

SONDERDRUCK AUS 1/2015
WERKSTATT
aktuell
D A S FA C H M A G A Z I N F Ü R N U T Z FA H R Z E U G W E R K S TÄT T E N
DIE
TURBOPROFIS
Die Firma Motair in Köln repariert pro Jahr rund
2.000 Turbolader. Wir haben die Instandsetzung
eines Lkw-Turbos begleitet.
Text und Fotos: Mathias Heerwagen
>> Motair-Mitarbeiter Ilja Bleiz wuchtet
das Paket auf die Werkbank und packt
­einen gebrauchten Turbolader aus. Ein
erster Blick verrät, dass die Welle des Laders nicht gebrochen ist, wäre das der Fall,
wäre hier schon Schluss. Meist sind die
Schäden nach einem Wellenbruch zu groß,
eine Reparatur lohnt sich kaum.
Bleiz vermerkt im Computer, wer das
Aggregat geschickt hat, und verpasst dem
Turbolader eine Artikel-Vorgangsnummer. Damit lässt er sich im Lager unter
mehreren hundert anderen Turbos wiederfinden und zuordnen. Heute zerlegt
ein Mitarbeiter das Aggregat sofort, es
muss schnell gehen.
Adrian Rajkowski holt sich den Turbo
auf die Werkbank und löst die Schrauben,
die Rumpfgruppe und Turbinen- sowie
Verdichtergehäuse verbinden. Mit einigen
gezielten Schlägen eines Kupferhammers
trennt er die Gehäuse. Er baut das Verdichterrad ab und zieht die Welle samt
Turbinenrad aus der Rumpfgruppe. Zwi-
schen 30 und 45 Minuten dauert die Demontage. Danach fotografiert ein Kollege
die Einzelteile und archiviert die Bilder.
„So können wir dem Kunden zeigen, wie
beschädigt der Turbo ist. Und wir sichern
uns ab gegen eventuelle Reklamationen“,
erklärt Motair-Geschäftsführer Andreas
Solibieda.
An einem Tisch sitzt Bernd Jüngling vor
einem Mikroskop. Ein angeschlossener
Bildschirm zeigt ein Lager mit Riefen, die
mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind.
▲ In der Annahme prüft Ilja Bleiz den Zustand des
Turbos und legt eine Vorgangsnummer an.
▲ Ein Mitarbeiter löst die Schrauben und trennt die
Gehäuse von der Rumpfgruppe.
▲ Nach dem Lösen der Verdichterradmutter lässt
sich die Welle aus der Rumpfgruppe ziehen.
TurboladerEinbauhinweise
• Vor dem Einbau des neuen Turboladers unbedingt
die Ausfallursache des alten Turbos feststellen und
beseitigen! Bei vorangegangenen Defekten mit
Verlust der Verdichterradmutter muss die Mutter
gesucht und entfernt werden!
• Prüfen Sie vor dem Einbau das gesamte Umfeld des
Turbos, insbesondere alle Zu- und Ableitungen (Öl,
Luft, Abgas, eventuell Wasser) auf Dichtheit, Verschmutzung oder Verstopfung. Im Zweifelsfall sind
die Leitungen zu erneuern.
• Am Motor muss vorab zwingend ein Motoröl- und
Filterwechsel durchgeführt werden!
• Füllen Sie vor dem Einbau mindestens 20 Milliliter
Spezialöl oder frisches Motoröl in die Ölzulaufbohrungen, dabei den Läufer manuell etwas drehen.
• Beim Anschluss der Ölleitungen niemals flüssige
Dichtmittel verwenden!
• Lassen Sie nach dem Einbau den Motor zwei bis drei
Minuten im Leerlauf drehen, bevor Sie die Drehzahl
erhöhen. Prüfen Sie während des Leerlaufs alle Anschlüsse und Dichtungen.
Der technische Leiter bei Motair erklärt,
dass bei den meisten Schäden Ölmangel
die Ursache ist. „Selbst wenn der Motorölstand in Ordnung ist, kann durch verkokte und verstopfte Ölzufuhr-Leitungen
weniger Öl am Turbo ankommen als nötig“, sagt Jüngling. Die Folge: Die Welle
läuft heiß oder gar trocken, es bilden sich
Riefen an den Wellenlagern.
Auch Schäden durch Fremdkörper im
Turbolader kommen häufiger vor. „Entweder durch kapitale Motorschäden wie
abgerissene Ventile, Abplatzungen im
Auspuffkrümmer oder gelöste Muttern
vom Turbinen-Verdichterrad – gelangt etwas in den Turbolader, ist der Schaden
groß“, berichtet Jüngling. Kein Wunder,
bei Drehzahlen von mehr als 150.000/min
bei einem Lkw-Turbo.
Je nach Schaden lassen sich Turbinenund Verdichtergehäuse erneut verwenden, jedoch erst nach einer gründlichen
Reinigung. Marco Mariani legt die Gehäuse in eine Art Waschanlage, die die Teile
bei 60 Grad rund 30 Minuten lang entfettet. Anschließend kommen die Gehäuse
in die Pyrolyse-Anlage, in der sich bei 550
Grad selbst hartnäckige Verkokungen lösen. Nun sind die Teile sauber, sehen aber
noch nicht so aus. Das ändert sich beim
Sandstrahlen: Sieben Minuten lang strahlt
eine Anlage die Gehäuse mit feinstem
Granulat, danach sehen sie aus wie neu.
Währenddessen landet die ausgebaute
Welle auf dem Tisch von Stefan Günther.
Mit einer Messuhr prüft er an mehreren
Stellen, ob die Welle einen Höhenschlag
hat. Die Dicke der Welle ist vom Turbolader-Hersteller vorgeschrieben und wird
▲ Erst unter dem Mikroskop werden kleinste Schäden an diesem Lager, etwa durch Ölmangel, sichtbar.
▲ Motair fotografiert jedes Bauteil, um den Kunden
den Zustand des Turbos zeigen zu können.
▲ Ist die Welle noch maßhaltig und entspricht den
Herstellervorgaben? Alles wird dokumentiert.
▲ Nach der Reinigung werden die Gehäuse sandgestrahlt und sehen dann wieder aus wie neu.
▼ Adrian Rajkowski setzt eine neue Welle und neue
Lager in die Rumpfgruppe ein ...
▼ ... und zieht die Linksgewindemutter mit zehn
Newtonmetern fest.
REPORT TURBOLADER-INSTANDSETZUNG
▲ Diese Maschine treibt mit Druckluft die Welle an.
Ein Computer ermittelt, ob eine Unwucht existiert.
▲ Mit einem Stabschleifer entfernt ein Mitarbeiter
etwas Material an der Mutter – die Welle läuft rund.
mittels Bügelmessschraube ebenfalls an
mehreren Stellen erfasst – bis auf ein tausendstel Millimeter genau. Weicht auch
nur ein Wert von den Vorgaben ab, kommt
die Welle in den Schrott. Die Welle auf
dem Tisch ist maßhaltig und kommt ins
Lager, bis sie später wieder verbaut wird.
Auf einem Prüfprotokoll sind alle gemessenen Werte notiert.
Besteht ein instandgesetzter Turbolader
also nicht aus seinen eigenen Einzelteilen?
„Meistens nicht, das ist ein sogenannter
anonymisierter Zusammenbau. Wir nehmen instandgesetzte und geprüfte Teile
und bauen daraus einen neuen Turbolader. Natürlich mit neuem Reparatursatz“,
sagt Andreas Solibieda.
Wenn der Kunde sein eigenes Aggregat
wiederhaben möchte, geht das ebenfalls.
Adrian Rajkowski holt sich ein Lagergehäuse aus dem Regal, dazu einen passenden Reparatursatz mit allen benötigten
Dichtungen und Sicherungsringen. Er
schmiert die Welle und die anderen beweglichen Teile mit Öl ein, schiebt die
Welle ins Lagergehäuse und verschraubt
das Verdichterrad. Dann zieht Rajkowksi
die Linksgewindemutter mit zehn Newtonmetern fest. Fertig ist die Rumpfgruppe. Damit später alles rund läuft, muss ein
Kollege die Welle feinwuchten.
Dazu spannt Markus Lange die Rumpfgruppe in eine Feinwuchtmaschine ein,
die während des Tests warmes Motoröl
durch den Turbolader pumpt. Statt Abgas
trifft hier Druckluft aufs Turbinenrad und
beschleunigt die Welle auf 40.000/min.
„Die Drehzahl ist zwar geringer als im späteren Fahrbetrieb, reicht zum Wuchten
aber völlig aus“, erklärt Markus Lange.
Nach dem Testlauf zeigt die Maschine
eine kleine Unwucht an, mit einem Stabschleifer entfernt der Mitarbeiter etwas
Material von der Mutter. Neuer Testlauf,
▲ Endmontage: Rumpfgruppe mit beiden Gehäuse­
hälften ausrichten, verschrauben – fertig.
jetzt läuft alles vibrationsfrei. Nur noch
ein Tropfen Sicherungslack auf die Mutter und die fertige Rumpfgruppe darf zur
Endmontage.
Adrian Rajkowski setzt die Rumpfgruppe aufs Verdichtergehäuse, anschließend
richtet er mit einer Schablone die korrekte Montagestellung des Turbinengehäuses aus und schraubt alles zusammen. Mit
einer Prägemaschine erstellt er ein neues
Typenschild und befestigt es am Turbolader. Das Aggregat ist instandgesetzt und
wird noch am selben Tag verschickt. <<
Typische Turbo-Schäden und die Ursachen
◀ Durch mangeln­
de Ölversorgung
kam das Lager in
direkten Kontakt
mit der Welle und
überhitzte. Infol­
gedessen schlugen
beide Turbinenräder
am Gehäuse an.
◀ Axiales
Spiel durch zu
hohen Abgas­
gegendruck
ließ die Welle
auflaufen.
▼ Fremdkör­
per im Öl
beschädigten
das Lager –
das Verdichter­
rad schlug am
Gehäuse an.
▼ Die Wellenmutter auf der Verdichter­
seite hat sich gelöst – ein Schaden, der laut
Motair häufiger vorkommt.
▲ Kein Fremdkörper, sondern
zu hohe Drehzahl haben die
Schaufeln des Turbos beschädigt.
▼ Die Öl-Zulauf-Leitung des Turbos war durch das flüssi­
ge rote Dichtmittel verengt – Ölmangel war die Folge.
Impressum: Sonderdruck aus WERKSTATT aktuell 1/2014 von ETMservices – Ein Geschäftsbereich des ETM Verlag.
Verantwortlich: Stephanie Steck, Telefon (07 11) 7 84 98-12 · www.etmservices.de