01.11.2015 zurück zu den Quellen - Désirée R

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Reformationssonntag, 1. November 2015
Zurück zu den Quellen! (2. Timotheus 3,14–17)
1. Ad fontes!
Ad fontes! Zurück zu den Quellen! Mit diesem Ruf begann die Renaissance: Es ist eine Aufforderung,
zurück zu den ursprünglichen Texten in ihren ursprünglichen Sprachen zu gehen. Um die griechischen
Philosophen und andere Klassiker richtig zu verstehen – so war die Meinung – müsse man sie selber
lesen, und nicht nur über Kommentare, Übersetzungen und Überlieferungen an sie herangehen.
Ad fontes! Zurück zu den Quellen! Das war auch der Ruf der Reformatoren: sie riefen die Leute zurück
zur Bibel, zum offenbarten Wort Gottes. Das begann bei ihnen selbst: sie fingen an, in der Bibel zu
lesen und aus der Bibel zu predigen. Daraus erkannten sie, dass sich die Kirche in vielem von ihrem
ursprünglichen Auftrag distanziert hatte. Sie riefen zu einer Erneuerung auf, die in ihren Augen nicht
wirklich eine Erneuerung, sondern eine Rückkehr zu den Wurzeln, zu den Lehren der Bibel war.
Die Tradition für sich ist nicht unfehlbar, sagten sie, sondern muss an der Bibel geprüft werden. Was
der Bibel widerspricht, muss weg. In allem soll die Bibel die höchste Autorität haben: sola scriptura,
"allein die Schrift": nicht die Tradition, auch nicht unsere Erfahrung, sondern allein die Bibel ist die
wahre Quelle für alle Erkenntnis Gottes.
So begann die Reformation damit, dass Menschen zur Schrift zurückkehrten: zurück zu den Quellen.
2. Was ist "die Schrift"?
In der Lesung von heute ermutigt Paulus seinen Schüler Timotheus, bei der "heiligen Schrift" zu
bleiben und sie in seinem Leben und Dienst anzuwenden.
Was ist "die Schrift"? Was macht sie so besonders? Wir Christen glauben, dass Gott spricht. Gott ist
nicht ein ferner Gott, der diese Welt erschaffen und uns dann uns selbst überlassen hat. Gott ist ein
Gott, der Beziehung sucht mit seinen Geschöpfen. Und so hat Gott auch immer wieder gesprochen und
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sich erfahrbar gemacht, ganz besonders in der Geschichte seines erwählten Volkes Israel, und dann
indem er selbst Mensch wurde in der Person von Jesus Christus. All diese Erfahrungen mit Gott sind
im Alten und Neuen Testament verschriftlicht worden. So können wir sagen, dass Gott in der Bibel mit
uns spricht. Gott spricht mit uns, um sich selbst, seine Person, seinen Charakter zu offenbaren, und um
uns seinen Willen und seine Pläne zu zeigen.
In der Jüdischen Theologie spielt die Freude an der Torah – an den 5 Büchern Mose, dem Gesetz – eine
grosse Rolle. Diese Freude haben wir in den Versen aus Ps 119 gehört. In diesem längsten Psalm geht
es um die Liebe zu Gottes Wort – der Psalmist beschreibt es als kostbaren Schatz, als Freude, Liebe
und Herzensverlangen. Dass Gott sich uns offenbart, ist ein Privileg und ein Grund zur grossen Freude!
Dass wir die Bibel haben, ist ein Geschenk!
Ich glaube, die meisten von uns wünschen uns irgendein Zeichen von Gott, wollen dass er mit uns
spricht. Wie leicht übersehen wir, dass wir dieses Zeichen schon längst haben! Gott spricht, heute und
hier! Vielleicht scheint uns ein blosses Buch zu gewöhnlich, zu banal. Aber hier ist Zündstoff, der die
Welt verändert – denn hier spricht Gott!
Die Bibel ist nicht nur an Leute in vergangenen Zeiten gerichtet, sondern auch heute für uns aktuell.
Paulus sagt Timotheus: Die von Gott eingegebene Schrift ist NÜTZLICH:
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zur Lehre

zur Sündenerkenntnis und Umkehr

zur Erziehung zu einer christlichen Lebensführung
3. Die Bibel ist nützlich zur Lehre
Lehre: das ist, was wir glauben. In der Bibel erfahren wir, wer Gott ist und was er will. Wir basteln
uns nicht einen Gott zusammen, der uns passt, sondern Gott ist ein lebendiger Gott, und in der Bibel, in
den verschiedenen Geschichten und Erfahrungsberichten, kommen wir diesem Gott auf die Spur,
lernen ihn kennen.
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Idealerweise sollte die Lehre – das, was wir glauben und in der Kirche hören – aus der Schrift kommen
und auf ihr gegründet sein. Dies ist aber nicht immer der Fall. Wie zur Zeit der Reformation haben wir
auch heute Traditionen, die sich von der Bibel entfernt haben. Das Problem ist nicht die Tradition an
sich – der Fehler ist, dass wir nur von der Tradition leben, statt zurück zur Quelle zu gehen.
Das heisst: Vieles wiederholen wir einfach, weil wir es so gehört haben. Wir arbeiten mit den
Auslegungen, statt mit der Bibel selbst. Wir zitieren, was andere gesagt haben, statt nachzuschauen, ob
es stimmt. Das ist nicht an sich falsch – Auslegungen und Tradition, das ist eigentlich nichts anderes,
als was andere Menschen von Gott gelernt haben, und wir dürfen und sollen davon auch Gebrauch
machen. Aber es ist alles mit Vorsicht zu geniessen: denn wenn wir uns nur Sekundärquellen befassen,
mit dem, was andere zur Bibel gesagt haben, entfernen wir uns immer mehr von der Bibel selbst. Ihr
kennt sicher das Spiel "stille Post", wo reihum einer dem anderen einen Satz ins Ohr flüstert. Je weiter
der Satz geht, desto mehr ändert er sich, und wird korrumpiert. Am Schluss ist er manchmal gar nicht
mehr zu erkennen!
Wir müssen zurück zu den Quellen, und das, was wir hören, an der Bibel prüfen.
4. Die Bibel ist nützlich zur Erziehung in der christlichen Lebensführung
Christsein bedeutet nicht einfach, die richtigen Lehren glauben und für wahr halten. Christsein zeigt
sich in der Lebensführung – in einem Leben, das Gott gefällt.
Wie erfahren wir, was Gott gefällt? Wie erfahren wir Gottes Willen? Wenn ich nach Gottes Willen
frage, dann denke ich oft an sehr spezifische Sachen. Will Gott, dass ich Theologie studiere? Will Gott,
dass ich nach Bischofszell ziehe? Beruft mich Gott in die Mission? Ich komme mit ganz spezifischen
Fragen, und erwarte ganz spezifische Antworten. Die Bibel sagt aber nirgends, "Gehe nach
Bischofszell!" Ich kann sie zwar aufschlagen und vielleicht gibt mir Gott einen Vers, der mir klarmacht,
dass ich nach Bischofszell ziehen soll. Manchmal geschieht das so – aber nicht immer!
Mich hat sehr geholfen, zu lernen, dass ich Gottes Willen dadurch erkenne, dass ich ihn selbst
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kennenlerne. Wenn ich jemanden durch und durch kenne, dann weiss ich, was ihm gefällt und was ihm
nicht gefällt. Ich weiss zum Beispiel, dass ein Kolleg von mir Freude an Tannenbäumen hat, und dass
ich ihm nie Randen oder Rosenkohl kochen darf. Je länger ich ihn kenne, desto leichter wird es mir
fallen, einzuschätzen, was ihm Freude macht.
Bei Gott ist das genauso: je besser ich ihn kenne, je tiefer meine Beziehung mit ihm ist, desto leichter
wird es mir fallen, meine Entscheidungen so zu fällen, dass sie mit seinem Willen und seinem
Charakter übereinstimmen.
Wie erfahren wir aber Gottes Charakter? Durch die Bibel! Die Bibel beschreibt uns Gott immer wieder
als barmherzig, gnädig, geduldig und von grosser Güte. Dort, wo er zornig, böse und bedrohlich
erscheint, ist es seine gerechte Reaktion auf unsere menschliche Ungerechtigkeit, sein Einstehen für die
Unterdrückten. Die Bibel zeigt uns Gottes Massstäbe, seine Gebote. In Jesus gibt sie uns ein Vorbild,
dem wir folgen können.
Gottes Willen erfahren wir nicht nur dort, wo uns ein Vers sagt: "tue dies" oder "tue das", sondern ich
glaube, dass wir ihn vor allem dadurch lernen, dass wir beständig in der Bibel lesen und Gott kennen
und lieben lernen.
Wir müssen zurück zu den Quellen, und Gott persönlich kennenlernen als unser Herr, unser Vorbild
und unser Geliebter, dem wir gerne dienen.
5. Was heisst das praktisch?
Wie kommen wir zu den Quellen zurück?
1. Bibellesen zur Gewohnheit machen:
Den Reformatoren war es wichtig, Gottes Wort unter die Leute zu bringen. Ganz gewöhnliche
Leute sollten selber die Bibel lesen können. So wurde die Reformation auch zu einer Zeit, in
der die Bibel übersetzt und verbreitet wurde!
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Vor 7 Jahren habe ich mir als Neujahrsvorsatz vorgenommen, jeden Tag in der Bibel zu lesen
und das, was ich lerne, aufzuschreiben. Unterdessen ist es mir zur Gewohnheit geworden – ich
kann und will nicht mehr ohne!
Damit das Bibellesen zu einer Gewohnheit wird, müssen wir herausfinden, was uns liegt.
Welche Zeit, zum Beispiel: am Morgen? Am Abend? Wo kann ich am besten Bibellesen? Lese
ich gern alleine, oder würde es mir gut tun, mit jemand anderem zu lesen?
Dicke Bücher – das ist nicht jedermanns Ding. Die Bibel ist kein einfaches Buch – da ist so
manches drin, das man gerne überspringen würde, zum Beispiel kapitelweise Stammbäume,
viele gleich am Anfang. Ich glaube, man darf überspringen, besonders beim ersten Durchgang
muss man die Stammbäume, Listen und Tempelvorschriften nicht unbedingt lesen.
2. Die Bibel im Zusammenhang lesen:
Zwingli und Calvin haben beide ganze biblische Bücher von Anfang bis Schluss
durchgepredigt. Ihnen war wichtig, biblische Texte im Kontext zu lesen. Oft lesen oder hören
wir Texte ganz losgelöst von ihrem Zusammenhang. Was sie aber wirklich bedeuten und
aussagen, hängt fest mit dem Kontext zusammen. Manche sehr schwierige Texte
sind leichter zu verstehen, wenn wir wissen, was vorher und was nachher kommt. Seit einiger
Zeit lese ich nur noch ganze Bücher durch, statt hier einen Text und dort einen Text
herauszupicken. Die biblischen Bücher sind meist keine Sprüchesammlungen sondern haben
einen Spannungsbogen oder Gedankengang, den wir nicht brechen sollten.
3. Bibellesen als "Date" mit Geliebtem, nicht als Pflicht!
Bibellesen sollte nicht einfach ein "Müssen" sein. Wenn es nur noch eine Pflicht wird, macht es
keine Freude und es motiviert nicht dranzubleiben. Für mich ist die grösste Motivation, die
Bibel zu lesen, dass ich darin Gott begegne, Zeit mit Gott verbringen kann. Bibellesen ist
Beziehungspflege.
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6. Semper reformanda
"Bleibe in dem, was du gelernt hast und dir vertraut ist. [...] Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze
zur Lehre, zur Aufdeckung der Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass ein
Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt."
Wir feiern heute Reformationssonntag. Die Reformatoren glaubten, dass die Erneuerung der Kirche,
die sie in ihrer Zeit vornahmen, nicht etwas einmaliges war, sondern etwas, das immer wieder
geschehen muss. Die Kirche – das heisst, die Gemeinschaft derer, die an Jesus glauben – braucht
immer wieder Erneuerung, Rückbesinnung auf ihre Bestimmung. Wir müssen immer wieder zurück zu
den Quellen gehen, zurück zu Gottes Wort, damit wir ihn immer tiefer kennen und lieben lernen, und
so leben können, wie es ihm gefällt. Erst dann – vorbereitet und ausgerüstet durch die Schrift – können
wir unser Leben, unser Umfeld, die Kirche und die Welt verändern.
Mögen wir immer wieder zu den Quellen zurückkehren.
Mögen wir Freude haben an Gottes Wort wie an einem grossen Schatz.
Mögen wir an dieser Quelle wachsen und gedeihen, und viel Frucht bringen zu seiner Ehre!
AMEN!
Désirée Dippenaar