Annemarie Memarian Fertigmacher – wider Willen ? Eine Auswertung autobiographischer und belletristischer Literatur zum Thema Heimerziehung INHALT Einleitung Material und Fragestellung Problemfelder Ist-Lage von Heimkindern und –jugendlichen Erziehungsziele der Heimerziehung Allgemeine Atmosphäre der Heime Soziale Interaktion zwischen Erziehern und Heimkindern Sexualität im Heim Gruppenstrukturen im Heim Verhältnis zwischen Heimkind und Gesellschaft Schlussbemerkung Anhang Literaturverzeichnis Einleitung „Wir starrten zu dem zertrümmerten Fensterrahmen hinauf. Hinter uns stand der Pferdemeister, er schüttelte immer wieder den Kopf. Moors Kopf erschien, er war blutüberströmt. Und immer wieder war Lüthis Stimme zu hören, die sich überschlug. Moor schrie plötzlich nach seiner Mutter. Immer wieder: „Mutter, Mutter, Mutter!“ Die Zöglinge rannten voll Angst und Entsetzen ins Schulhaus, die Treppe hinauf in die Schlafsäle. Die Kleinen waren schon von den Gehilfinnen ins Nähzimmer gebracht worden. Und immer wieder schrie Moor: „Mutter, Mutter!“ Plötzlich eilte der Hauptmann auf den Platz. Er rief: „Was ist denn da los?“ Er schaute zum Zimmer hinauf, auf das zerbrochene Fenster und schließlich wandte er sich an den Pferdemeister: „Was wird da gespielt?“ „Geht mich nichts an“, sagte der in seiner kurzen Art. „Fragen Sie den Hausvater dort.“ Fritschi trat aus dem Hauseingang. Er trug einen langen Mantel, die Hände in den Taschen vergraben. „Was wollen Sie, Herr Hauptmann?“ fragte er. „Ich möchte wissen, warum der da so schreit.“ Fritschi antwortete nicht sofort. Schließlich stieß er hervor: „Das ist meine Sache, Herr Hauptmann. Ich mische mich auch nicht in Ihre Angelegenheiten.“ Der Hauptmann sah Fritschi kurz an und sagte: „Ja, das ist Ihre Sache!“ Lüthi kam aus dem Haus. Erschöpfung im Gesicht. Er keuchte, als er, ohne uns anzusehen, an uns vorbei ging und im Schulhaus verschwand. Seine Knöchel waren voll Blut. Diese Nacht schliefen wir unruhig. Ein Flüstern ging durch den Raum, tappende Füße huschten durch den Gang, manchmal schluchzte einer.“ (Honegger 1974, S. 112- 113) Eine schockierende Szene, sie spielt nach Honegger in einem Erziehungsheim im 20. Jahrhundert. In seinem Vorwort betont der Autor den autobiographischen Charakter des Romans. Seine „Absicht ist allein, Zustände und Systeme darzustellen, welche die Entwicklung jugendlicher Außenseiter der Gesellschaft hemmen und gut gemeinte Absichten oft in das Gegenteil verkehren.“ (ebda.) Honegger will aus seiner eigenen Erfahrung heraus über die Situation von Kindern und Jugendlichen informieren, die als „Außenseiter der Gesellschaft“ in Pflegestellen und vor allem in Heimen aufwachsen. Er hat dafür die Literaturgattung Roman gewählt, um dadurch einen weitaus breiteren Leserkreis zu erreichen als z.B. durch eine Veröffentlichung der Fachliteratur mit ihrer für Laien oft unverständlichen Sprache. Im Roman wird anschaulich, was sich in wissenschaftlichen Arbeiten oft nur in abstrakt wirkenden Worten und Zahlen manifestiert. Die obige Szene wird manchen Leser betroffen machen. Er verliert so seine Distanz zum Geschehen und wird unmittelbarer Zeuge einer Brutalität, die er hinter dem Begriff „Heimerziehung“ sonst vielleicht nie vermutet hätte. So ist es nicht allein Information, die der Autor mit dieser Art der Darstellung erreichen will. Sein Ziel ist letztlich die Herausforderung einer Reaktion des Lesers, die sich als Parteinahme zugunsten der von Heimerziehung betroffenen Kinder darstellen müsste. Ergebnis einer solchen Parteinahme kann nur Änderung der Heimerziehungspraxis sein, der „Zustände und Systeme“, die der Autor in seinem Vorwort als hemmend für eine positive Entwicklung der Kinder beschreibt. Zu untersuchen bleibt an dieser Stelle, wie die „Zustände und Systeme“ zu definieren sind. Handelt es sich um nur institutionelle Zwänge (vgl. Goffmann 1977) oder ist die „Misere der Heimerziehung“ letztlich eine logische Folgeerscheinung das kapitalistischen Gesellschafts-ordnung (vgl. Ahlheim u.a. 1972)? Probleme von Stellung und Aufgabe der Heimerziehung innerhalb einer Gesellschaft müssen hier aufgezeigt und geklärt, Zielangaben der Heimerziehung kritisch beleuchtet werden. Denn „gut gemeinte Absichten“ scheinen offenbar oft keinen Einfluss auf die Praxis zu haben. Der Titel von Honeggers Roman „Die Fertigmacher“ eröffnet noch eine andere Perspektive. Mit „Fertigmachern“ meint er wohl konkret Personen wie den Erzieher Lüthi, der den Zögling brutal zusammenschlägt, und den Heimleiter Fritschi, der diese Art von Behandlung befürwortet. Werden diese „Erziehenden“ von den „Zuständen und Systemen“ zu ihrem Handeln gezwungen? Sind sie somit „Fertigmacher wider Willen“? Oder bietet ihnen nur das System einen Freiraum, der ihr negatives Handeln ermöglicht oder begünstigt? Dann wären sie als Personen auch zu Verantwortung zu ziehen. Zustände und Systeme ließen sich im Handeln dieser Personen greifbar machen, wären damit machbar und veränderbar. Also trägt doch der Einzelne die Schuld an der Misere, auch der Hauptmann, der sich schnell abspeisen lässt und die Sache des misshandelten Heimjungen nicht zu seiner eigenen macht. Der Hauptmann ist ein Außenstehender, ein Zuschauer, der wie der Leser des Romans plötzlich mit einer brutalen Praxis konfrontiert wird. Er unternimmt letztlich nichts, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Honeggers Roman versteht sich als Appell eines Opfers von Heimerziehung an die Öffentlichkeit. Er wurde für mich zum Anlass dieser Untersuchung, bei der es darum geht, Honeggers Ansatz auszuweiten und die Basis seiner Aussagen zu verbreitern. Deshalb wurde autobiographische und belletristische Literatur zum Thema Heimerziehung gesammelt und auf Übereinstimmungen und Unterschiede hin untersucht, mit der Absicht, dazu beizutragen, dass Heimkinder zum öffentlich begriffenen Problem werden, ihre Isolation aufgehoben bzw. vermieden wird und die Heime sich unter dem Druck einer engagierten Öffentlichkeit zur Gesellschaft hin öffnen. (vgl. Gerber 1974, S. 19) Köln 1979 Material und Fragestellung Gegenstand dieser Arbeit sind Autobiographien, Biographien, Romane mit teils autobiographischem und teils biographischem Charakter, Erzählungen, Berichte, Protokolle und Schauspiele zum Thema Heimerziehung. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit des Materials, da trotz intensiver Suche vermutlich nicht alle Veröffentlichungen erfasst werden konnten. Eine Aufstellung der Literatur mit dem Versuch der Einordnung in literarische Kategorien findet sich im Anhang. Hauptkriterium bei der Auswahl des Materials war die Frage, ob in der vorliegenden Literatur Aussagen über das Leben von Heimkindern gemacht werden. Unter „Heimen“ verstehen wir hier Institutionen zur außerfamiliären Erziehung, die unter den verschiedensten Benennungen auftauchen: z.B. Waisenhaus (Salzmann 1784 – 88), Borstal (Behan 1959), Jugendlager (Aerde 1959), Fürsorgeheim (Aerde 1959), Reformschule (Bjelych, Pantelejew 1929), Besserungsanstalt (Motley 1951) etc.. Diese Institutionen dienen einerseits der Versorgung und Erziehung nicht-auffälliger Kinder und haben so mehr Waisenhauscharakter. Andererseits ist ihr Zweck der einer Strafe, Besserung oder Umerziehung für auffällige oder „kriminelle“ Kinder und Jugendliche. Eine exakte Trennung zwischen der Funktion von Heimen vorzunehmen, ist jedoch außerordentlich schwierig, da sich nicht selten beide Gruppen in einem Heim befinden (vgl. Castillo 1958, S. 133). Die unterschiedliche Ausgangslage der Kinder und Jugendlichen wird in Kapitel 3 genauer untersucht. Die in der untersuchten Literatur beschriebenen Kinder und Jugendlichen würden nach dem heutigen Sprachgebrauch unter die Begriffe „öffentliche Erziehung“ (FE) und „freiwillige Erziehungshilfe“ (FEH) fallen (vgl. Kluge, Lützenkirchen 1975 S. 23). Bezüglich Zeit und Ort ist da Material außerordentlich heterogen angelegt. Es reicht vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (d.h. 20. Jh.) und umfasst Arbeiten sowohl aus dem deutschsprachigen Raum als auch aus Frankreich, der Schweiz, Großbritannien, den Niederlanden, der ehemaligen UdSSR und den USA. Dadurch ergab sich die Möglichkeit und Aufgabe der Darstellung zeitlicher Entwicklungen und geographisch-politischer Unterschiede. So ist z. B. ein Vergleich zwischen der Beschreibung der Heimerziehung in der ehemaligen UdSSR bei Bjelych/Pantelejew (1929) und der „westlicher“ Autoren außerordentlich interessant. Trotz dieser Heterogenität des Materials lassen sich jedoch tendenzielle Übereinstimmungen einiger Aussagen feststellen, die es ermöglichen, allgemein und auch für die Gegenwart Schlüsse aus dem vorliegenden Material zu ziehen. So erfährt beispielsweise Heimerziehung fast in der gesamten untersuchten Literatur negative Beurteilungen. Ein Grund für diese kritische Tendenz der Veröffentlichungen mag sein, dass das verwendete Material bewusst so ausgewählt wurde, dass der Komplex Heimerziehung von innen, d.h. aus der Sicht der Betroffenen heraus problematisiert werden soll. So wurden Berichte und Erzählungen von Heimgründern und –trägern aus der unmittelbaren Untersuchung ausgeschlossen. In dieser Literatur wird Heimerziehung durchweg positiv dargestellt (Wölfel i. Trost 1952, S. 1265 - 1283), w as z. T. d ar an lieg en mag , d as s h ier b es o n d er s h er au s r ag en d e Erzieherpersönlichkeiten beschrieben werden, die sich in ihrer Zeit und Umgebung für gefährdete Kinder und Jugendliche engagierten und oft innovative und ungewöhnliche Wege der Erziehung beschritten (vgl. Borelli 1964 über Don Vesuvio, Gotthelf 1839, Heimersdorf 1927, Makarenko 1937, Oursler 1948 über Pater Flanagan, Pestalozzi 1799, Ronner 1955 über Th. J. Barnado, Simon 1954 über Abbe Pierre, Wilker 1924, Wilkerson 1963 u.a.). Es kann angenommen werden, dass diese Veröffentlichungen wenig Aufschluss über den Alltag von Heimkindern geben, da es sich hier um positive Sonderfälle handelt, die mit der allgemein geübten Praxis der Heimerziehung wenig Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. Loosli 1928, s. 64-65). Zur Interpretation der in die Untersuchung einbezogenen Literatur stellen diese Arbeiten jedoch eine wertvolle Hilfe dar. Das Material lässt sich in direkte Aussagen von Heimkindern über ihre Zeit im Heim einteilen, d.h. autobiographische Literatur (Romane, Berichte usw.) und in Texte, in der sich Autoren mehr oder weniger zum Anwalt und Sprecher von Heimkindern machen (Romane, Berichte, Protokolle, Schauspiele usw.). Die Letzteren haben sich zum Teil durch persönliche Recherchen ein Bild über die Praxis von Heimerziehung gemacht. Ein besonders auffallendes Beispiel bietet hier für Lampel, der sein Schauspiel „Revolte im Erziehungshaus“ (1929) auf der Basis von eigenen Erlebnissen als Hospitant in einem Erziehungsheim und während dieser Zeit von ihm gesammelten Aussagen von Heimjungen schrieb (veröffentlicht in „Jungen in Not“ 1929). Das Theaterstück wurde zur damaligen Zeit zum Anlass für öffentliche Diskussionen über die Reform der Erziehungshäuser, die in einem Prozess, der Lampels Aussagen bestätigte, ihren Höhepunkt fanden (vgl. Kindlers Literaturlexikon 1964). Andere Autoren zitieren mehr oder weniger wörtlich ihre Gespräche mit Heimkindern (z.B. Bembe 1959, Gothe/Kippe 1975), berichten von eigenem Engagement für Heimkinder (Mostar 1952), sind in alternativer sozialer Arbeit mit auffälligen Jugendlichen tätig (Ossowsky 1967 u. 1972, Gothe/Kippe 1975) oder haben starke emotionale Bindungen zu Heimjugendlichen (Ziegler 1978). Immer jedoch sind sie in irgendeiner Form vom Schicksal der Heimkinder persönlich betroffen. Ihre Arbeiten dienen der Aufklärung der Leser über die Situation in Heimen (vgl. Geiger/Gog 1929). So gerät die nicht-autobiographische Literatur durchaus in die Nähe der autobiographischen und wird dem Kriterium einer „zöglingsorientierten“ Betrachtungsweise durchaus gerecht. Die emotionale Beteiligung der Autoren kann allerdings auch zu grob verzerrenden Aussagen führen. Ein auffallendes Beispiel hierfür fanden wir bei Richter (1929). Seine Beschreibung der Körperbehinderung einer Fürsorgerin wirkt extrem diskriminierend. Die Behinderung wird in der Darstellung als Symbol des Bösen missbraucht, körperliche Schönheit glorifiziert: „Fräulein Groß war schon missgestaltet zur Welt gekommen. Die linke Seite ihres Körpers war stark und kräftig geraten, die rechte Seite war schwächlich und verkümmert. Zwischen dem linken Schulterblatt und der Wirbelsäule saß ein Buckel. Ihr Körper war indessen klein und vornübergebeugt. Das Gesicht war mürrisch. Zwei dicke, wulstige Lippen und darüber eine plumpe plattgedrückte Nase. In den Augen lag das feindselige gehässige Lodern, das für Bucklige so bezeichnend ist. Sie war ganz die richtige Person, um die Sittlichkeit der gesunden und natürlichen Jugend, die mit geraden Gliedern und hübschen Gesichtern herumlief, zu überwachen. Das hatte der hohe Rat der Stadt auch bald erfasst und ihr deshalb das Amt einer ersten Jugendpflegerin übertragen. Als Beweis für die besondere Eignung zu diesem Amt hatte der städtische Referent vor ihrer Anstellung rühmend hervorgehoben, dass sie von tadelloser Sittenstrenge sei, dass sie niemals noch irgendwelche Beziehungen zu Männern unterhalten habe, und dass sie ihre keusche Gesinnung unter anderem dadurch bezeige, dass sie entgegen der herrschenden Mode stets lange, bis auf den Fußboden reichende Röcke trug. Ihre Beine waren nämlich dick und krumm.“ (S. 70-71). Diese Darstellung dient sicher nicht der Glaubwürdigkeit der sonst von Richter gemachten Aussagen. Im Allgemeinen wurde jedoch auf eine qualitative Beurteilung des Materials verzichtet. Der Unterteilung in Autobiographien von literarischem Rang, polemischen Schriften und entstellenden Unterhaltungsschriften, die Wölfel (1952) vornimmt, konnte ich mich nicht anschließen. Aussagen über den Wahrheitsgehalt der Arbeiten sind m.E. nicht von ihrer literarischen Qualität her zu treffen. Es geht hier darum, Tendenzen innerhalb der Heimerziehung deutlich zu machen, die sich aus den Aussagen von Heimkindern und der für sie engagierten Autoren ergeben. Es kann deshalb auch nicht um eine quantitative Gewichtung der verschiedenen Phänomene gehen. Eine Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der hier dargestellten Ergebnisse lässt sich zudem nur sehr schwer empirisch durchführen. Beim Durcharbeiten des vorliegenden Materials fand auch bei mir eine überaus starke Identifikation mit den erzählenden oder beschriebenen Heimkindern statt, die sich aus der oft großen Emotionalität der Texte ergibt. Die Position eines distanzierten Betrachters und Auswertenden konnte bisweilen nur mit Mühe erreicht werden. So fand ein Prozess der Parteinahme statt, der jedoch m. E. durchaus seine Legitimation hat: „Will man die Situation der Patienten getreulich beschreiben, so muss man notwendig ihre Partei ergreifen.“ (Goffman 1977, S. 8). Das subjektive Erleben der betroffenen Person bestimmt die Wirkung der Situation auf seine Entwicklung, nicht wie sie aus der Sicht eines „neutralen“ Beobachters erscheint. Das heißt jedoch nicht, dass dadurch eine Reflexion und Interpretation der behandelten Zusammenhänge ausgeschlossen wäre. Der Vorwurf, der einer zöglingsorientierten Betrachtungsweise gemacht werden könnte, ist in dem Roman „Sprung über den Schatten“ (Rantzau 1931) einem Erzieher in den Mund gelegt (S. 157 ff.). Der Erzieher Gottlieb weist die Vorwürfe, die der Fürsorgeerziehung gemacht werden (schlechtes Essen, Schläge, Mangel an Liebe und Einfühlung) zurück. Die Möglichkeit menschlichen Versagens gibt er zu und meldet sogar Zweifel am System an: „Die ganze Zwangserziehung mit Freiheitsbeschneidung und hundert engen Schemata ist ein ungelöstes Problem.“ (S. 157) Urteile aufgrund von Aussagen von Heimkindern nennt er jedoch einseitig. Sie seien dadurch verzerrt, dass sich ein von außen befragter „Zögling“ durch Hoffnung auf Freiheit zu unsachlichen Aussagen hinreißen lasse. Das soziale Gewissen der Gesellschaft sei „krankhaft überfeinert“, so dass „alle Begriffe sich verschieben.“ (S. 158). Erzieher würden zu Sündenböcken gemacht, ihre Erfolge blieben unbeachtet. Ein gutes Beispiel solcher Haltung ist die Reaktion, die auf Looslis „Anstaltsleben“ (1924) in der Schweiz erfolgte. Loosli schildert hier rückblickend sein Leben in einer „Erziehungsanstalt“ aus einem Gefühl von Verantwortung für die noch immer betroffenen Kinder heraus: “Ich habe, seitdem ich selbst den Anstaltshöllen entronnen bin, nie aufgehört, sie, wo sich mir auch nur immer Gelegenheit bot, beobachtend zu verfolgen. Meine Beobachtungen melden mir, dass sich seit meiner Zeit wenig oder nichts geändert hat. Daß, wie zu meiner Zeit, Kinder körperlich wie seelisch misshandelt und gemartert, für das Leben untauglich und allen späteren Leiden gegenüber wehrlos gemacht werden. Um dieser Kinder willen schreibe ich dieses Buch.“ (S. 8) Wirklichkeit ist für Loosli nicht in den „Jahresberichten der Vorsteher, den Befunden der Aufsichtsbehörden und Gönner“ zu finden, sondern Wirklichkeit der Anstaltserziehung ist die, „wie sie der Zögling sieht, erlebt und erleidet.“ (S. 8) Nach der Veröffentlichung von Looslis „Anstaltsleben“ brach ein Sturm der Entrüstung los, den er jedoch bereits erwartet hatte: „Ich bin mir bewusst, das vorliegende Buch sonder Haß noch Leidenschaft, wenn auch nicht ohne gelegentliche rückerinnernde Erbitterung geschrieben zu haben. Dennoch, oder gerade darum, kann ich mir nicht verhehlen, das es auf manchen Widerspruch, auf manches Missverständnis stoßen wird. Das ist auch in dem unerhörten Standpunkt begründet, von dem aus er geschrieben wurde. Nämlich von dem, des am unmittelbarsten an der Anstaltserziehung Beteiligten, vom Standpunkt des bis dahin nie angehörten Zöglings. Ich glaube immerhin, daß gerade dieser Standpunkt es verdiente, einmal geschildert, umschrieben und bekannt zu werden.“ (S. 153) Der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen wurde von seiner Umwelt angezweifelt, Loosli sah sich deshalb zu einer Gegenantwort genötigt: „Ich schweige nicht! Erwiderung an Freunde und Gegner auf ihre Äußerungen zu meinem Anstaltsleben“ (1925). Er führt Zuschriften ehemaliger Heimkinder an, die sich für seine Arbeit bedanken und seine Aussagen bestätigen (S. 51, 54, 55). Der Vorwurf der Verzerrung trifft allein die andere Seite: „Denn, was die Öffentlichkeit von den Anstalten erfährt, erfährt sie aus dem Munde derer, die an ihrem Bestand Interesse haben, die sie leiten, beaufsichtigen, unterstützen. Aus dem Munde derer also, die die Erziehungsanstalten nur von außen, gewissermaßen aus der Vogelperspektive kennen. (1924, S. 4) Heimleiter, Erzieher und Behörden sind in der Erziehungspraxis handelnde Subjekte. Darin besteht ihre Machtposition. Die für die Heimerziehung zuständigen und verantwortlichen Instanzen werden kaum ihre eigene Praxis kritisieren, da sie sowohl von der grundsätzlichen Richtigkeit der von ihnen vermittelten Erziehung überzeugt als auch an der Erhaltung des „status quo“ , als des bequemsten, interessiert sind. So stehen die Aussagen der Mächtigen und sozial Anerkannten gegen die der Ohnmächtigen und Außenseiter. Und allzu oft wird den Aussagen von Erziehern u. a. ein höherer Wahrheitsgehalt zugestanden als denen von Kindern. So berichtet Roth (1973) von einem Verfahren gegen eine Kinderheimschwester wegen sadistischer Erziehungsmethoden. Die Einstellung des Verfahrens wurde damit begründet, dass „die Aussagen der Kinder unglaubwürdig sind.“ (S. 47) Erwachsene meinen, Kinder erziehen zu können, ohne Kinder ernst zu nehmen. So muss das Ausschalten einer kindorientierten Betrachtungsweise zum Grund für die Misere der Heimerziehung werden. Nach Kluge/Lützenkirchen (1975) gebietet „ein s o n d er - p äd ag o g is ch es G r u n d p r in zip f ü r d ie p äd ag o g is ch e F ü h r u n g Verhaltensauffälliger, auf die Bedürfnisse Verhaltensauffälliger einzugehen (S. 18). Nur wenn Kinder und ihre Wirklichkeit aktiv mit in das Erziehungsgeschehen einbezogen werden, können Erzieher Kindern gerecht werden. Kinder sind dann nicht passive Opfer. Eine Erziehung, die an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert ist, muss ihre Wirkung auf die zu Erziehenden zum Maßstab ihrer Überlegungen machen. Während Späth Kinder und Jugendliche geschlossener Heim als „völlig rechtlos und der Willkür ihrer Erzieher ausgeliefert“ beschreibt (1978, S. 13), gesteht § 1 des JWG dem Kind ein „Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ zu. Das Recht auf eine solche Erziehung bedeutet auch Recht auf Kritik an einer Erziehung, die dem Anspruch des Gesetzestextes nicht gerecht wird, ein Recht, ernst genommen und nicht von vornherein der Lüge bezichtigt zu werden. Mailer greift in seiner Monroe-Biographie (1973) diese Problematik unter einem anderen Gesichtspunkt auf. Er konfrontiert die Angaben Marilyn Monroes über ihr Leben im Waisenhaus mit denen der Anstaltsleiterin Mrs. Ingraham. Monroes „Schauergeschichten“ erklärt er mit ihrem „Haß auf die Langeweile, zu der diese Anstalt sie verdammte“. (S. 49) Er geht sogar noch weiter. Die Lüge wird als Garant des Funktionierens der Anstalt interpretiert, ist unentbehrlicher Bestandteil der Institution: „Im übrigen ist es ja für Menschen, die in solchen Institutionen leben müssen, schlechterdings unmöglich, keine Lügen zu erzählen, da eine Anstalt immer dann am besten funktioniert, wenn keiner der Insassen die Wahrheit sagt... Wenn man also dem Waisenhaus einen Vorwurf machen will, dann den, dass es eine notorische Lügnerin aus Marilyn gemacht und alle in ihrem Charakter liegenden Neigungen zur Geheimniskrämerei verstärkt hat.“ Unter solchen Gesichtspunkt betrachtet, könnte den Berichten von Heimkindern Verzerrung der Wirklichkeit zugestanden werden, die jedoch wieder Ergebnis ihrer institutionalisierten Erziehung wäre. Der Circulus Vitiosus schließt sich. Ich bin mir bewusst, das ich möglicherweise angreifbares Material vorliegen habe, das durch Einseitigkeit seiner Betrachtungsweise Verzerrungen von Wirklichkeit enthalten könnte. Trotzdem sind wissenschaftlich relevante Aussagen über die Erziehung von Heimkindern Ziel dieser Veröffentlichung. Solcher Anspruch lässt sich rechtfertigen durch die Feststellung, dass es bei dieser Untersuchung um die subjektive Wirklichkeit der Betroffenen geht. Aus ihrer Sicht soll beschrieben werden, wie sie Heime erlebten und beurteilten. Nicht wie eine Erziehung gemeint ist, bleibt das entscheidende, sondern wie sie wirkt und welche Ergebnisse sie erzielt (vgl. Tausch u. Tausch 1973, S. 12). Mag die Wirklichkeit von Heimkindern auch nicht immer mit der von Erziehern übereinstimmen, so ist es doch die Wirklichkeit der Kinder und Jugendlichen im Erziehungsprozess, die ausschlaggebend für ihre Entwicklung ist. Problemfelder Das Vorliegende Material wurde auf Aussagen zu folgenden Themenbereichen hin untersucht: Ist-Lage von Heimkindern- und Jugendlichen Erziehungsziele der Heimerziehung Allgemeine Atmosphäre der Heime (Tagesablauf, Baulichkeit, Lage ...) Soziale Interaktion zwischen Erziehern und Heimkindern Sexualität im Heim Gruppenstrukturen Verhältnis zwischen Heimkind und Gesellschaft 3.1. Ist-Lage von Heimkindern und – jugendlichen Die Kölner Verhaltensauffälligenpädagogik definiert Ist-Lage als den „derzeitigen nachprüfbaren Wissens-, Kenntnis-, Erfahrungsstand und die Bedürfnislage eines Menschen oder der Mehrheit einer Gruppe“ (Kluge/Lützenkirchen 1975, S. 43). Es kann angenommen werden, dass sich die in der vorliegenden Literatur beschriebenen Kinder bezüglich ihrer Ist-Lage von anderen Kindern unterscheiden. Ihre Ist-Lage müsste eine Begründung für die Notwendigkeit außerfamiliärer Erziehung bieten, Heimkinder eine von der allgemeinen Norm in Bezug auf Biographie, aktuelle Lebenssituation und Verhalten abweichende Gruppe darstellen. Es wurde deshalb gefragt, in wieweit die in der vorliegenden Literatur beschriebenen Kinder und Jugendlichen unter den Begriff der „Verhaltens-auffälligkeit“ zu fassen sind, zumal Kluge Heimerziehung im Rahmen von FE und FEH als eine „Refunktionalisierungsmaßnahme“ für Verhaltensauffällige nennt (vgl. Kluge/Vosen 1975). Für diese Gruppe wird die Ist-Lage als negativ in sozialer, emotionaler und intellektueller Hinsicht beschrieben (vgl. Kluge/Lützenkirchen 1975, S. 70). Stimmt diese Definition mit der in der vorliegenden Literatur beschriebenen Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen überein? Zeigen sie ein „problematisches Sozialverhalten in einem sozialen Kontext bzw. in Bezug auf Führungsverhalten“ (Kluge/ Vosen 1975, S. 15)? Sollte sich die Bestätigung der Annahme finden, stellt sich die Frage nach den jeweiligen Normen für die Beurteilung des Verhaltens. Stimmen die Kinder mit der offiziellen Definition ihres Verhaltens überein bzw. wie sehen sie selbst ihre Ist-Lage und welche Bedürfnisse äußern sie? Zum Weiteren muss nach Ursachen und Bedingungen für Auffälligwerden gefragt werden und damit die Situation der hier beschriebenen Kinder im sozialen Kontext und dem von Erziehung und Bildung untersucht werden. Es geht also um die der Heimeinweisung vorauf gegangene Entwicklungsgeschichte der Betroffenen. Es kann angenommen werden, dass nicht immer eine Kombination sozio-ökonomischer Faktoren mit auffälligem Verhalten als Grund für den Heimaufenthalt zu finden ist, sondern dass durchaus allein materielle Notsituationen der Familie die Heimeinweisung eines Kindes zur Folge haben kann, ohne das bei dem betreffenden Kind auffälliges Verhalten im o.g. Sinne festgestellt werden kann. Hier besteht ein Zusammenhang zwischen der Ist-Lage der Kinder und der Struktur und Aufgabenstellung der jeweiligen Heime. In einem „Waisenhaus“ müsste man andere Kinder finden als in einer „Besserungsanstalt“. Hierzu findet man recht unterschiedliche Darstellungen. Während z. B. Castillo (1958, S. 133) die unterschiedliche Ist-Lage der Kinder eines spanischen Heimes schildert („kriminelle“ und Waisenkinder sind hier zusammen untergebracht) und Loosli (1924, S. 33) die unter-schiedliche Herkunft der „Zöglinge“ von „Erziehungsanstalten für Durchschnittskinder“ als eine der Ursachen für die Mängel der Heimerziehung nennt, berichten andere Autoren von Heimdifferenzierung. Aerde (1959) lässt die Hauptperson seine Romans, der in den Niederlanden spielt, im Laufe seiner Entwicklung verschieden strukturierte Heime durchlaufen. Bei Noack (1970) wird von einem unehelich geborenen Jungen berichtet, der nach dem Suizid der Mutter erst in einem Waisenhaus untergebracht wird. Unerwünschtes Sexualverhalten des Jungen führt dann zur Einweisung in ein Erziehungsheim. Die besonders in jüngerer Literatur beschriebene Differenzierung von Heimen könnte eine durchaus positive Entwicklung innerhalb des Komplexes Heimerziehung darstellen. Die in der vorliegenden Literatur beschriebenen Kinder empfinden jedoch oft die Einweisung in ein Heim, das von Behörden als ihrer Ist-Lage entsprechend definiert wird, als Strafe, da Heime oft in der Geschlossenheit und Schärfe ihrer Erziehungsmaßnahmen gestaffelt sind: In herkömmlichen Heimen als „nicht erziehbar“ eingestuft, werden so stigmatisierte Kinder noch strengeren Erziehungspraktiken von Spezialheimen unterworfen. Differenzierung scheint in der Praxis leider oft ein abgestuftes Verstärken von Strafmaßnahmen zu bedeuten (vgl. Aerde 1959, S. 199 ff.; Noack 1970, S. 59; Sozialmagazin 9/1978, S. 12 ff). Besonders in der Literatur, die Heimerziehung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt, wird die Tatsache, Waise oder Halbwaise zu sein als ausschlaggebender Grund für den Heimeintritt genannt (Salzmann 1784, Dickens 1837, Bronte 1847, Forel 1910, Stanley 1911, Schaffner 1922, Weinheber 1924, Loosli 1924, Leitgeb 1948). Historisch gesehen findet man hier Akzentverschiebungen bei der Beschreibung der IstLagen. Kennzeichen dieser Kinder, das sie mit anderen Außenseitern der Gesellschaft, z.B. Alten und Kranken, teilen, ist ihre Versorgungsbedürftigkeit. So wird bei Dickens und Stanley das Waisenhaus als eine Abteilung des Armenhauses beschrieben. Beide Autoren prangern mit ironischen Formulierungen die Einstellung der Gesellschaft den Armen gegenüber an. Dickens bezeichnet Waisenkinder als „junge Übertreter des Armengesetzes“ (1837/38 S. 8). Stanley spricht von einem „Fehler, versorgungsbedürftig zu sein.“ (1911, S. 14). Armut wird von der Gesellschaft als persönliches Verschulden gewertet (vgl. Ahlheim 1972, S. 22 ff.). Die Lage dieser Waisen, die aus heutiger Sicht als negativ hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Situation zu beschreiben wäre, beinhaltet in den Augen der damaligen Gesellschaft ein problematisches Sozialverhalten. Die im Waisenhaus vermittelte „Erziehung“ hat daher auch eher Straf- als Versorgungscharakter. Dickens schildert die Situation des neugeborenen Waisen Oliver so: „Aber jetzt in dem alten Kattunkleidchen trug es Brandmal und Abzeichen seiner Stellung, einer Waise eines Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttiers, das, von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt gestoßen wurde.“ (S. 7) Dass die Versorgungsbedürftigkeit vieler Kinder vor allem eine materielle Frage war, zeigt die Beschreibung der Lage von Halbwaisen. Da durch den Tod des Vaters die Ernährung der Familie nicht länger sichergestellt war, waren viele Witwen nicht in der Lage, sowohl ihren Lebensunterhalt zu verdienen als auch für ihre Kinder zu sorgen (zur Aktualität dieses Problems vgl. die Lage alleinerziehender Mütter bei Behr 1974, s. 55 f.) Ein besonders eindruckvolles Beispiel für einen solchen Fall findet man bei Forel (1910) beschrieben. Trotz angestrengter Heimarbeit einer Mutter reicht das Geld nicht für die Ernährung ihrer kleinen Familie aus. Der älteste Sohn muss ins Waisenhaus. Selbst gelegentliche Besuche des Kindes zuhause scheitern an ihrer Finanzierung: „Meine Mutter lebte aber in so schlechten Verhältnissen, dass es ihr oft schwer fiel, die Kosten meiner Verpflegung auch nur für einen Tag auf sich zu nehmen.“ (S.17) Noch bei Graham/Frank (1958) wird die materielle Notsituation der Mutter als Grund für den Heimeintritt eines Kindes dargestellt. Ihr Gesamtbesitz ist ein gemietetes Sofa. Mit sechs Jahren wird die Tochter ins Ostlondoner Waisenhaus gebracht. Die Autorin kommentiert ihre Kindheitserinnerungen so: „Wenn ich auf meine Kindheitsjahre zurückblicke, fällt es mir schwer, nicht zu glauben, dass sie vielleicht nie wirklich waren – dass ich alles bei Dickens oder in einem billigen Schauerroman der Zeit gelesen habe.“ (S. 14) Der Zustand häuslicher Armut und die Erlebnisse im Waisenhaus des 20. Jahrhunderts werden durch den Vergleich mit Dickens als unzeitgemäß und dem gesellschaftlichen Entwicklungs- und Erkenntnisstand nicht angemessen charakterisiert. Ähnlich anklagende Vergleiche findet man noch bei Werner (1969, s. 264) und Mostar (1952). Mostar will darstellen, dass Oliver Twists Schicksal nicht einer dunklen Vergangenheit angehört, sondern sich abgesehen von kleinen Varianten ständig wiederholt: „Natürlich heißt das Kind, dem wir begegneten, und in dessen Schicksal wir eingreifen konnten, nicht Oliver; aber auch dieser Elfjährige wurde unehelich geboren, auch seine Mutter starb im Elend, an Tuberkulose, indeß sein Vater im Osten fiel; und weil eine Tante sich seiner nicht genügend annehmen konnte, und weil er deshalb Luft aus parkenden Autos ließ und sonst einige Dummheiten machte, kam auch er, mit sieben Jahren, in eine Erziehungsanstalt – nennen wir ihn also getrost Oliver.“ (S. 307) In dieser Aussage wird zudem, über die Parallele zu Oliver Twists Schicksal hinaus, beispielhaft für viele andere Lebensgeschichten von Heimkindern deutlich, wie multikausal jene Faktoren sind, die bei der Konstituierung der Ausgangslage in Wechselwirkung zueinander stehen und schließlich zur Heimeinweisung führen. Zeitgeschichtliche Faktoren, wie der Zweite Weltkrieg, der direkt und indirekt den Tod der Eltern des Kindes bedingt, spielen in der untersuchten Literatur oft eine Rolle bei der Beschreibung der Entwicklungsgeschichte von Kindern (Aerde 1959, Behan 1959, Bembe 1950, Bjelych/Pantelejew 1929, Castillo 1958, fichte 1965, Geiger-Gog 1929, Lenz 1968). Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zerstörten den gewohnten Lebensraum vieler Kinder in sozialer und materieller Hinsicht. Wie in dem hier zitierten Fall stellen sie so oft eine der Bedingungen für Auffälligwerden dar, das schließlich zur Heimeinweisung führt. Wesentlich erscheint uns auch die Erwähnung von Olivers Tante, die sich nicht genug um ihn kümmern konnte. Die mangelnde Aufsicht durch diese Tante stellt eine Form von Versagen eines familiären Erziehungsträgers dar, das in den vorliegenden Veröffentlichungen vor allem in jüngerer Literatur als einer der Gründe für Auffälligwerden von Kindern bzw. ihre Heimeinweisung genannt wird. Fehlverhalten von Eltern oder anderen Familienmitgliedern reicht von Vernachlässigung oder Kindesmisshandlung bis zur Anstiftung zu kriminellem Verhalten der Kinder (vgl. Capote 1969, S. 88-89; Castillo 1958, S. 161; Glaser 1953, S. 44; Koerber 1955, S. 50 u. 61; Lampel 1929, s. 58-59; Stenglin 1912, S. 30). Es lässt sich hier sowohl ein Zusammenhang zwischen Familienstruktur und elterlichen Verhaltensweisen als auch der gewichtige Einfluss sozio-ökonomischer Faktoren feststellen. Bei Cesbron (1955) wird die familiäre Situation eines Heimkindes folgendermaßen beschrieben: „Aber wenn sich der Vater betrinkt und die Mutter auf die Straße geht...Eins um des andern willen – aber wer hat angefangen? Und beide tun’s auch nur, weil sie zu fünft in einem einzigen Raum leben!“ (S. 38) Schlechte Wohnverhältnisse werden so als bedingend für die Zerrüttung einer Familie dargestellt. Die Verwahrlosung von Eltern und Kindern steht in direktem Zusammenhang. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Entwicklungsgeschichte von Heimkindern multikausale Züge zeigt: soziale, ökonomische, historische und familiär-strukturelle Faktoren stehen in Wechselwirkung und führen in manchen Fällen zu auffälligem Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Dieses Verhalten, das letztlich Grund für Heimeinweisung wird, kann man allgemein als gegen gesellschaftliche Normen verstoßend charakterisieren. Es werden genannt: kriminelles Verhalten wie Diebstahl, Gewalttätigkeiten, Totschlag (vgl. Bjelych/Pantelejew 1929, S. 12; Castillo 1958, S. 161; Genet 1976 S. 86, 148, 196; Glaser 1953, S. 44; Ritter-Bern 1926 S. 57 u.a.), unerwünschtes Sexualverhalten (vgl. Noack 1970, s. 59; richter 1929 S. 30 u.a.) und Prostitution (vgl. Cesbron 1955, S. 85), Landstreichen und „Umherstreunen“ (Glaser 1953, S. 44), Erziehungsschwierigkeiten in der Familie (Lampel 1929, S. 27 – 28) oder staatlich unerwünschte politische Aktivitäten (Lampel 1929 S. 13 und Behan 1958). In Bezug auf das Verhältnis von Heimerziehung und Ist- Lage der beschriebenen Kinder fällt auf, dass viele Autoren bei der Beschreibung der Ist-Lage von Heimkindern Heimerziehung als sinnvolle pädagogische Maßnahme mit dem Ziel einer positiven Änderung der Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen infrage stellen. Erwartungen von Kindern an Heimerziehung in Richtung einer Verbesserung ihrer Lage werden oft nicht erfüllt. Stenglin (1912) vergleicht die positive Grundhaltung eines Kindes beim Eintritt in eine „Anstalt“ mit der resignierten Haltung, die sich nach längerem H 3.2. Erziehungsziele der Heimerziehung Nach Kluge-/Lützenkirchen besteht in der Verhaltensauffälligenpädagogik “die grundlegende Zielvorstellung, die soziale und emotionale und intellektuelle negative IstLage Verhaltens-auffälliger sozial positiv zu verändern“ (1975, S. 70). So müsste auch Zieldefinition von Heimerziehung eine umfassende Verbesserung der Situation betroffener Kinder und Jugendlicher sein, die Kluge mit dem Begriff der „Refunktionalisierung“ beschreibt. (vgl. Kluge/Vosen 1975, S. 56-57) und die nur „auf der Basis einer qualifizierten Selbstverwirklichung“ zu sehen sei (ebda. S. 11). Das Ziel von Erziehung ist also zweipolig zu verstehen: „Personalisation“ und „Sozialisation“ stehen in Wechselwirkung zueinander. Durch „Hebung des Sozialstatus und Verbesserung des Qualifikationsstatus“ sollen Voraussetzungen zur kritischen Mitgestaltung gesellschaftlichen Lebens geschaffen werden (ebda. S. 34). Das verhaltensauffällige Heimkind soll zur Gesellschaft hin erzogen werden, jedoch nicht als unreflektierte Anpassung verstanden, sondern als Befähigung zur engagierten demokratischen Mitarbeit. Offenbar sieht die Praxis vieler Heime der Gegenwart leider oft immer noch anders aus. Roth (1973) wirft aktueller Heimerziehung vor, weder „dem Kind Möglichkeiten zu vermitteln, sich zu einer freien und selbstbewussten Persönlichkeit zu entwickeln“ noch „die psychischen Störungen und Verhaltenauffälligkeiten der Kinder zu kompensieren und aufzuheben.“ (S. 103). Nicht eine positive Veränderung sei erreicht worden, sondern Kinder kämen „fast immer gestörter und zerstörter aus dem Heim heraus als sie hineingekommen sind“(ebda). Es stellt sich also die Frage, ob aufgrund ihres in der untersuchten Literatur vielfach bescheinigten Versagens Heimerziehung an sich als eine verfehlte Maßnahme zur positiven Veränderung der Lage der betroffenen Kinder und Jugendlichen anzusehen ist und ob die Gründe hierfür in falschen Zielsetzungen, mangelhafter Zielreflexion oder fehlender Verbindung zwischen theoretischen Zieldefinitionen und pädagogischer Praxis zu suchen sind (vgl. Tausch und Tausch 1973, S. 12). Anhand des vorliegenden Materials wurde somit versucht, die so beschriebene Problematik aus der Sicht der Betroffenen, also der Kinder und Jugendlichen, darzustellen. Es wurde untersucht, wie Heimkinder die Zielrichtung ihrer Erziehung erlebten, welche Ziele sie als angemessen oder realisierbar empfanden und welche Ziele sie ablehnten. Ausgehend von Kluges Modell der Refunktionalisierung wurde dabei besonderes Gewicht auf die Frage gelegt, inwieweit in der vorliegenden Lietratur geschilderte Zielangaben eine Hinführung zur Gesellschaft gekoppelt mit Hilfen zur Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder enthalten und ob unter diesen Vorzeichen vermittelte Erziehung faktisch ihre Ziele erreicht. In der überwiegenden Mehrzahl werden in der untersuchten Belletristik und autobiographischen Literatur die Ziele von Heimerziehung negativ dargestellt. Ein viel benutztes Mittel der Problematisierung stellt der Vergleich zwischen Erziehungszielen und den Ergebnissen solcher Erziehung dar. (vgl. Bembe 1950, Erhard 1931, Gothe/Kippe 1975, Honegger 1974, Motley 1951, Salzmann 1784-88, Stenglin 1912, Werner 1969). Andere Autoren konfrontieren Erziehungsziele mit ihnen widersprechenden Praktiken der Erzieher (z.B. Cremer 1964, Honegger 1974) oder schildern alternative Modelle, deren Ziele sie denen einer von ihnen kritisierten Heimerziehung gegenüberstellen (vgl. z.B. Noack 1970, Stenglin 1912, Webster 1948). Die negative sozio-ökonomische Situation vieler Heimkinder vor ihrem Heimeintritt (vgl. Kap. 3.1.) wird vor allem in früher Literatur (18. u. 19. Jh.) als Grundlage von Zieldefinitionen genannt. In der von Heimgründern verfassten Literatur oder in Berichten über ihre Arbeit (vgl. Kap. 2) wird eine derartige Lage vieler Kinder als Anlass für eine Ausbildung beschrieben, die die Kinder befähigen soll, ihre materielle und soziale Situation zu verbessern (z.B. Pestalozzi 1799, 1927 S. 22; Ronner 1955 S. 74). Demgegenüber wird in der untersuchten Literatur aus der Sicht der Heimkinder oft anklagend die Zielangabe einer „Erziehung zur Armut“ geschildert. Nicht Änderung ihrer negativen sozialen Situation werde angestrebt, sondern die Gewöhnung an sie und somit die Erhaltung des status quo. Die „Zöglinge“ sollten „früh an allerhand Entbehrungen“ gewöhnt werden (Loosli 1924, S. 73). In diesem Zusammenhang gibt besonders die Legitimation mangelhafter Versorgung der Kinder durch derartige Zielangaben einigen Autoren Anlass zur Kritik: Ch. Bronté (1816 – 1855) beschreibt in ihrem Roman „Jane Eyre“ die Entrüstung des Stifters von „Lowood Institution“ im Rahmen einer Inspektion des Heimes über die Anordnung der Heimleiterin, den Kindern nach einem ungenießbaren Frühstück eine zweite Mahlzeit zu servieren: „Madam, you are aware that my plan in bringing up these girls ist not to accustom them to habits of rich living. Should any little accidential disappointment of the appetite occur, they should be encouraged to suffer the hardship without complaint." (1949, S. 36). Wenige Zeilen später stellt Bronté die den Stifter begleitenden Damen als „clothed in silk an furs“ dar und zeigt damit die Richtung ihrer Kritik auf. Es geht um das hinter dem Ziel einer „Erziehung zur Armut“ stehende Bild einer Gesellschaft, in der keine Chancengleichheit besteht. Geburt und Herkommen bestimmen den weiteren Lebenslauf. Heimkinder werden der untersten Gesellschaftsschicht zugeteilt. In ihrem Roman „Heini Jermann“ kritisiert Geiger-Gog die Behandlung von Heimkindern als Menschen zweiter Klasse so: Während den Kindern mit der Begründung der schlechten Versorgungslage der Nachkriegszeit ungenießbares Essen vorgesetzt wird, füttern die Heimeltern zwei Schweine, die bald geschlachtet werden sollen. Die Autorin fragt ironisch: „Für alle? O nein, nur für die Hauseltern. Schweinebraten riecht so schön! Genügt das nicht? Es gehört zu einer guten Erziehung, dass man nicht meint, man müsse von allem etwas haben, das man sieht oder riecht.“ (1928, S. 77) Mit dem Leitbild einer „Erziehung zur Armut“ scheint neben schlechter, materieller Versorgung auch die Ausbildung der Kinder zu niederen Dienstberufen gekoppelt gewesen zu sein, gegen die sich die Kritik einiger Autoren richtet. Cousins beschreibt in ihrer Autobiographie die Ausbildung der weiblichen Insassen eines Heimes: „Was ihnen einer Tages bevorstand, war das triste Leben der Dienstboten, und unsere ganze Ausbildung zielte überhaupt auf diese hoffnungslose Karriere hin.“ (Cousins 1955, S. 39; vgl. Graham/ Frank 1968, S.16). Während Heimersdorf, Gründer eines Zufluchtshauses für Mädchen und Frauen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Ausbildung zum Dienstmädchen als Möglichkeit einer gesellschaftlichen Reintegration schildert, die in manchen Fällen sogar durch Heirat einen sozialen Aufstieg möglich machte (1927, S. 222 ff.), erscheint wenige Jahrzehnte später und aus Sicht der Betroffenen dieselbe Ausbildung als „hoffnungslose Karriere“. Diese unterschiedliche Deutung von Ausbildungszielen liegt sowohl an den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen sie betrachtet werden, als auch an veränderten gesellschaftlichen Strukturen, d. h. der zunehmenden Erschließung weiterer Berufsmöglichkeiten für Frauen durch gesellschaftliche Entwicklungen. Klagen über unzeitgemäße Ausbildungsangebote auch heutiger Heimerziehung lassen vermuten, dass es in diesem Bereich Beharrungstendenzen auf althergebrachten Strukturen gibt, die eine Anpassung an geänderte gesellschaftliche Gegebenheiten verhindert (vgl. Gerber 1974, S. 61; Kluge 1979 S. 31). Nicht nur auf dem Hintergrund marxistisch orientierter Kritik, die heutiger Heimerziehung vorwirft, den proletarischen Jugendlichen zum „untergeordneten Befehlsempfänger“ und willfährigen Fließbandarbeiter erziehen zu wollen (Meinhof 1971, S. 6; vgl. Brosch 1971, S. 56), erscheint die Frage nach den Ausbildungszielen aktueller Heimerziehung wichtig, nämlich, ob heute durch Heimerziehung eine „Verbesserung des Qualifikationsstatus“ und damit „Hebung des Sozialstatus“ angestrebt wird, wie Kluge/ Lützenkirchen sie für eine erfolgreiche „Refunktionalisierung“ fordern (1975, S. 34). In der vorliegenden Belletristik und autobiographischen Literatur auch neueren Datums überwiegt die Kritik an einer mangelhaften Ausbildung positive Äußerungen über Berufsausbildung und Wissensvermittlung. Ein Beispiel für die Betonung der hervorragenden Rolle von Bildung zur gesellschaftlichen Reintegration von Heimkindern findet man bei Bjelych/Pantelejew. Der Anstaltsleiter erklärt die Ziele seines Heimes: „Unser Wappen ist die Sonneblume. Es charakterisiert unsere Ziele. Unsere Schule besteht aus auch Zöglingen wie die Sonnenblume aus den Kernen. Ihr strebt zum Licht, denn ihr lernt, und Wissen ist Licht. Auch die Sonnenblume strebt zum Licht und zur Sonne. Sie ist wie unsere Schule.“ (1029. S. 39; vgl. Castillo 1958, S. 180 ff.; Schaffner 1922, S. 109). Demgegenüber bieten besonders Honegger und Ziegler auffallende Beispiele für den Vorwurf einer als mangelhaft zu bezeichnenden Ausbildung innerhalb heutiger Heimerziehung. Bei Honegger wird deutlich, dass vor allem auf Berufswünsche und Interessen vieler Jugendlicher keine Rücksicht genommen wird: „Hausvater Fritschi ging einmal an mir vorbei und schaute mir zu. ‚Du musst viel lernen’, sagte er, ‚wenn du ein guter Bauer werden willst.’ Wer hatte denn gesagt, dass ich Bauer werden wollte?“ (1974, S. 92). Selbst der Appell des Lehrers des Jungen an den Vormund, ihn auf eine weiterbildende Schule zu schicken, findet keine Resonanz. (S. 129-130). In Ziegler Roman wird durch Heimeinweisung der Schulbesuch des Jugendlichen Thomas abgebrochen. Auf ein Gymnasium gegen zu wollen, scheint für den Heimleiter Rusterholz ein unmögliches Ansinnen eines „Heimzöglings“ zu sein: „Rusterholz lachte. ‚Bis du hier raus kommst, wird einige Zeit vergehen. Eine Schule gibt’s hier nicht. Wir brauchen keine Gelehrten, wir brauchen tüchtige Arbeitskräfte....’“ (1978, S. 174). Wenn man für Heimerziehung das Ziel annimmt „neue Lebensperspektiven der Adressaten zu entwickeln“ (Meyer-Dettum/Bauer 1977, s. 204), dann muss die Verweigerung einer den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen entsprechenden Ausbildung als ein besonders hemmender Faktor bei ihrer Reintegration in die Gesellschaft bezeichnet werden. Schon Pestalozzi beschreibt die anspornende Wirkung guter Ausbildung und die damit verbundenen positiven Lebensperspektiven für die ihm anvertrauten Kinder. „Über alles erhob sie die Aussicht, nicht ewig elend zu bleiben, sondern einst unter ihren Mitmenschen mit gebildeten Kenntnissen und Fertigkeiten zu erscheinen, ihnen nützlich werden zu können, und ihre Achtung zu genießen. Sie fühlten, dass ich sie weiter bringe als andere Kinder; sie erkannten den inneren Zusammenhang meiner Führung mit ihrem künftigen Leben lebhaft und eine glückliche Zukunft stellte sich ihrer Einbildung als erreichbar und sicher dar. Darum ward ihnen die Anstrengung bald leicht. ...“ (1799, 1927, S. 22). Auf dem aktuellen Hintergrund von Jugendarbeitslosigkeit und der schwierigen Ausbildungs-Situation Jugendlicher (1979!) stellt eine qualifizierte Schulbildung und Berufsausbildung von Heimkindern einen besonders ausschlaggebenden Faktor einer erfolgreichen gesellschaftlichen Integration dar. Zusammen mit Angaben über Ziele von Heimerziehung wird in der untersuchten Literatur von den Autoren immer wieder die Frage aufgeworfen, wie das Leben ehemaliger Heimkinder nach ihrer Entlassung verläuft. Finden sie sich in der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität zurecht, zeigen sie ein ihrer Umwelt passendes, also angepasstes Verhalten? Von Heimerziehung formulierte Erziehungsziele werden also mit ihren faktischen Ergebnissen verglichen. Er wird gefragt, ob Erziehungsziele mit der tatsächlich realisierten Erziehung übereinstimmen, bzw. ob bestimmte Erziehungsziele sich angesichts gesellschaftlicher Realität rechtfertigen lassen. Schon Salzmann wirft in seinem Roman „Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend“ (1784 – 88) der damaligen Waisenhauserziehung vor, die ihr anvertrauten Kinder für ein Leben außerhalb der Institution untauglich gemacht zu haben: Ein Bauer bringt den Waisenvätern sein Patenkind mit der Begründung zurück, die Waisenhauserziehung habe das Kind zum Krüppel und für ordentliche Arbeit untauglich gemacht. Außer zum „spinnen und krempeln“ sei er für keine Tätigkeit zu gebrauchen und auch sein sonstiges Verhalten sei eigenartig: „Stehlen tut er wie ein Rabe, alle Eyer sucht er auf und sauft sie aus, wie ein Ratz. Den Ram frisst er von der Milch weg. Und wenn man ihm ein paar Wörtlein deswegen sagt, heult er vier bis sechs Stunden, und thut mir und meiner Frau heimlich allen Verdruß an, den er nur kann und weis.“ (S. 364 – 365). Das Kind, das die Waisenväter „zur Arbeit gewöhnt“ und religiös erzogen haben wollen (ebda. S. 358 ff), hat die „Anstalt“ in einem Zustand körperlicher, emotionaler und geistiger Verwahrlosung verlassen, unfähig zu einem Leben außerhalb der Institution. Ähnliche Klagen über eine mangelhafte Vorbereitung auf das Leben nach der Entlassung aus dem Heim findet man auch in neueren Veröffentlichungen. Offenbar sind viele Heimkinder durch ihren Aufenthalt in einer Anstalt einem Prozess unterworfen, den Goffman mit „Diskulturation“ bezeichnet, d.h. einem „Verlern-Prozess, der den Betroffenen zeitweilig unfähig macht, mit bestimmten Gegebenheiten der Außenwelt fertig zu werden, wenn und falls er hinausgelangt.“ (1972, S. 24). Aerde demonstriert dieses Ergebnis von Heimerziehung durch das folgende Beispiel: „Es kam ein Arzt und richtete an die Kinder alle möglichen Fragen, die er auch schon anderen Kindern gestellt hatte. Er fragte die Kleinen beispielsweise: ‚Was musst du tun, wenn du Durst hast?’ Die Kinder, die in einer Familie aufwuchsen, sagten: ‚Trinken.’ Aber hier antworteten sie:’ Weinen’ oder ‚Es der Schwester sagen.’“ (1959, S. 100). Aerde wirft also den Heimerziehern vor, Kinder in Unselbständigkeit zu halten und so nicht auf die Realität außerhalb des Heimes vorzubereiten. Auch ehemalige Heimkinder beklagen sich, sich nach dem Heimaufenthalt „draußen“ nicht mehr zurechtgefunden zu haben, „irgendwie verklemmt gewesen zu sein“ (Gothe/Kippe 1975, S. 13). Gothe/Kippe folgern: „Die meisten hat das Heim auch nicht auf die beruflichen und gesellschaftlichen Realitäten überhaupt vorbereitet. Es gibt daher entlassene Zöglinge, die nach einer gewissen Zeit wieder zum Heim zurückkommen und um Aufnahme bitten. Die Jugendlichen erzählen, dass manche von ihnen sich draußen so gehemmt bewegen, dass sie zum Beispiel unfähig seien, in einer Pinte ein Glas Bier zu bestellen.“ (S. 206). Der Grund für die „diskulturierende“ Wirkung von Heimerziehung wird von einigen Autoren in der Diskrepanz zwischen Anstaltsleben und wirklichem Leben gesehen, dem „Verlust von Erfahrungen“, die „aus der Berührung mit der Welt gewonnen“ werden könnten (vgl. Leitgeb 1948, S. 211). Erhard lässt einen Heimjungen fragen: „Was sollen die hier in der Anstalt? Sie sollen hier erzogen werden...Wozu?...Da draußen saust das Leben, nicht hier drin...Das richtige harte Leben ist weit.“ (1931, S. 135). Vielen der untersuchten Autoren erscheinen deshalb Ziele von Heimerziehung nicht in einer Anpassung an die Gesellschaft zu liegen, sondern vielmehr am Funktionieren des Heimbetriebes orientiert zu sein. Nicht das spätere Leben des Heimkindes stehe im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Anstaltsbetrieb werde zum Selbstzweck. Angestrebt werde der „brauchbare Zögling“ (Honegger 1974, s. 174). Lampel drückt diesen Zweifel am Realitätsbezug von Heimerziehung aus, indem er einen Besucher der von ihm beschriebenen Erziehungsanstalt fragen lässt:“...ob der Zögling darauf erzogen werden soll, daß er ein tüchtiger Mensch wird -...oder ab er dazu erzogen wird, daß er der Anstalt nicht unbequem ist.“ (1929, S. 61) „Nicht unbequem sein“ bedeutet nach Ansicht einiger Autoren gehorsame Einordnung in die Gesetzmäßigkeiten der Institution:“...und im Heim da ist da so, dass die einen willenlos machen, um sich hier einzuordnen in diesen Prozeß, ne, in diesen Ablauf, daß man irgendwo eingeordnet wird.“ (Gothe/Kippe 1970, S. 193; vgl. Loosli 1924, s. 25). Eine Erziehung zu Ordnung und Disziplin, die ein Funktionieren des Betriebs garantieren soll, interpretiert Roth als Erziehung zur Unmündigkeit. Er folgert „Kinder werden von den Erziehern abhängig gemacht, nach einigen Monaten Heimaufenthalt sind sie nicht mehr fähig, ihre Probleme zu artikulieren.“ (Roth 1973, S. 54). Selbständiges Leben nach der Entlassung wird damit infrage gestellt. Eine systematische Vorbereitung auf die Realität des Lebens nach der Entlassung aus dem Heim ist wesentliches Element einer qualifizierten Heimerziehung die gesellschaftliche Integration anstrebt. Schon Mamarenko betont 1937 die Notwendigkeit von Realitätsbezug im Heim. Jugendliche sollten das Heim nicht verlassen “wie ein verwahrlostes Institutsfräulein, die das Leben nicht zu meistern versteht“ (1969, S. 8). Mangelhafte Vorbereitung auf die Realität bedingt demgegenüber oft das Scheitern von Jugendlichen nach ihrer Entlassung aus dem Heim, das in manchen Fällen einen weiteren Abstieg in die Kriminalität zur Folge hat. Aich bescheinigt institutioneller Erziehung: „Die Wahrscheinlichkeit der Kriminalisierung steigt mit der Heimerziehung.“ (1973, S. 319; vgl. Wenzel 1969 S. 418) Vor allem auch in neuerer belletristischer und autobiographischer Literatur findet man Heime als Stationen auf dem Weg zu einer kriminellen Karriere beschrieben. Z.B. berichtet Werner aus dem Gefängnis: „Als ich dort hinkam, traf ich schon einige, die mit mir auch in anderen Heimen waren. Sie machten alle denselben Weg wie ich. Vom Waisenhaus ins Zuchthaus.“ (1969, s. 13; vgl. Ziegler 1978, S. 201). Das Versagen der Heimerziehung wird besonders deutlich in folgender Formulierung: „Man hörte sogar Urteilsbegründungen sehr kluger Richter, die es den Angeklagten als mildernden Umstand anrechneten, dass er ohne eigenes Verschulden in die Fürsorgeerziehung geraten’ sei.“ (Mostar 1952, S. 293). Statt gesellschaftliche Integration zu erreichen, verstärkt hier Heimerziehung die Außenseiterposition der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Offizielle Erziehungsziele und Wirklichkeit im Heim bzw. reale Ergebnisse von Heimerziehung stehen in krassem Gegensatz. Genet beschreibt z.B. die Erziehung im Heim „Mettray“ folgendermaßen: Offiziell soll die Erziehungsarbeit „Werk der Umerziehung und religiösen Unterweisung“ sein (1976. S. 145), Erzieher sollen „die gefallenen Kinder wieder aufrichten“, sie „davor bewahren, das Elend des Zuchthauses kennenzulernen.“ (ebda. S. 146). In Wahrheit spielen sich innerhalb der Institution andere Prozesse ab, die Erziehungsversuche der Erwachsenen scheinen nicht bis zu den Kindern vorzudringen. Haupterzieher sind die Kinder untereinander: „Die Erziehungsanstalt übte also ihren Einfluß auf den Mann aus, der ich einmal werden sollte. In diese Weise muß man den Ausspruch von dem ‚schlechten Einfluß’ verstehen, von dem die Erzieher sprechen, und den sie ein langsames Gift und einen Samen nennen, der erst später und unerwartet aufblüht.“ (ebda., S. 201-202). Nachbarschaft zum Zuchthaus ist keine „ständige und tägliche Mahnung zum Guten“ (S. 146) sondern Verkörperung der Ideale der Kinder. „Wenn ein Junge durch irgendeine entfernte Voreingenommenheit das Zentralgefängnis nicht geliebt hätte, wäre er von dem verliebten Strom, der dem Zentralgefängnis entgegen floß, mitgerissen worden.“ (S. 85). Genet zeichnet das Bild einer Heimerziehung, die zum Ort und der Verkörperung einer Gegengesellschaft wird. Andere Autoren sprechen von einer Schule der Kriminalität. (Cremer 1964, s. 49; Brosch 1975, s. 76; Aich 1973, S. 308). Angesichts solcher Pervertierung ihrer offiziellen Ziele drängt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen derart strukturierter Heimerziehung auf. Eine Untersuchung der Lebensläufe ehemaliger Heimkinder müsste bei einer vermutlichen Bestätigung der hier geäußerten Vorwürfe die Frage nahe legen, ob es nicht an der Zeit wäre, durch Entwicklung alternativer Modelle Heimerziehung sinnvoller zu gestalten oder sie überhaupt unnötig zu machen (vgl. Gerber 1974). Denn nach den Aussagen der befragten Autoren erreicht auch gegenwärtige Heimerziehung oft keine Integration in die Gesellschaft. Ein Grund für das Versagen von Heimerziehung scheint nach Ansicht vieler Autoren in einem falschen Sozialisationsverständnis vieler Erzieher zu liegen. Anpassung wird von Erziehern als ein Prozess verstanden, der nur gelingt, wenn das Individuum fügsam gemacht wird. Nicht der kritisch engagierte Bürger ist das Ziel der Erziehung sondern ein gehorsamer Untertan. Erziehung wird zur Dressur. (vgl. Roth 1961, S. 48) als Beispiel solcher Einstellung beschreibt Ziegler den Erzieher Diethelm: „Er sah in seinen Zöglingen Untergebene, die aufgrund ihrer Stellung zu gehorchen hatten und die man, um sie zu ‚lebenstüchtigen’ Menschen formen zu können, erst einmal richtig schlauchen musste.“ (1978, S. 202). Ziegler schildert als Ergebnis dieser Erziehung die Zerstörung der Persönlichkeit des Jungen Thomas: „Der pausenlose Zwang, das ständige Unterdrücktwerden hatten ihn eingeschüchtert. In zwei bis drei Wochen würde er soweit sein, daß er – mit System mürbe gemacht – alles tat, was man von ihm verlangte.“ ( ebda, S. 246) Der Gesellschaft und sich selbst steht der Jugendliche Thomas nach seiner Entlassung mit Hass gegenüber. Ähnliche Erziehungsziele, die auf unbedingten Gehorsam hinauslaufen, beschreiben auch Cremer (1964, S. 51), Gothe/Kippe (1975, S. 25), Honegger (1974), Meinhof (1971, S. 94), Schaffner (1922, S. 56 u. 71) und Stenglin (1912, S. 72-81). Bei Honegger und Cremer wird das eigentliche Erziehungsziel durch destruktives Erzieherverhalten dargestellt und positiven formulierten Zielen wie „gefallenen Kindern wieder auf die Beine zu helfen“ (S. 85) gegenübergestellt. Als Ergebnis von Erziehung, die unbedingten Gehorsam der Kinder zum Ziel hat, wird eine oberflächliche Anpassung an die Forderungen des Heimpersonals geschildert (Stenglin 1912, S. 81) und das Gefühl „kaputt gemacht“ worden zu sein (vgl. Meinhof u. Gothe/Kippe). Wie sehr ein Erzieher von dem hohen Wert seiner Ziele überzeugt sein kann und welche negativen Auswirkungen seine Erwartungen auf die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen haben können, beschreibt Noack am Beispiel des Erziehers Hamel. Dieser formuliert seine Auffassung gegenüber einem Praktikanten: „’Erziehung heißt’, so sagte er, ‚das Gute, das in einem Bengel steckt, zu fördern, das Schlechte zu unterdrücken. Bei den Kerlen, die wir hier bekommen, gibt es da wenig zu fördern und viel zu unterdrücken...’“(1970, S. 69). Von den Jungen verlangt Hamel „Einordnung, Unterordnung, Gehorsam“. Um ständigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, passen sich die Jungen oberflächlich an, täuschen Konfliktlosigkeit vor: „Und die Jungen wussten genau: Bei Hamel kommt man am besten weg, wenn man den Mund hält, pariert, seinen Schrank in Ordnung hält, sein Bett kantig baut, pünktlich ist . . ., niemals widerspricht und vor allem keinerlei Anzeichen zu erkennen gibt, dass man irgend etwas über den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen weiß. So einfach war das . . .“ (ebda., S. 69-70). Hamel erzieht die ihm anvertrauten Jungen auf diese Weise zur Heuchelei. Probleme können weder formuliert noch thematisiert werden. Wichtig sind für den hier beschriebenen Erzieher vor allem Äußerlichkeiten, sichtbare Zeichen seines „Erziehungserfolges“ wie z. B. ein kurzer Haarschnitt: „Hier ging es nicht nach seinem (des Heimjungen, Anm. d. Ver.) Willen. Vielleicht mußten die Haare kurz sein, wenn man so etwas wie einen anständigen Menschen aus ihm machen wollte. Und vielleicht durfte er dann gar keinen Willen mehr haben oder ihn sich wenigstens nicht anmerken lassen. Widerspruch fiel nur auf.“(ebda. S. 52) Am Ende des Romans schildert der Verfasser den Jungen Jochen im Zustand tiefster Gebrochenheit und Resignation. Endlich schreibt er das immer wieder von ihm verlangte Schuldgeständnis: „Ich muß dankbar sein, dass ich hier sein darf, weil man sich hier Mühe gibt, doch noch etwas aus mir zu machen, aber es hat keinen Zweck, es wird ja doch nichts aus mir, und das ist gar nicht so schlimm, weil ja doch keiner mehr etwas von mir wissen will.“ (S. 153) Für den Erzieher ist erst an dieser Stelle die Grundlage für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit gegeben: „’Jetzt habe ich ihn soweit’, dachte der Erzieher. ‚Endlich gibt er seinen Dickkopf auf. Vielleicht kann doch noch etwas aus ihm werden.’ Zum erstenmal war er mit Jochen zufrieden.“ (S. 154). Ein eigener Wille und ein gesundes Selbstwertgefühl gelten bei diesem Erzieher offenbar als negative Eigenschaften, die „Refunktionalisierung“ verhindern. „Willst du, dass wir mit hinein in das Haus dich bauen, laß es dir gefallen, Stein, dass wir dich behauen.“ ist einer der Wahlsprüche Hamels. Bei ihm herrscht das Bild einer statischen, fertigen Gesellschaft vor, in der ein Leben für das Individuum nur möglich ist, wenn es ohne Rücksicht auf seine Persönlichkeit in die Gesellschaft eingepasst wird. Schuld am Versagen trägt allein der Einzelne und nur, wenn er diese Schuld erkennt und zugibt, ist eine Rückkehr möglich. „Es war bequemer zu glauben, niemand sei schuldig, nur das Kind selbst, und viele seien mit dem Teufel im Herzen geboren.“ So kritisiert Pater Flanagan als Reformer nordamerikanischer Heimerziehung die gängige Auffassung seiner Umgebung über verwahrloste Kinder (Oursler 1948, S. 184) Die Überzeugung, Kinder seien schuld an einer gescheiterten Sozialisation, ist Grundlage für den strafenden Charakter einer Heimerziehung, wie sie uns in der untersuchten Literatur begegnet. (vgl. Aerde 1959, S.202; Aich 1973, s. 308) Einige Autoren schildern als Alternative zu von ihnen kritisierten Erziehungszielen solche, die sie als pädagogisch sinnvoll und den Bedürfnissen von Kindern angemessen beurteilen. Es fällt auf, welch starkes Gewicht bei den positiv geschilderten Zielen auf die Entfaltung der Kindespersönlichkeit gelegt wird. Nicht mehr das Funktionieren in einer fordernden Gesellschaft steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern das Wohlergehen des Einzelnen. Beispielsweise schildert Geiger-Gog die positive Änderung der Einstellung der Hausmutter eines Kinderheimes. Sie sieht in Heimkindern „vom Leben Beiseitegeschobene“, also Opfer, nicht Schuldige. Ziel wird, Ihnen „wieder zu Recht und Freude am Dasein“ zu verhelfen (1929, S. 1515 ; vgl. Stenglin 1912, S. 194). Wilker konfrontiert in der Darstellung seines Reformversuchs im Heim Lindenhof (1924) die Ziele einer konservativen Heimerziehung mit seinen eigenen an Ideen der Wandervogelbewegung orientierten Zielen: „Gehorsam, widerspruchsloses Beugen unter die Autorität“ steht gegen „selbstverantwortete Freiheit“ (S. 42). Kinder und Jugendliche sollen nicht als Objekte, sondern als Subjekte angesehen werden. Es geht um eine „behutsame Förderung des eigenen Wesens der Kinder“. Wilker versucht mit allen Mitteln Dressur zu vermeiden. Er vertraut mehr auf die im Kind angelegten eigenen positiven Kräfte, die es nur zu wecken gilt. (vgl. S. 104 u. 121). In Noacks Roman ist es ein Praktikant, der ein alternatives Ziel formuliert. Während der Erzieher Hamel angesichts des Widerstands des Jungen Jochen äußert: „Den kriege ich klein, darauf kann er sich verlassen.“, geht es dem Praktikanten um Förderung der Jungen und auch ihrer Widerstandsfähigkeit: „Diese Jungen sind doch nicht hier damit wir sie klein kriegen. So sollen groß werden.“ (Noack 1970, S. 92). Nicht, dass der Jugendliche sich störungsfrei in die Gesellschaft einpasst, ist nach Meinung des Praktikanten Ziel „sinnvoller“ Heimerziehung, sondern die Fähigkeit des Jugendlichen zu fördern, sich in der Gesellschaft zu behaupten. Soziale Konflikte sind in das Erziehungskonzept des Praktikanten eingebaut, es gilt, sie ohne Schaden für die Persönlichkeit des Einzelnen bewältigen zu lernen. Stenglin (1912) und Webster (1948) beschreiben die Umorganisation eines Heimes durch ein ehemaliges Heimkind. In beiden Fällen hat die Hauptperson als Kind eine negativ beschriebene Heimerziehung erlebt. Sie kehren als Erwachsene zurück und nehmen als Leiter derselben Heime Veränderungen vor. In dem bei Stenglin dargestellten positiven Gegenbild einer „fortschrittlichen“ Heimerziehung geht es um Stärkung der Persönlichkeit der Kinder. Die Aussicht auf ein armes oder schweres Leben nach der Entlassung dient hier im Gegensatz zu der am Anfang des Kapitels beschriebenen „Erziehung zur Armut“ nicht als Legitimation eines entbehrungsreichen Heimlebens. Vielmehr soll die Erinnerung an eine schöne Kindheit für das weitere Leben stärkend wirken: „Und wenn es Euch einmal schwer werden sollte im Leben - . . .- dann soll die Erinnerung an Eure Kinderjahre, daß wir bemüht waren, Euch mit der Freude am Licht zu erfüllen, noch auf Eurem Weg nachleuchten und Euch stärken für das, was Euch obliegt.“(S. 164). Webster stellt den ehemaligen Erziehungszielen ihres Heimes, die sie mit den Begriffen „seelenzermalmender blinder Gehorsam“ und „Pflichtgefühl“ beschreibt, neue Ziele gegenüber: „Phantasie, Initiative, Verantwortung, Neugier, Erfindungsgabe, Kampflust“ (S. 82-83 u. 250). Nicht „Brutkastenküchlein“ sollen erzogen werden, sondern „nahezu normale Jugendliche“ (S. 209). Eine Erziehung zur positiven Entwicklung von Persönlichkeit ist bei Stenglin und Webster nicht gegen die Gesellschaft gerichtet. Es geht ihnen vielmehr darum, moralisch hoch stehende Menschen zu erziehen, die nicht unterwürfig, sondern mitgestaltend und kritisch an der Gesellschaft auf der Basis grundsätzlicher Akzeptanz partizipieren. Je nach Struktur einer Gesellschaft kommt es aber bei der Erziehung zum kritischen Bürger zum Konflikt. In einem undemoktratischen Staat ist der „wertvolle Mensch“ gleich dem „tüchtigen Staatsbürger“, der gehorsam Befehle ausführt (vgl. Wilker 1924, s. 65). Eine „selbstverantwortete Freiheit“ intendierende Erziehung kann zur Konfrontation zwischen Erzieher und Staat (vgl. Wilker 1924) oder zwischen Zögling und Staat führen (vgl. Glaser 1953). Glaser beschreibt in seiner Autobiographie ein halboffenes Heim in Frankfurt zur Zeit der Weimarer Republik, das „Billigheim“, in dem der Erzieher Varlegen eine alternative Erziehung versucht. Glaser schildert die Arbeit der Erzieher aus der Sicht des Betroffenen so: „Nachdem mir bisher alle Erwachsenen, denen ich unterstanden, schnell und unsanft beigebracht hatten, dass ich für sie da war, beteuerten mir umgekehrt die seltsamen Gärtner, dass sie für mich da waren und sie bewiesen es: sie bemühten sich um mein leibliches Wohl, baten, ermutigten mich, Wünsche zu haben, und buchten es als Sieg, wenn ich sie äußerte. (1953, S. 36). Diese neuen Erziehungsmethoden Varlegens erregen jedoch den Argwohn der Vertreter einer konservativ-restriktiven Erziehung. Die damalige Gesellschaft befindet sich nach Glaser im Zustand nur halbherziger Reformen, sie empfindet die selbstbewussten Jugendlichen als Bedrohung. „Aber jeder Streich eines Schülers des alten Varlegen war den Befürwortern der alten Gebräuche ein Beweis der Gefährlichkeit der Neuerungen. Gewiß, in den vierzehn Jahren von Weimar wehte ein offener Wind, und keiner wagte ein offenes Verbot auszusprechen. Aber man tauchte jeden, der eine Kerze angezündet hatte, unter dem Vorwand der Brandverhütung bis zu Hals ins Wasser.“ (S. 44). Zur Kontrolle von Varlegens Erziehung wird ein konservativer Hausvater im Heim eingestellt, der versucht, die neue Erziehungsarbeit zu stören. Unter dem Einfluss revolutionärer Ideen, die er bei den Naturfreunden kennen gelernt hat, wird der Junge Glaser zum Anführer einer Heimrevolte, die ursprünglich gegen den Hausvater gerichtet in ihrer Radikalität schließlich die ganze Reformarbeit Varlegens gefährdet. Weil die sie umgebende Gesellschaft nichts mit ihnen anzufangen weiß, ihnen keine Ideale geben kann, beginnen die Heimjugendlichen eine Kampf gegen den sich feindlich darstellenden Staat und für eine ideale kommunistische Gesellschaft, deren Beschreibung sie bei Bjelych/ Pantelejew gelesen haben (vgl. Glaser, S. 52 u. 53). Vor den rebellierenden Jugendlichen kapituliert Varlegen. Er lehnt es ab, die Anführer weiter zu erziehen. Sie kommen in ein restriktives Heim, das aus „Zöglingen“ „unterwürfige Feiglinge“ macht (S. 55). Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit wirkt in Glasers Bericht nicht integrierend sondern führt zum Kampf gegen die Gesellschaft. Die Gründe für diese radikale Entwicklung mögen zum einen in der weichen Haltung des Erziehers liegen: „Hundertmal versuchte er. mich zu ‚bejahender Mitarbeit’ zu bewegen, fast demütig, geduldig erläuternd und Verständnis erheischend.“ (S. 47). Varlegen stellt für die rebellierenden Jugendlichen keine Autoritätsperson dar, seine Worte haben kein Gewicht. Glaser beschreibt ihn als „alt“ und „innerlich schwach“ (S.45). Der eigentliche Grund für die Rebellion der Jugendlichen liegt jedoch in der Haltung der Gesellschaft ihnen gegenüber. Indem der konservative Hausvater Engelschlicht als Kontrollinstanz in Varlegens Heim eingestellt wird, zeigt die Gesellschaft, dass sie mit den „frechen, selbstbewussten und von Freiheit besoffenen“ Jugendlichen nichts anzufangen weiß, ihnen keinen Platz und kein Partizipationsfeld einräumen will. Deshalb holen sich die Jugendlichen ihre Ideale bei den Kritikern des Staates. (S. 53, S. 37 ff.) Als Vorbild dient ihnen die Zöglingsbiographie „Schkid, die Republik der Strolche“ (1929) in der das Bild einer idealen Heimerziehung nach der Russischen Revolution in einer Leningrader Reformschule gezeichnet wird. Als Erziehungsziel dieser Schule wird ein „neuer Mensch“ beschreiben, „der fähig ist, bewusst an der neuen Gesellschaft des Sozialismus mitzubauen“ (Bjelych/Pantelejew 1929, S. 9). Die hier beschriebene Gesellschaft kurz nach der Revolution befindet sich im Aufbau, sie bietet auch Heimjugendlichen, Außenseitern der Gesellschaft Ideale und Aufgaben, indem sie sie zu Opfern der alten Gesellschaftsordnung erklärt, die beim Bau der neuen und guten Gesellschaft gebraucht werden. Die Erneuerer des Gemeinwesens wollen „im Bunde mit den Kindern selbst den Kampf gegen das hässliche und abscheuliche Erbe der Straße aufnehmen“, Personalisation und Sozialisation stehen nicht im Widerspruch, Ziele sind „Stärkung des Selbstvertrauens und des Gefühls sozialer Verantwortlichkeit“ (S. 8). Die Autoren sind überzeugt, „dass die Schule wie ehemals moralisch gesunde Menschen ins Leben schickt, die reif sind für das gesellschaftliche Leben, fähig zu Arbeit und Kampf.“ (S. 499). Als Alternative zur kapitalistischen Heimerziehung, die im „Geist der Rache“ geschehe (S. 7), wird mit „Schkid“ ein Idealmodell einer sozialistischen Erziehung in einem sozialistischen Staat beschrieben. Erziehung zum sozialistischen Menschen ist hier Erziehung zur sozialistischen Gesellschaft hin. Auch andere Autoren nennen solche Erziehung als Alternative zur herkömmlichen Heimerziehung. Innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat sie nicht in erster Linie die Intention einer Reintegration in bestehende Ordnungen. Sie ist vielmehr „proletarische Erziehung“, d. h. eine solche zur Arbeiterklasse hin, um die Jugendlichen mit hinein zunehmen in die Kämpfe der Arbeiter: „Das Proletariat hat - ... – das Recht seine Kinder nach proletarischen Ideen zu erziehen“ (Lampel 1929, s. 61, vgl. Brosch 1971, Ahlheim u.a. 1972). Mostar bescheinigt einer „linken“ Erziehung durch Arbeiterorganisationen, die die „Zöglinge als Opfer der Gesellschaft“ behandelt, ihr Ergebnis sei „für jeden fast immer ausgezeichnet“ (1952, S. 316). Auch bei Cesbron (1954) wird die Arbeit unter jugendlichen Verwahrlosten durch eine kommunistische Organisation als echte Alternative zu der sonst durchweg jedoch positiv dargestellten Heimerziehung in Frankreich beschrieben. Der Leiter der kommunistischen Organisation wirft herkömmlicher Heimerziehung vor, keine Realitätsvorbereitung für Arbeiterkinder zu bieten. „Das ganze System. Ich glaube nicht dran. Hier haben wir Jungens, die fast ausschließlich der Arbeiterklasse entstammen; in Ihren Anstalten aber sind sie von der Arbeiterklasse abgeschnitten“ (S. 288). Klassenspezifische Erziehung bedeutet in diesem Fall Einführung in die Realität des Arbeiterlebens: Außerhalb der Anstalt muss der Jugendliche mit Hilfe von Kameraden selbständig leben und arbeiten. Proletarische Erziehung in einer kapitalistischen Gesellschaft hat also mit der Reintegration in die Arbeiterklasse auch vorläufig Reintegration in die Gesamtgesellschaft zum Ziel. Letztlich heißt Erziehung zur Arbeiterklasse hin aber Teilnahme am „Klassenkampf“. Sie ist somit als Erziehung zur Mitarbeit an einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft zu verstehen. (vgl. Ahlheim u. a. 1972, S. 191 – 192,; Koenig/Pelster 1978, S. 187 u. 202). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Kritik der Autoren in der untersuchten belletristischen und autobiographischen Literatur gegen Ziele von Heimerziehung richtet, die bloße Anpassung an die Gesellschaft auf Kosten der Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen beinhalten. Wünschenswert in Bezug auf eine gelungene Erziehung wäre eine Ausrichtung auf die Bedürfnisse der betroffenen Kinder, eine ihren Wünschen und Begabungen entsprechende Ausbildung und gezielte Vorbereitung auf das Leben nach der Entlassung aus dem Heim. Voraussetzung zur Verwirklichung von Erziehungszielen, die sich an der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen orientieren, ist eine Gesellschaft, die dem Einzelnen Raum für ein sinnvolles Leben gibt, d.h. kritische Partizipation bei ihrer Weiterentwicklung zugesteht. Nur einer derart offenen Gesellschaft werden Reformen im Umgang mit ihren Außenseitern gelingen. (vgl. Walser i. Werner 1969, Nachwort.) 3.3. Atmosphäre der Heime Der Heimeintritt stellt für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine einschneidende Änderung ihres bisherigen Lebens dar. Als „totale Institution“ ist das Heim für die Betroffenen bis zu ihrer Entlassung der Ort fast aller ihrer Lebensbereiche. Es ist ihr Wohnund Schlafplatz, oft auch ihr Schul- oder Arbeitsplatz. Die Ordnungen und Autoritäten des Heimes regeln den Tagesablauf und bestimmen die Gestaltung des Lebens (vgl. Goffmann 1977, s. 25 ff.). Kluge bezeichnet Heimerziehung als „radikale und einschneidende pädagogische Maßnahme“. In der Totalität der Heimerziehung kann im Falle einer demokratischen Erziehung ihre pädagogische Chance liegen, im „Eröffnen von Sozialisationsfeldern“ den Kindern und Jugendlichen den Abbau negativer Verhaltensweisen und das Erlernen positiver Interaktion zu ermöglichen. Ein pädagogisch angemessen strukturierter Heimalltag könnte deshalb ein Übungsfeld für „emotional reifes, soziales und demokratisches Verhalten bei Jugendlichen“ sein (Tausch u. Tausch 1973, S. 6). Zur Untersuchung der Struktur des Heimlebens in der vorliegenden belletristischen und autobiographischen Literatur wurde der Begriff „Atmosphäre“ gewählt, der die Bereiche des in einem Heim herrschenden Sozialklimas, die sich in ständig wiederholten Handlungsabläufen und Gewohnheiten des Heimalltags darstellen, beschreiben soll. Diese umfassen Hausordnungen, Organisationsformen des Tagesablaufs, die Regelung intimer Bereiche des persönlichen Lebens der Kinder durch das Heimpersonal (z.B. Kleidung, Frisur, Körperpflege etc.), darüber hinaus Essensgewohnheiten (Qualität und Quantität der Mahlzeiten) und bauliche Organisation und Lage der Heime. Unter den Begriff „Atmosphäre“ fällt auch die emotionale Reaktion der Kinder auf den Heimalltag, ob und wann sie sich beispielsweise verängstigt und eingeengt oder geborgen und motiviert fühlen. Der so umschriebene Aspekt des Heimlebens stellt eine gewichtige Grundlage für die Interpretation der darüber hinaus geschilderten spezifischen Beispiele des Verhaltens von Heimpersonal und Heiminsassen dar, das in Kapitel 3.4. näher untersucht wird. Eine von Kindern und Jugendlichen als angenehm empfundene Heimatmosphäre wäre als wichtige Grundlage weiteren sinnvollen pädagogischen Handelns anzusehen (vgl. Kluge/ Lützenkirchen 1975, S. 71). Bei der Untersuchung des vorliegenden Materials lässt sich feststellen, dass der von der überwiegenden Mehrzahl der Autoren beschriebene Heimalltag durch ein „hohes Ausmaß an Lenkung-Dirigierung und Geringschätzung“ (Tausch u. Tausch 1973, S. 9) durch das Heimpersonal gekennzeichnet ist. Offenkundigster Ausdruck dieses Phänomens ist die außerordentlich gewichtige Rolle, die Hausordnungen und ihnen ähnliche Regelungen sozialer Interaktion bei der Gestaltung der beschriebenen Tagesabläufe einnehmen. Der Tag ist durch diese Ordnungen peinlich genau und oft durch schrille akustische Signale gekennzeichnet in Abschnitte eingeteilt. Für individuelle Lebensgestaltung, „eine Art persönliche Ökonomie des Handelns“ (Goffmann 1977, S. 45) bleibt kaum Raum. Zwei besonders krasse Beispiele von Hausordnungen, die letztere aus einem Heimbericht der Gegenwart, belegen die totale Reglementierung, der die Insassen solcher Heime unterworfen sind: „Die Hausordnung des Instituts war streng geregelt: Früh um sechs rief eine laut schallende Glocke, die vom Hausdiener geläutet wurde, die Knaben, die in drei Schlafsälen untergebracht waren, aus den Betten, Anziehen und Waschen musste in längstens einer Viertelstunde erledigt sein. Dann wurden gruppenweise die Aborte aufgesucht. Um sieben Uhr war auch das Frühstück vorüber.“ (Forel 1910, S. 11) „Die Tage verliefen so: morgens eine Stunde Fußbodenbohnern, zehn Minuten Frühstück . .. bis Mittag um zwölf Uhr arbeiteten wir. Von zwölf bis zwölf Uhr 15 Mittagessen, dann bis ein Uhr Fußbodenbohnern. Von eins bis sechs Uhr wieder arbeiten, von sechs bis sechs Uhr 15 Abendbrot. Dann duschen bis sieben Uhr und von sieben bis acht Uhr wieder Bohnern. Acht Uhr 30 mußten wie ins Bett.“ (Gothe/Kippe 1975, S. 109) Auffallende Kennzeichen derartiger Heimordnungen sind ihre mangelnde Transparenz für die Kinder und ihr Absolutheitsanspruch. Loosli bezeichnet die Anstaltsordnung als „eine despotische, von oben gegebene Ordnung, die der Zögling nicht zu begreifen, sondern der er sich einfach zu fügen hat, die ihm notwendigerweise als reine Willkür vorkommen muß“ (1924, S. 47). Neben der „Transparenz von Entscheidungen“ nennen Tausch u. Tausch als weitere Prozessmerkmale von pädagogsich sinnvollen Regelungen individuelle „Selbstbestimmung“ und „Unantastbarkeit der Würde der Person“ (S. 12). Die in der untersuchten Literatur beschriebenen Heimordnungen sind jedoch gerade durch eine Missachtung der Selbstbestimmung und der Menschenwürde der Kinder gekennzeichnet. Z. B. schildert Ulitz die Trennung von Geschwistern und die Umbenennung der Kinder als Ausdruck einer rigide gehandhabten Heimordnung: „Ulrich und Peter Berger hatten ihre Vornamen wie ihre Kleider hingeben müssen, sie hießen Berger I und Berger II...Sie durften nicht in der gleichen Bank sitzen... sie durften auch nicht im gleichen Saale schlafen, es hätte dem Hausgesetz widersprochen. Alles war Ordnung...(1928, S. 63; vgl. Leitgeb 1948, S. 138) Der Zweck der beschriebenen Heimordnungen ist offenbar nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Derartige Regelungen sind für Kinder weder einsichtig noch verständlich und durchschaubar, wie es für sinnvolle Ordnungen zu fordern ist. Brosch sieht die Funktion von Heimordnungen im Zusammenhang mit dem Erziehungsziel „Anpassung“ und deutet ihren Zweck letztlich als Disziplinierung und Erziehung zum widerstandslosen Arbeiter (1971, s. 48; vgl. Roth 1973 S. 48 u. 54). Eine pädagogisch sinnvolle Handhabung von sozialen Regelungen findet man besonders ausführlich bei Burmeister (1953) beschrieben. Ausgehend von der Kritik an herkömmlicher Heimerziehung, deren Ziel die Autorin mit den Begriffen „folgsame Kinder und ein blitzblankes Haus“ umschreibt, wird hier ein Begriff sozialer Ordnung entwickelt und in der Praxis ausführlich dargestellt, der sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Burmeister, Leiterin eines Kinderheimes, sieht in einem geordneten Tagesablauf für ein Kind, das aus chaotischen sozialen Verhältnissen kommt, die Chance zur “Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts“ (S. 10). Die von ihr beschriebene „Ordnung“ ist jedoch keineswegs vergleichbar mit den kritisierten Heimordnungen aus Berichten von Heimkindern. Es geht bei Burmeister nicht um starre Einteilungen und reihenweises Antreten nach einem Glockensignal, sondern um die Vermittlung eines Gefühls von Sicherheit durch eine verlässliche soziale Umwelt. So werden z. B. Regelungen der Schlafenszeit und Organisation der Körperreinigung außerordentlich flexibel gehandhabt: „Normale kleine Kinder denken nicht daran, sich eins zwei drei wie auf Kommando auszuziehen, zu waschen, die Zähne zu putzen und in den Schlafanzug zu schlüpfen. Dazwischen muß tüchtig gespielt und geredet werden.“ (S. 93) Emotionalität wird bewusst in den Tagesablauf eingebaut, auch die „Teenagers“ dürfen den Aufenthalt im Badezimmer ausdehnen, bis „schließlich doch mal ein Punkt“ gemacht wird. (S. 93). Wie wichtig das Ungestörtsein in intimen Lebensbereichen und das Bedürfnis nach einem persönlichen Freiraum und Beachtung ihrer Persönlichkeit den Kindern und Jugendlichen für eine als angenehm empfundene Heimatmosphäre ist, wird deutlich an den häufigen Klagen von Heimkindern über unpersönlich wirkenden Massenbetrieb, Vereinsamung in der Masse der Kinder, mangelnder emotionaler Zuwendung durch das Personal und ständige Überwachung (vgl. Cousins 1955, S. 37; Erhard 1931, S. 126 -127; Loosli 1924, S. 48; Mailer 1973, S. 51; Schwarz 1975, S. 99; Webster 1948, S. 19). Unpädagogisches Verhalten des Heimpersonals zeigt sich auch in Berichten von paramilitärischen Organisationsformen des Heimalltags. Die Interaktion zwischen Erziehern und Kindern beschränkt sich in vielen Fällen auf das Erteilen und Ausführen von Befehlen und Kommandos (vgl. Bembe 1950, s. 30; Loosli 1924, S. 30). Ein besonders eindrückliches Beispiel beschreibt Noack. Ein Vergleich mit der bei Burmeister dargestellten Regelung der Körperpflege macht die unterschiedlichen Begriffe von Ordnung deutlich. Die von Noack beschriebene Praxis des Erziehers Hamel zeichnet sich durch ein Übermaß an Reglementierung aus und verletzt durch eine Missachtung des Schamgefühls des Heimneulings Jochen dessen persönliche Würde. In der beschriebenen Szene fordern die anderen Jungen Jochen auf, sich zu beeilen: „’He, Jojo, träum nicht. Denkste, wir wollen auffallen, weil du nicht fertig wirst. Los, zieh dich aus. Bloß Turnhose und Hausschuhe, Handtuch um den Hals, Seife in der Hand. Duschen und dann geht’s in die Falle.’ Jochen zog sich aus, stellte sich vor seinen Schrank wie die anderen, bis Herr Hamel kam und mit ihnen in den Duschraum hinunterging. ‚Turnhosen aus!’ Jochen genierte sich, doch die anderen schienen daran gewöhnt zu sein. ‚Wasser an! Einseifen! Los, los. Beeilung! Wasser aus! Werdet fertig mit dem einseifen! Wasser an! Abspülen! Wasser aus! Abtrocknen!’ Jochen sah, wie die anderen sich beeilten, und wischte sich hastig mit dem Handtuch die Seife aus den Ohren. ‚Turnhosen an! Und hinauf!“ (1979, S. 15) Eingriffe von Seiten des Heimpersonals in persönliche, mit dem Körper und der äußeren Erscheinung eines Individuums verbundene Bereiche werden als besonders verletzend empfunden. Außerordentlich häufig beklagen sich die Autoren über strenge Regelungen der Frisur und Kleidung. Sowohl einheitlich wirkende Formen der Haartracht als auch uniform machende Kleidung dienen der Kennzeichnung der Sonderstellung von Heimkindern oder werden als Bestrafung eingesetzt. Sie mögen für das Heimpersonal arbeitssparend und zweckmäßig sein, von den Betroffenen werden derartige Regelungen als stigmatisierend empfunden (vgl. Graham 1968, s. 13 – 16; Forel 1910, s. 7 – 8; Lampel 1929, s. 183; Leitgeb 1948, s. 74, Werner 1969, S. 13). Nach Goffman wirken entsprechende Vorschriften in totalen Institutionen bezogen auf die „Identitätsausrüstung“ des Einzelnen als Verletzung des Selbst (1972, S. 30 – 31). Wie ein Individuum und auch ein Kind oder Jugendlicher seine Persönlichkeit gegenüber anderen darstellt, hat für seine Identitätsbildung außerordentlich große Bedeutung (vgl. Burmeister 1953, s. 83-84). Für den Jugendlichen undurchschaubare Entscheidungen der Erzieher bezogen auf seine äußere Erscheinung müssen ihm deshalb als seine Selbstbestimmung und individuelle Freiheit einschränkend und die Würde seiner Person verletzend erscheinen. Ein aufgezwungener kurzer Haarschnitt oder allgemein ausgedrückt die starke Lenkung durch Erzieher bei Fragen der Gestaltung der äußeren Erscheinung werden bei Noack zu recht als Ausdruck einer auf reine Anpassung zielenden Erziehung gewertet. Bei Bjelych/Pantelejew findet man eine humorvolle Darstellung dieses Problems. Die Heimleitung der Schkid bemüht sich, ihren Jugendlichen einen gewissen Spielraum in der Frage der Selbstbestimmung ihrer äußeren Erscheinung zuzugestehen: „Die Jungen hatten inzwischen vergessen, dass es so etwas wie Haarschneiden gab, obwohl sie genau wussten, dass es in der Schkid, genau wie in allen anderen Jugendheimen ab und zu geschehen musste. Die Jungen beschlossen, um ihre Haare zu kämpfen. Sie versammelten sich und entsandten eine Delegation, die für die dritte und vierte Abteilung die Erlaubnis erwirken sollte, die Haare behalten zu dürfen. Vikniksor ließ sich erweichen und gab seine Erlaubnis, aber nur unter der Bedingung, dass die Haare in Zukunft ordentlich lagen und gründlich gekämmt wurden...Die Großen waren zwischen zwei Feuer geraten. Die Haare opfern, das bedeutete soviel wie die Freundin opfern; die Haare behalten, bedeutete eine Unmenge Scherereien.“ (1924, S. 354) Obwohl die neuen Frisuren am Ende doch den Vorschriften für Hygiene und Ordnung weichen, scheint allein schon die kurze Probe der Eigenverantwortlichkeit einen positiven Eindruck auf die Jungen gehabt zu haben. Die Jugendlichen können selber entscheiden, müssen aber die Konsequenzen ihrer Entscheidung auf sich nehmen, hier die sich arbeitsintensiv auswirkende Pflege der Frisur. Die Ordnung ist transparent geworden. Mit der Einsicht der Jugendlichen in die Entscheidung der Erwachsenen wird die gesetzte Ordnung zur ausgehandelten. Diese Erziehungspraxis steht in Zusammenhang mit dem Ziel der „Stärkung des Selbstvertrauens und des Gefühls sozialer Verantwortlichkei“t (Bjelych/Pantelejew 1929, S. 8). Nicht Anpassung um jeden Preis soll erreicht werden, sondern Einsicht in notwendige soziale Ordnungen. Auf die emotionale Situation der Jugendlichen wird mit pädagogischem Verständnis Rücksicht genommen. Die Bedeutung derartiger Rücksichtnahme auf die Erlebnisinhalte von Kindern, in Bezug auf ihre äußere Erscheinung und ihr persönliches Eigentum betont Burmeister im Zusammenhang mit der Neuaufnahme eines Kindes in ein Heim. Ein altes unpraktisches Kleid wird von den Erziehern ebenso akzeptiert wie das lange Haar des Kindes: „Wir müssen alles, was in unserer Macht steht, tun, um das neue Kind fühlen zu lassen, dass wir es so nehmen, wie es ist, und dazu gehören eben auch seine Kleider. Sein persönliches Eigentum ist ein greifbares Bindeglied zu dem Leben, das es soeben hinter sich lässt, und hat einen Wert, der weit über den tatsächlichen hinausgeht“ (S. 83). Völlig gegensätzlich hierzu beschreiben z. B. Forel (1910, S. 7-8), Leitgeb (1948, S. 143-144), Loosli 1924, S. 74) und Cousins (1955, s. 38) Neuaufnahmen. Die Autoren beklagen, dass das Heimpersonal den Kindern bei der Neuaufnahme mit einem hohen Maß an Geringschätzung und Verständnislosigkeit begegnet. Die eigene Kleidung muss abgegeben werden und gegen oft uniforme, vor allem aber hässliche Anstaltskleidung eingetauscht werden: „Der Aufseher führte mich in einen Raum, in dem es eine Unmasse von Kleidern und Schuhen gab. ‚Ausziag’n!’ befahlt er. Ich empfing die ‚Uniform’ der Waisenhausknaben. Der Aufseher schob mich in eine Hose, die so lang war, dass sie an den Waden eine wahre Harmonika bildete. ‚Paßt schon!’ sagte der Aufseher.“ (Forel 1910, S. 9) Die eigene Kleidung ist für viele der beschriebnen Heimkinder letztes Verbindungsglied zum Leben außerhalb des Heimes und zur bisherigen Biographie. Die Missachtung der emotionalen Bedeutung von Kleidung- und Erinnerungsstücken durch Erzieher ist Folge der Dominanz von Ordnungsprinzipien über pädagogische Maßstäbe in vielen der kritisierten Heime (vgl. Loosli 1924, S. 29 u. 32; Meinhof 1971, S. 36-37). Kinder reagieren auf solches Erzieherverhalten schockiert und verletzt. Die kritisierten Regelungen der Gestaltung persönlicher Lebensbereiche zeichnen sich also aus durch mangelhaftes Verständnis für die emotionale Bedeutung der äußeren Erscheinung der Kinder. Die Mehrzahl der Erzieher in der untersuchten Literatur zeigt ein hohes Maß an Lenkung und Geringschätzung den Kindern gegenüber. Der Entwicklung von Individualität wird keine Möglichkeit zugestanden. Als einen anderen Bestandteil der „Atmosphäre“ wurden Regelungen der Nahrungsversorgung genannt. Auch in diesem Bereich findet man zahlreiche Äußerungen der Kritik. Beklagt werden mangelhafte Quantität des Essens (Castillo 1958, S. 151-152, Dickens 1837/8, S. 15, Graham/Frank 1968, S. 15/16; Uliltz 1928, S. 73), schlechte Qualität und Eintönigkeit der Mahlzeiten (Bembe 1950, S. 30; Brosch 1971, S. 62; Fichte 1965 S. 27; Geiger-Gog 1929, S. 76), Essenszwang und Essensentzug als Strafe (Brosch 1971, S. 61-62; Leitgeb 1948, S. 147-8; Malten 1951, S. 25, S. 100 – 101; Meinhof 1971, S. 28-30) und besseres Essen für das Personal als für die Kinder (Castillo 1958, S. 152; Gothe/Kippe 1975, S. 47); Loosli 1924, S. 75; Webster 1948, S. 158). Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen den in den verschiedenen Heimen praktizierten Essensgewohnheiten und den offiziellen Erziehungszielen feststellen. So wird der Zwang zum Essen von abgelehnter Nahrung oft als Ausdruck einer Erziehung zum „blinden Gehorsam“ dargestellt (Webster 1948, S. 248-250; Brosch 1971, S. 61-62, Meinhof 1971, S. 28-30). Demgegenüber gilt die freie Auswahl von Nahrung als Kennzeichen einer Erziehung, die den Kindern und Jugendlichen ein Recht auf Selbstbestimmung zugesteht. „Es ist gut, wenn Kinder selbst eine Entscheidung treffen dürfen, und das lässt sich bei Mahlzeiten durchaus einrichten.“ (Burmeister 1953, S. 65). Die Bedeutung der Möglichkeit relativ freier Wahl des Essens für Kinder ergibt sich vor allem aus der „nicht zu unterschätzenden seelischen Bedeutung“ von Nahrung (Loosli 1924, S. 75). In manchen Fällen kommt vielleicht einer Mahlzeit, ähnlich wie Kleidungsstücken, eine symbolische Bedeutung zu, die Grund für besondere Vorliebe oder Abneigung eines Kindes gegenüber dieser Nahrung ist. Forel berichtet, wie die Erinnerung an den morgendlichen Kaffee zuhause bei einem Heimkind zur Verweigerung anderer Nahrung führt. Der Wunsch nach Kaffeegenuss ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach zuhause. Burmeister betont deshalb die Gewichtigkeit einer differenzierten Führung von Kindern im Bereich von Nahrungs-aufnahme, die den seelischen Bedürfnissen der Kinder eher gerecht wird, d.h. ein von Verstehen bestimmtes Verhalten von Erziehern. Die Versorgung mit ausreichender und schmackhafter Nahrung wird als Erfahrung emotionaler Zuwendung beschrieben und erzeugt Gefühle der Geborgenheit: „Die Mutter (Hausmutter, Anm. d. Verf.) teilt aus – wie strahlen die Kinderaugen heut! Wegen dem Kuchen, dem Kakao? O nein, der Liebe wegen, die hinter diesen Dingen steht und die sie wohl spüren!“ (Geiger-Gog 1929, S. 148) Kinder deuten gute Versorgung und die Beachtung ihrer Bedürfnisse als Beweis von Liebe und Wertschätzung. Auch die folgende, aus einem Gründerbericht entnommene Textstelle belegt dies: „Ich sah mir das verelendete Kind an und bemerkte, wie es trotz aller Tränen immer nach der Küchenschüssel schielte. Ohne weiter Rede nahm ich einen Gabel, spießte ein paar Küchlein auf und reichte sie dem Kind: ‚da schmeck mal! Das Kind sah mich mit ungläubigen Augen an, ob ich es mit Ernst meinte; dann aber aß es mit Gier, das Geheul hörte plötzlich auf und die Tränen versiegten.“ (Heimersdorf 1927, S. 283). Eine mangelhafte Versorgung mit Nahrung muss deshalb von Kindern als Verweigerung von Zuwendung und als Zurücksetzung empfunden werden. Die schlechte Versorgung wird oft im Zusammenhang mit dem Ziel einer Erziehung zur Armut genannt. (Vgl. 3.2.) Leitgeb beschreibt z.B. die stigmatisierende Wirkung der Waisenhauskost: „Die tägliche Brennsuppe mit zerkochtem Weißbrot, diese blasse, kleistrige Brühe, deren Geruch uns wahrscheinlich nicht nur an den Kleidern haftete, sonst hätte uns der Regens bei einer Strafpredigt nicht das Wort zugeschleudert, er sei nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen wie wir.“ (1948, S. 178). Die „Brennsuppe“ wird als Symbol von Minderwertigkeit dargestellt. Sie ist Ausdruck gesellschaftlicher Geringschätzung gegenüber Waisenkindern und muss deshalb von ihnen als Verletzung ihrer Würde empfunden werden. Auch Ulitz prangert die untergeordnete Stellung an, die in seinem Roman durch schlechte Nahrungsversorgung den Waisenkindern zugewiesen wird. Ausreichende Nahrung an einem Festtag wird von den Kindern gierig verschlungen, vornehm hebt sich von solchen Kindern das immersatte „Normalkind“ Hannchen ab: „Die Augen (der Heimkinder, Anm. d. Verf.) erglommen, die Münder öffneten sich zu hilflosem Lächeln des Glücks..., und dann griffen zitternde Hände nach Messer und Gabel. Hannchen Scholz, der von ihrer Mutter aufgelegt wurde, sagte schon beim ersten, kleinen Stück: ‚Danke, Mama!’ Es war ein Unterschied.“ (1928, s. 123). Auch die Praxis, Erziehern und Kindern unterschiedliche Speisequalitäten zu servieren wird in Zusammenhang mit einer Erziehung zur Genügsamkeit gesehen. Loosli wertet diese Art der Versorgung als Ausdruck von Unterprivilegiertheit: „Damit jedoch dem Zögling recht eindringlich, unzweideutig eingebläut werde, dass er einer niedren Klasse als die übrigen Anstaltszugehörigen, folglich der übrigen Menschheit...angehört, wird er, dreimal täglich, an besonderen Tischen besonders und sicher oberflächlicher, wenn nicht schlechter genährt als die Herrenkaste der Vorgesetzten.“ (1924, S. 75). Das Gefühl, auf diese Art benachteiligt und herabgesetzt worden zu sein, wird bei Gothe/Kippe als Anlass einer Revolte beschreiben. Auch im Bereich der Nahrungsversorgung kann man feststellen, dass in der untersuchten belletristischen und autobiographischen Literatur Heimerziehung starke Reglementierung, die sich in Essenszwang ausdrückt, und mangelnde Wertschätzung den Kindern gegenüber durch Versorgung mit minderwertiger und wenig sorgfältig zubereiteter Nahrung vorgeworfen wird. Obwohl man heutiger Heimerziehung zugestehen muss, nicht mehr wie zu Dickens’ Zeiten Heimkinder am Rand des Hungertodes vegetieren zu lassen, scheint doch auch vor wenigen Jahren das Leben von Heimkindern durch das Gefühl relativer Armu t g e p rä g t g e we se n z u se i n . Ge me sse n a m Ni v e a u d e r Bedürfnisbefriedigung ihrer Umwelt müssen sich auch bis in die Gegenwart Heimkinder als Menschen zweiter Klasse gefühlt haben: „Kurz nach sieben Uhr wird gefrühstückt. Manchmal kriegen wir nur Butter zum Brot. Wir kriegten nie Bohnenkaffee. Von Kuchen, Schokolade und sonstigen Delikatessen können wir nur träumen.“ (Brosch 1971, S. 62, vgl. Meyer-Dettum/Bauer 1977, S. 199). Nicht nur im Bereich der Nahrungsversorgung, sondern auch bezogen auf die bauliche Ausstattung von Heimen beklagen viele der Autoren Dürftigkeit und Armut. Heime werden darüber hinaus als große, weitläufige, leere und außerordentlich saubere Gebäude dargestellt. Auffallend ist, dass manchmal von unheimlicher Stille und Angstgefühlen der Kinder berichtet wird. Kinder sind von der Größe der Gebäude erschreckt, vor allem aber von der Sauberkeit und Stille, die sie in einem von Kindern bewohnten Haus nicht erwartet haben: „Ein eigentümlicher Duft, wie von gescheuerten Dielen, war im Hause. Ich wunderte mich, dass ich keine Kinder sah und hörte, denn wo Kinder sind, pflegt es nicht stille zu sein.“ (Stenglin 1912, S. 17). Burmeister empfiehlt, ein neu aufzunehmendes Kind in der Zeit nach Schulschluss in das Heim einzuführen, „wenn Geschäftigkeit und Betriebsamkeit herrschen’, damit es weiß, ‚dass hier nicht geflüstert und auf Zehenspitzen gelaufen wird.“ (1953, S. 77). Die Kinder sollen sich gleich zuhause fühlen. Viele Autoren assoziieren dagegen Heimatmosphäre mit „Kälte“, während das verlorene Zuhause für „Wärme“ und wirkliches Leben steht (vgl. Leitgeb, 1948, s. 138/139). Das Heim wird als ein Ort beschrieben, an dem man sich auf keinen Fall zuhause fühlen kann. (Honegger, 1974, S. 99; Cremer 1964, S. 47-48). In Rantzaus Roman liegt der Vorteil eines zugegeben ungeordneten Zuhause gegenüber dem Heim für ein Kind in der Abenteuerlichkeit und vor allem der Freiheit der Selbstbestimmung, dass „man beliebig aufstehen und fortgehen konnte“. Ein Heim, vor allem das Gebäude, hat demgegenüber einschließenden Charakter: „Hannes sieht nur die vielen fremden Augen, die ihn prüfen und verfolgen, die weißen Türen und Wände, die ihn einschließen.“ (1931, S. 61). Vor allem aber fühlen sich die beschriebenen Kinder und Jugendlichen im Heim von der Außenwelt abgeschlossen. Die dargestellten Gebäude sind fast immer von hohen Mauern umgeben, verschlossene Tore verhindern die Verbindung mit dem Leben außerhalb des Heimgeländes: „Fern und abgeschlossen von der jenseits unserer Tore lebenden Welt vegetierten wir innerhalb der hohen Mauern, die unser Elend um-schlossen. Wir konnten weder Anteil an ihren öffentlichen Lustbarkeiten nehmen, noch uns um ihre Sorgen bekümmern...- das k ü mmert e u n s wen i g , al s b efän d en wi r u n s au f ei n em an d eren Planeten.“ (Stanley 1911, S. 22; vgl. Erhard 1931, S. 129; Werner 1969, S. 46-47). Eine solchermaßen beschriebene gefängnisartige Abgeschlossenheit ist jedoch offenbar nicht unbedingt an Mauern und schwer zu überwindende Hin d ern isse g eb u n d en . Ritter-Bern u n d Gen et sch ild ern in ih ren autobiographischen Werken symbolische Grenzen der Anstalt, denen ein fast übernatürlicher Charakter gegeben wird. „Rings um das Haus, um Felder, Wiesen und Bäume zieht sich ein Drahtzaun, ein rostiger, etwas defekter Drahtzaun. Ich könnte ihn mit dem Fuß umstoßen; ich könnte mit einem Sprunge hinüberkommen. Es geht nicht; der Zaun ist sakrosankt.“ (Ritter-Bern 1927, S. 17) Genet bezeichnet Blumenrabatten, die die Grenze des von ihm beschriebenen Heimes markieren als „geheiligte Grenzen“. Nur „Burschen von eigentümlicher Unheimlichkeit“ wagen sie zu überschreiten. (Genet 1976, S. 106). Viele Autoren kritisieren mit ihrer Darstellung von Heimanlagen die gesellschaftliche Außenseiterstellung der Heimkinder. Sie werden gezeichnet und ausgestoßen, eine Rückkehr in die Gesellschaft aus eigenem Entschluss scheint kaum möglich. Diese Art von Isolation zeigt sich auch in den oft weit abgelegenen Standorten vieler der beschriebenen Heime (Brosch 1971, s. 43; Gothe/Kippe 1975, s. 47); Meinhof 1971, s. 15; Ritter-Bern 1926, s. 16-17). Lokale Isolation ist in diesen Beispielen Ausdruck sozialer Isolation. Sie muss d a s So z i a l v e rh a l t e n d e r Ki n d e r sc h ä d i g e n d e Wi rk u n g e n h a b e n . Abgeschlossenheit und Abgeschiedenheit verhindern gesellschaftliche Integration. Im Zusammenhang mit der baulichen Ausstattung von Heimen findet man auch eindrucksvolle Beispiele für positiv gestaltetes Heimleben, für freundlich und kindgemäß arrangierte Atmosphäre. Stenglin beschreibt die Verschönerung der äußeren Erscheinung eines Heims als ersten Schritt bei der Änderung eines Erziehungskonzepts und als Ausdruck neuer Erziehungspraxis: „Das erste, was wir von der Verwaltung verlangten, war, dass sie die Mauern niederreißen und die Gitter von den Fenstern nehmen lassen möge... Das graue Haus bekam einen freundlichen Anstrich, Blumenbretter mit Blumen kamen an die Fenster; rings umher wurden Nadel- und Laubbäume gepflanzt... wir wetteiferten darin, der Anstalt innen und außen ein freundlicheres Gepräge zu geben.“ (Stenglin 1912, S. 230) Das Heim ist in diesem Beispiel nicht länger etwas Gegebenes, was man hinnehmen muss. Es kann vielmehr kreativ verändert werden. Seine Umgestaltung ist Ausdruck der Aufhebung von Zwang. Während bei Stenglin noch vorwiegend Erwachsene die Träger von Initiativen zur Veränderung sind, weitet Aerde diesen Ansatz aus: Er berichtet über ein Jugendlager. Die Jungen haben aus eigener Initiative heraus an der Verschönerung ihres Heimes gearbeitet. Im Vergleich der geschilderten oft starren Organisations-formen von Heimen klingt in diesem Beispiel die Möglichkeit einer alternativen Gestaltung des Heimlebens an: „Das fand Hans nett. Er war noch nirgendwo gewesen, wo man die Jungen etwas hatte verändern oder verbessern lassen. Ein Heim war ewig und unveränderlich, den Eindruck machte es zumindest auf die Zöglinge. Es wurde natürlich schon mal gestrichen oder umgebaut, aber das war Sache der Leitung oder des Verwaltungsrats, damit hatten die Jungen nichts zu schaffen, die mußten allenfalls eine Zeitlang anderswo sitzen oder schlafen und andere Flure oder Treppen benutzen.“ (Aerde 1959, S. 151; vgl. Ziegler 1978, S. 212 ff.). Aerdes Beispiel geht über eine Verbesserung der Atmosphäre durch Verschönerung eines Heimes durch Erzieher hinaus. Vielmehr bricht die Möglichkeit zu Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit der Insassen die Starre der Organisation auf. Aerde zweigt einen Weg, die oftmals in der untersuchten Literatur beklagte Langeweile und Resignation der Kinder, die aus der Überreglementierung des Heimalltags und damit verbundener Eintönigkeit resultiert, aufzubrechen. Selbständige Lebensgestaltung der Kinder und Jugendlichen tritt an die Stelle ihrer Versorgungssituation. Selbst unter schlechten materiellen Bedingungen erzeugt offenbar das Gewähren von Mitverantwortung eine als angenehm empfundene Atmosphäre. Beispiele findet man bei Castillo, Bjelych/Pantelejew, Oursler und Gothe/Kippe beschrieben. Die Forderung an eine pädagogisch sinnvolle Heimerziehung, der Kreativität und Eigenverantwortlichkeit von Kindern und Jugendlichen im Alltag Raum zu geben, lässt sich auf alle Bereiche von Heimorganisation ausdehnen. Heimerziehung, die Erziehung zur Gesellschaft hin unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Einzelnen anstrebt, kann vor allen Dingen im Heimalltag Kindern und Jugendlichen ein Übungsfeld für selbständiges und verantwortungsbewusstes Handeln bieten. Dann kann auch ein Alltag im Heim Raum bieten, in dem sozial geschädigte Kinder lernen können, „gerechtere, befriedigendere Bedingungen für andere und sich selbst zu schaffen. (Tausch u. Tausch 1973, S. 9). 3.4. Soziale Interaktion zwischen Erziehern und Heimkindern Wenn man von unterschiedlichen Wirkungen qualifizierten Erzieherverhaltens bzw. pädagogischen Fehlverhaltens auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausgeht, muss dem Verhalten von Heimerziehern besondere Beachtung geschenkt werden. Denn durch die im vorigen Kapitel beschriebene Abgeschlossenheit vieler Heime und eine dadurch bedingte Isolation von der Außenwelt sind die Insassen dem Verhalten ihrer Erzieher in stärkerem Maße als andere Kinder ausgeliefert: „Es gibt für Heimzöglinge keine Beschwerdestellen, dagegen bedingungslose Unterordnung unter den Erziehungsstil der Erzieher. . . „ (Schöffel 1974, S. 61; vgl. Späth 1978, S. 15 – 17). Heimkinder besitzen kaum Möglichkeiten, sich dem Einfluss der sie erziehenden Erwachsenen auch nur vorübergehend zu entziehen, es sei denn, sie fliehen aus dem Heim (vgl. Roth 1973, S. 48). Kinder und Jugendliche erfahren Sozialisation überwiegend durch Interaktionen mit ihren Erziehern. Roth nennt deshalb die „Beziehungen zwischen Heimkindern und Heimerziehern“ den „objektiven Maßstab, an dem die Praxis der öffentlichen Heimerziehung gemessen werden sollte.“ (ebda., S. 46). Gerade Erziehungsträger in Heimen sollten daher die Frage nach den Auswirkungen ihres praktischen Verhaltens auf die ihnen anvertrauten Kinder stellen und versuchen, ihr Verhalten an den Bedürfnissen dieser Kinder zu orientieren. Erziehungsmaßnahmen müssen aus einer Grundhaltung des Verständnisses für Kinder getroffen werden, wie Tausch und Tausch es definieren: „Verstehen ist die Wahrnehmung bzw. vorstellungsmäßige Vergegenwärtigung der subjektiven Welt eines anderen Individuums, also der Art und des Inhalts seiner bewussten Erlebnisse, d.h. seiner Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen mitsamt den Bedeutungen, Strebungen, Wünschen und Vorstellungen, die von ihm in bestimmter Situation erlebt werden“ (1973, S. 349) Verstehen der subjektiven Welt eines anderen Individuums ist am ehesten durch seine Aussagen über die Art und Weise, wie es bestimmte Situationen erlebte, zu erlangen. Die im untersuchten Material von Heimkindern bzw. ihren Sprechern erstellten Beschreibungen von Erzieherverhalten und seinen Wirkungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen können der Vergegenwärtigung der Erlebniswelt von Heimkindern dienen und deshalb wichtige Ansatzpunkte bei der Beurteilung von Erzieherverhalten und der Entwicklung einer Konzeption kindorientierter Heimerziehung darstellen. Jedoch bieten Auflistungen von positivem bzw. negativem Erzieherverhalten nur dann einen wirksamen Ansatzpunkt zur Änderung von Erziehungspraxis, wenn Interaktion im Heim nicht isoliert, sondern in ihren Zusammenhängen betrachtet wird. Daher war von besonderem Interesse, wie im vorliegenden Material Ursachen und Bedingungen von Erzieherverhalten dargestellt werden, das z.B. in Abhängigkeit von bestimmten Heimstrukturen, Erzieherausbildung, Funktionszuweisungen durch Heimträger oder auch der Ist-Lage der Heimkinder beschreiben wird. Jene große Bedeutung, die Erzieherverhalten im Leben von Heimkindern zukommt, zeigt sich in der untersuchten Literatur in einer Fülle plastischer Darstellungen von Interaktionsabläufen in Heimen. Da es den meisten Autoren um Kritik an der erlebten Heimerziehung geht, überwiegt die Darstellung negativen Erzieherverhaltens die Beschreibung solchen Verhaltens, das die Autoren als pädagogisch sinnvoll hervorheben. Negatives Erzieherverhalten, wie es von den Autoren geschildert wird, lässt sich als physische und psychische Misshandlung von Heimkindern und –jugendlichen charakterisieren: „...und der Ausfluß der Lieblosigkeit sind nicht nur Prügel und Dunkelhaft, sondern auch Worte und Mienen des Hohnes und des Verkennens und der Missachtung:“ (Stenglin 1912, S. 148). Während in der älteren Literatur Aussagen über physische Misshandlungen überwiegen, verschiebt sich die Tendenz in Gegenwartsliteratur zunehmend in Richtung auf psychische Misshandlungen. Jedoch findet man selbst in Veröffentlichungen der späten sechziger bzw. frühen siebziger Jahre unseres Jahrhunderts (d. 20.) noch Beispiele von meist äußerst brutalen Körperstrafen wie z.B. Schlägen auf Hände, Gesäß und Rücken mit Stöcken und anderen Gegenständen (Brosch 1971, S. 12 – 13; vgl. Gothe/Kippe 1975; Werner 1969). Das kritisierte Erzieherverhalten wird überwiegend als straforientiert beschrieben. Bestraft werden Verstöße gegen die Heimordnung oder gesellschaftliche Normen und Ungehorsam. Auch auf eine psychosomatische Störung, dem nächtlichen Bettnässen von Kindern, wird von Erziehern mit Strafen reagiert. Eine keineswegs vollständige Aufstellung der genannten Strafen macht die Komplexität dieses Bereichs deutlich, den man durchaus mit dem Begriff pädopathologisch beschreiben kann. Die Autoren beklagen Häufigkeit, Unangemessenheit und Härte von Strafen. Besonders auffallend und eindrücklich sind die Darstellungen von körperlichen Züchtigungen, die in ihrer Brutalität schockierend wirken. (vgl. Bembe 1950, S. 29; Brosch 1971, S. 12 – 13, 58 – 62; Capote 1969, S. 123; Castillo 1958 S. 136 – 139; Gothe/Kippe 1975, S. 15 – 18, 24, 54, 70, 159; Honegger 1974, S. 89 ff., 110 ff.; Lampel 1929, S. 35 – 55; Loosli 1925, S. 123 – 125; Mostar 1952, S. 300, 319; Motley 1951, S. 26, 46, 52 ff.; Roth 1973, S. 55 ff.; Richter 1929, S. 31 – 34; Salzmann 1784-88, S. 375 – 376; Schaffner 1912, S. 20 – 31, 66, 67; Stanley 1911, S. 16 – 20; Stenglin 1912. S. 45; Werner 1969, S. 8) Darüber hinaus werden folgende negative Sanktionen häufig beschrieben: Entzug von Vergünstigungen (z.B. Ausgang, Sonntagsessen, Besuch naher Angehöriger), Essensentzug, Verrichten zusätzlicher Arbeiten (vgl. Brosch 1971, S. 46, 58; Castillo 1958 S. 41; Cremer 1964, S. 51; Erhard 1931, S. 137; Forel 1910, S. 29, 37, 47; Gothe/Kippe 1976, S. 17, 23, 136; Honegger 1974, S. 85-87; Malten 1951, S. 86 ff.; Noack 1970, S. 58; Stenglin 1912, S. 48) Arrest (vgl. Bembe 1950, S. 34; Bjelych/Pantelejey 1929, s. 263; Brosch 1971, S. 58; Cremer 1964, S. 41; Genet 1976, S. 64; Gothe/Kippe 1975, S. 17; Noegger 1974, S. 85-87; Koerber 1955, S. 79; Stenglin 1912, S. 67; Ziegler 1978, S. 203) Tragen besonderer Kleidung und Frisur (vgl. Mostar 1952, S. 45; Stenglin 1912, s. 23; vgl. 3.3.) Kollektivstrafen (vgl. Erhard 1931, S. 137; Malten 1951, S. 89; Loosli 1924, S. 63) Punkte- und Notensysteme mit anschließenden Sanktionen oder Belohnungen (vgl. Bjelych/Pantelejew 1929, S. 186 – 189; Cousins 1955, S. 41; Gothe/Kippe 1975, S. 154; Motley 1951, S. 27; Noack 1970, S. 71). Zur Überwachung und Bestrafung von Insassen bedienen sich die beschriebenen Erzieher häufig sogenannter „Kapos“, d. h. besonders kräftiger oder gerissener Jugendlicher, die als Gegenleistung priviligierte Stellungen im Heim einnehmen. (vgl. Bembe 1950, S. 3; Brown 1966, S. 177; Castillo 1958, S. 135; Genet 1976, S. 86, 103; Honegger 1974, S. 164; Lampel 1929a, S. 12, 21 ff.; Leitgeb 1948, S. 144 -145; Mostar 1952, S. 302; Noack 1970, S. 10; Ziegler 1978, S. 199) Loosli erklärt die Häufigkeit straforientierten Verhaltens von Erziehern mit dem rigiden Charakter des Heimlebens. Maßstab des Erzieherverhaltens seien nicht kindliche Bedürfnisse, sondern allein die Aufrechterhaltung der Heimordnung. (Loosli 1924, S. 199) Andere Autoren sehen Gründe für autoritäres Verhalten von Erziehern in auf Anpassung und Unterordnung ausgerichteten Erziehungszielen. (vgl. Gothe/Kippe 1975, S. 69; Meinhof 1971, S. 94; Noack 1970, S. 69; Schaffner 1922, S. 56, 71; Ziegler 1978, S. 202; vgl. 3.2.) Erzieherverhalten wird in diesen Fällen von den Betroffenen als Ausdruck einer Beziehung zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen empfunden: „Der Vorgesetzte ist gegenüber dem Zögling allmächtig. Es gibt in der Anstalt zur zweierlei Menschen: Unterdrücker und Unterdrückte. Die letzteren sind die Zöglinge. Als solche scheiden sie sich in zwei scharf voneinander abgegrenzte Lager . . ., die alles andere daher eher verbindet, als etwa gegenseitiges Vertrauen. (Loosli 1924, S. 71) Autoritäres Erzieherverhalten, das Erziehung als durch Bestrafung zu erreichende Unterbindung unerwünschten Verhaltens versteht, lässt keine positive emotionale Beziehung in Form eines Vertrauensverhältnisses zwischen Kindern und Erziehern entstehen und ist durch Missachtung kindlicher Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung gekennzeichnet, wie Werner in seiner Autobiographie beschreibt. Das Kind wird nach kurzem Aufenthalt bei Pflegeeltern in ein Heim eingewiesen. Werner schildert, wie er aus Heimweh immer wieder zu einer nahen Bahnstrecke läuft und weinend den Zügen nachsieht: „War der Zug aus meinem Blickfeld, schaute ich noch lange nach und dachte an eine Mutter, die mich hätte gern haben sollen. Oft so dasitzend, merkte ich nicht, dass die Erzieherin hinter mir stand. Erst nachdem man mich am Arm emporzureißen versuchte, kam ich wieder zu mir. Ich schrie nach meiner Mutter und bat die Erzieherin mich nach Hause laufen zu lassen. Mit einigen Hieben versuchte man mich zur Vernunft zu bringen. Abends im Bett lag ich noch Stunden wach und weinend hörte ich auf den vorüberfahrenden Zug.“ (1969, S. 5) Die von Werner beschriebene Erzieherin ist offenbar nicht in der Lage, sein Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung, das sich in seiner Sehnsucht nach einer „Mutter“ ausdrückt, zu beantworten und so eine tragfähige Basis pädagogischer Führung zu schaffen. Sie sieht im Verhalten Werners nur eine Störung des Heimbetriebes, die sie durch autoritäre Maßnahmen zu unterdrücken versucht. Andere Autoren beklagen sich neben einem durch Fehlen emotionaler Zuwendung gekennzeichneten überwiegend straforientierten Erzieherverhalten auch über den Ausdruck offener Geringschätzung und Verachtung, mit dem Erzieher Heimkindern begegnen. Ein bei Gothe/Kippe zitierter ehemaliger Heimzögling fühlte sich im Heim „behandelt wien Dreck“ (1975, s. 27). Wörtlich fast identische Formulierungen findet man bei Cremer 1964, S. 125; Noack 1970, S. 85; Werner 1969, S. 50. Die geringschätzende Haltung des Heimpersonals drückt sich in folgendem Verhalten aus: misstrauisches Verhalten den Kindern/Jugendlichen gegenüber (Noack 1970, S. 11, 65) Abstempeln der Kinder als moralisch minderwertig (Bronte 1949, S. 38; Malten 1951, S. 100 ff.; Noack 1970, S. 135 ff.; Rantzau 1931, S. 102) Beschimpfungen (Honegger 1974, S. 87; Brosch 1971, S. 44, 45, 49) Ansprache in befehlendem und lauten Ton ( Brown 1966, S. 101; Meinhof 1971, S. 22, 40) Kein Zulassen von Dialog (Noack 1970, S. 101, 124; Gothe/Kippe 1975, S. 22) Täuschung der Kinder/Jugendlichen (falsche Versprechungen) (Meinhof 1971, S. 54; Mostar 1962, S. 297; Lampel 1929b, S. 109) Einschüchtern durch Betonung der eigenen Machtposition (Brosch 1971, S. 44,45; erhard 1931, S. 136; Honegger 1974, S. 85; Noack 1970, S. 11; Stenglin 1912, S. 16,17) Zusammenfassend lässt sich das kritisierte Erzieherverhalten als „abschreckend und deshalb pädopadogen“ (Kluge/Lützenkirchen 1975, S. 83) charakterisieren. Der Missbrauch von Erziehungsmitteln ist notwendige Begleiterscheinung unpäda- gogischen Erzieherverhaltens. Außer negativen Sanktionen ist in den beschriebenen Heimen die Erzeugung von Schuldgefühlen ein beliebtes Mittel, um angepasstes Verhalten zu erreichen. Die „moralische Erziehung“ von Heimkindern geschieht in vielen Fällen durch Vermittlung religiöser Vorstellungen. Selbst Autoren, die grundsätzlich religiösen Werten nicht negativ gegenüberstehen, kritisieren die in manchen Heimen praktizierte religiöse Erziehung. (Vgl. Castillo 1958, S. 137, 185 ff.; Loosli 1924, S. 95 ff., 101; Salzmann 1784 – 88, S. 367 ff.; Stanley 1911, S. 27, 29; Mehringer 1976, S. 101) Heimkinder beklagen sich in den untersuchten Veröffentlichungen über den Zwang zu religiösen Verrichtungen, übermäßig häufigen Kirchgang, Beten, religiösen Unterricht und Andachtsübungen. (vgl. Brosch 1971, S. 12, 13; Castillo 1958, S. 137; Cremer 1964, S. 48 – 49; Forel 1910, S. 11; Genet 1976, S. 101; Gothe/Kippe 1975, S. 28; Schöffel 1974, S. 61; Wilker 1924, S. 39-40; Roth 1973, S. 50) Loosli zitiert einen früheren „Anstaltskameraden“, „der auf die Frage, was ihm von seiner Anstaltszeit am dauerhaftesten in der Erinnerung geblieben sei, unbedenklich erwiderte: ‚Die Prügel und die Andachten!’“ (1924, S. 94). Über den Zwangscharakter religiöser Erziehung hinaus richtet sich die Autorenkritik vor allem gegen die Rolle der Religion als Erziehungsmittel. Religion diene wie Strafen der Unterdrückung von Heimkindern, sie sei „in der Anstalt ein Zuchtmittel unter anderen Zuchtmitteln“ (ebda., S. 96). Gott stehe „immer auf der Seite der Vorgesetzten“ und sei „im wesentlichen eine höhere Polizeiberufungsstelle“ (ebda., S. 95). Religiöse Erziehung wird zur „Verinnerlichung von Schuldgefühlen“ missbraucht, konstatiert Brosch (1971, S. 12) und als Drohmittel eingesetzt (vgl. Mehringer 1976, S. 101). Gehorsam gegenüber Erziehern ist gleich dem Befolgen göttlichen Willens, Ungehorsam und Widerstand ist Sünde. Der Erzieher ist Vollstrecker göttlichen Handelns, stellvertretend züchtigt er. Mit solcher Argumentation wird das Strafverhalten legitimiert (vgl. Genet 1976, S. 145, 146; Schaffner 1922, S. 70, 71; Roth 1970, S. 56). Stenglin lässt in seinem Roman den Heimleiter „Vorsteher Ungefähr“ anlässlich der Flucht einiger Jungen die zu erwartende Züchtigung folgendermaßen ankündigen: „...nichts bliebe ungerächt auf Erden! Gott der Herr sei ein strenger und strafender Gott gegen die, welche ihn nicht fürchten und lieben.“ (1912, S. 24). Die religiöse Begründung harter Strafen nimmt in einem bei Lampel berichteten Beispiel derartig extreme Formen an, dass eine Pervertierung christlich-religiöser Vorstellungen offenkundig wird: „Wir hatten `n Erzieher, der hat immer gleich gehauen, und wenn er uns verdroschen hatte, nahm er sein Gesangbuch. Das ist wahrhaftig wahr. Wir mußten singen: ‚Aus tiefster Not schrei ich zu dir’ und hinterher, weil wir gesagt haben, dass wir unschuldig sind: ‚O Lamm Gottes, unschuldig’ und dann zwei Stunden in der kalten Stube stehen, im Hemde.“ (Lampel 1929, S. 36). Derartige Kombination von frommen Reden und unmenschlichem Tun, stößt auf besondere Kritik der Autoren. Sie kennzeichnen die Erzieher als Heuchler. Der Heimjunge „Fritz Brand“ sagt über „Vorsteher Ungefähr“: „Tut fromm, aber ist nichts dahinter“ (Stenglin 1912, S. 36; vgl. Stanley 1911, S. 37; Castillo 1958, S. 137; Meyer-Dettum/Bauer 1977, S. 201). Die kritisierte religiöse Erziehung zeichnet sich durch Elemente von Zwang, Unterdrückung, moralischer Disqualifizierung von Kindern und unehrlichem Verhalten von Erziehern aus. Religiöse Erziehung, die sich als Vermittlung von Liebe, Geborgenheit und positiver Veränderung versteht und von Toleranz begleitet ist, wird demgegenüber von Castillo in seinem Roman als Charakteristikum einer positiven Heimerziehung durch den Jesuitenpater „Pardo“ beschreiben (vgl. Oursler 1948; Simon 1954; Wilkerson 1976). Religion als Erziehungsmittel nimmt also je nach Erziehungszielen, Heimkonzeption und Persönlichkeit von Erziehern unterschiedliche Aufgaben im Erziehungsprozess wahr. Man kann annehmen, dass Missbrauch von Erziehungsmitteln bzw. unpädagogisches Erziehungsverhalten abhängig ist von Ursachen und Bedingungen in Bezug auf Gesellschaft, Heimstruktur und –personal. Deshalb wurde der Frage nachgegangen, welche Gründe die Autoren für von ihnen kritisiertes Erzieherverhalten angeben. Viele der Strafszenen in der untersuchten Literatur erklären sich nicht allen aus irgendeinem rationalen Zweck, sei er der Sicherung der Heimordnung oder der Anpassung von Kindern und Jugendlichen. Oft werden Elemente von Brutalität seitens der Strafenden, verbunden mit Demütigungen der Gestraften, deutlich, die das Verhalten dieser „Erziehenden“ nur als pathologisch definieren lassen. Einige Autoren sprechen den Vorwurf krankhaften Erzieherverhaltens offen aus: „Wenn die Erzieher schlugen, besonders wenn sie die Hosen herunternehmen ließen, dann hatten sie eine ganz seltsame Art von Freude. Ganz gereizt vor Freude waren sie dann.“ (Bembe 1950, s. 32; vgl. Castillo 1958, S. 138-139; Gothe/Kippe 1975, S. 18 u. 24; Mostar 1952, S. 319 – 320; Richter 1929, S. 33 – 34; Ziegler 1978, S. 209, 238) Loosli zählt sadistisch zu nennende Strafmethoden auf, um zu „zeigen, wie dumm, wie unverständig gelegentlich die Strafen verhängt werden und wie merkwürdig es in den Köpfen derer aussehen muß, die sie anordnen.“ (1924, S. 116). Eines dieser Beispiele mag zur Veranschaulichung der Vorwürfe genügen: „In einer bekannten Erziehungsanstalt von weithin reichendem Ruf wurden taubstumme Mädchen zur Strafe nackt ausgezogen und geprügelt, oder in eine Kufe eiskalten Wassers untergetaucht.“ (S. 123). Sadistische Elemente lassen sich vor allem in dem bei Schlägen üblichen Entkleiden der Kinder, was von diesen selbst als beschämend empfunden wird (vgl. Stenglin 1912, S. 39), im Schlagen auf das nackte Gesäß oder Genitalien (vgl. Mostar 1952, S. 321) oder in Strafritualen vermuten. Eine in Motleys Roman geschilderte öffentliche Züchtigung in einer amerikanischen Besserungsanstalt enthält alle diese Merkmale: „Die Flügeltüren der Aula standen weit offen ...Die Bühne war grell erleuchtet. Da stand eine Bank, die Lederpeitsche lag darauf, schwarz und daumendick, mit einer Schlaufe für die Hand...Das Ganze war unheimlich... Von einem Wächter begleitet, betrat Verwaltungsdirektor Fuller die Bühne ...’Hosen runter’, sagte Fuller. Tom nestelte an seinem Gürtel. Die Hosen fielen herab, ein Häuflein blauer Zwillichfalten. Haut und Knochen die Kinderbeine, das grelle Licht gab unbarmherzig das magere Hinterteil preis... Und Fuller über Tom ...Eine züngelnde Schlange, droht die Peitsche über Toms nackten Lenden. Fuller legt die Peitsche zurück, fast bis auf seinen Rücken. Dann fiel der Schlag -.“ (Motley 1951, S. 53). In dieser Szene wird exemplarisch das völlige Ausgeliefertsein von Heimkindern deutlich. Loosli nennt „die unbeschränkte Machtvollkommenheit“ von Erziehern als Ursache sadistischen Erzieherverhaltens. Vom „Machtkoller“ bis zum „ausgeprägten Sadismus’ sei es nur „ein kleiner Schritt“ (Loosli 1924, S. 123). Institutionelle Strukturen von Heimerziehung wie das Verhältnis von Herrschaft und Unterordnung zwischen Erziehern und Heimkindern scheinen das Auftreten sadistischen Erzieherverhaltens zu ermöglichen und zu begünstigen. Kerscher (1978, S. 40 – 44) bezeichnet „Herrschafts- und Unterwürfigkeitsverhältnisse“ als Voraussetzung für das Entstehen sadistischer Praktiken. „Sadistische Tendenzen“, die bei großen Teilen der Bevölkerung latent vorhanden seien, würden durch Machtstrukturen sozialer Institutionen wie Gefängnissen, Anstalten und Heimen gefördert. „Erziehungssadismus“ als „Einflechten sexuell sadistischer Impulse in Erziehungspraktiken“ sei verstärkt in Fürsorgeheimen zu beobachten. Wenn man mit Kerscher den Zweck von Sadismus als in der „Beherrschung und Erniedrigung des anderen Menschen“ bestehend und sadistische Praktiken als „verbale Demütigung, Beschimpfungen und Erniedrigungen bis hin zu Fesseln, Einsperren und Schlägen“ beschreibt, werden sadistische Komponenten in vielen der von Heimkindern beschriebenen Strafszenen deutlich, auch ohne den ausdrücklichen Vorwurf sadistischen Erzieherverhaltens. Die sexuell-sadistischen Merkmale ihres Verhaltens müssen dabei Erziehern nicht unbedingt bewusst sein. Offiziell wird nicht eigene Lust befriedigt, sondern durch Strafen „Recht und Ordnung“ gesichert oder wiederhergestellt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gesellschaftliche Abgeschlossenheit von Heimen und Machtgefälle im Erziehungsprozess fördernd in bezug auf sexuellsadistische Erziehungspraktiken wirken können. In einer Institution, in dem Kinder Erwachsenen ohne Kontrolle von außen praktisch wehrlos ausgeliefert sind, kann sich pathologisches Verhalten von Erziehern ungehindert entfalten. Öffnung zur Öffentlichkeit und damit erreichte Transparenz von Erziehungsprozessen bzw. das Reduzieren oder Auflösen des Zwangscharakters von Heimerziehung könnten zumindest die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erziehungssadismus reduzieren (vgl. Tausch u. Tausch 1973, S. 275). (Hier befindet sich ein Exkurs auf die Gesetzeslage im damaligen Jugendhilfegesetz. Man müsste event. aktualisieren). Neben durch institutionelle Bedingungen begünstigte pathologische Persönlichkeitsstrukturen von Erziehern wird in der vorliegenden Literatur als weiterer Verursachungsfaktor unpädagogischen Erzieherverhaltens eine mangelhafte fachliche Qualifikation von Erziehern genannt. Viele Reaktionen von Erziehern auf kindliches Verhalten, beispielsweise harte Strafen bei Enuresis (vgl. Bembe 1950, S. 33; Capote 1969, S. 89, 249 – 250; Loosli 1924, s. 124 u. 127; Ziegler 1978 S. 203) oder Fucht (vgl. Bembe 1950, S. 3; Stenglin 1912, S. 39) erscheinen als Ausruck ihrer Hilflosigkeit. Während manchen Erziehern sogar ein ehrliches Bemühen um gute Erziehung der Kinder nicht abgesprochen werden kann (vgl. Aich 1973, S. 307), fehlt ihnen doch offenbar das Wissen um pädagogisch angemessenes Verhalten. Außer Strafen und Schlagen scheinen ihnen keine Handlungsalternativen zur Verfügung zu stehen. Mostar urteilt über einen von ihm angeklagten Erzieher: „Wir sind überzeugt, dass er letztlich aus Schwäche brutal ist, dass er Hiebe anwendet, weil er keine Liebe anzuwenden weiß.“ (1952, S. 303). Auch Stenglin stellt in seinem Roman einen Zusammenhang zwischen dem pädagogischen Versagen und der schlechten Ausbildung des Heimleiters her. „Fritz Brand“, die Hauptperson des Romans, erinnert sich nach seiner Entlassung aus dem Erziehungsheim nur mit äußerster Bitterkeit an die Erziehungsmethoden des Vorstehers „Ungefähr“: „All mein Haß- und Rachegefühl floß zusammen und richtete sich immer mehr auf den, dem ich die größte Schuld an meiner verpfuschten Jugend zuschreiben musste. Er hatte mich erniedrigt und gemißhandelt vom ersten Tage an, da er mich mit hässlichen Worten und jenem Schlag unter das Kinn an der Tür seines grauen Hauses empfing. Er war der Vergifter meiner Kindheit, meines ganzen Lebens.“ (1912, S. 92-93). Brand beschließt, Ungefähr zur Rede zu stellen und dann zu erschießen. Auf Brands Vorwürfe hin bricht Ungefähr zusammen und gesteht: „Ich weiß, dass ich euch nicht erzogen, sondern geknechtet habe. Ich war froh, wenn ich äußerliche Ordnung erzielte und die Revisionen gut vonstatten gingen...“ (S. 99). Sein pädagogisches Versagen erklärt Ungefähr durch seine schlechte Ausbildung und fehlende Eignung zum Beruf eines „Anstaltsleiters“. Der ehemalige Unteroffizier absolviert ein zweijähriges Praktikum in einer größeren Erziehungsanstalt. Danach kann er „wie ein Pastor beten und wie ein Lehrer reden und wie ein Unteroffizier kommandieren.“ (S. 98). Zusammen mit seiner Frau übernimmt er die Leitung einer „Zwangserziehungsanstalt“ und scheitert alsbald im praktischen Umgang mit den Kindern: „Wir fanden störrische, unberechenbare, unglückselige Naturen, die wir nicht zu nehmen verstanden.“ (ebda.) Es entsteht ein Teufelskreis aus dem Versuch Ungefährs, mit Gewalt Ordnung zu schaffen, und dem Widerstand der Kinder: „Es war, als ob wir uns gegenseitig aneinander hart machten, meine Pfleglinge und ich.“ (S. 99). Die Geschichte Ungefährs steht exemplarisch für das Leben vieler der in der vorliegenden Literatur beschriebenen Erzieher. Ohne pädagogische Ausbildung scheinen sie den Heimträgern durch eine oft militärische oder polizeiliche Vorbildung geeignet genug zu sein, einen geordneten Ablauf des Heimlebens zu garantieren. Geiger-Gog beschreibt in ihrem Roman einen Erzieher als „ehemaligen Feldwebel“: „Für die Jungen ist er gerade recht: zuhauen, scharf aufpassen und antreiben, das kann er noch.“ (1929 S. 127 – 128; vgl. Bembe 1950, S. 30; Brosch 1971 s- 65; Genet 1976, S. 87; Gothe/Kippe 1975, S. 70; Noack 1970, S. 68; Ulitz 1929, S. 56; Ziegler 1978, S. 174-175) Da für nicht ausgebildete Erzieher die Arbeit im Heim oft eine sichere Existenzgrundlage darstellt, sind sie bemüht, durch reibungslosen Ablauf des Heimalltags den Heimträger zufrieden zustellen. Fortschrittliche Erzieher werden in solchem System oft als Eindringlinge und Störer der Ordnung empfunden. Sie haben mit Spott und Widerstand sowohl der alteingesessenen Erzieher als auch des Heimträgers zu rechnen, falls sie nicht resignieren und sich dem Heimbetrieb anpassen. (vgl. Brosch 1971, s. 67-68; Forel 1910, S. 25; Geiger-Gog 1927, S. 12 – 13; Gothe/ Kippe 1975, S. 158; Lampel 1929, S. 36-37; Schaffner 1922, s. 241-263; Roth 1973, S. 82; Wilker 1924). Durch demokratisches Verhalten von Erziehern gegenüber Kindern und Jugendlichen kann nämlich Konfliktpotential zutage treten, das bisher durch autoritäre Maßnahmen unterdrückt wurde. Erziehung im Heim kann auf diese Weise zu einem Unruhe stiftenden Problem werden. In Lampels Schauspiel „Revolte im Erziehungshaus“ (1929) wirft ein Pfarrer als Vertreter des Heimträgers dem engagierten „Hospitanten“ vor, den Aufstand der Jugendlichen verursacht zu haben: “Damit auch Sie die volle Wahrheit wissen, diese Ungehörigkeit, die vorging, diese Zerstörung aller Autorität, führe ich in erster Linie auf Ihre Tätigkeit zurück... zersetzende Kritik, die alles ‚runterreißt’. Schwülstige Ideologie, und bei lauter Phrasen keinen vernünftigen Vorschlag.“ (S. 133) Im Falle des fortschrittlichen Heimversuchs des Erziehers Varlegen (Glaser 1953) mit einem Erzieherteam, das der Naturfreundebewegung nahe steht, wird sogar bewusst von Seiten der Behörde ein fachfremder konservativer „Hausvater“ („ehemaliger Feldwebel oder Schlächter“, S. 44) eingestellt, um die Erziehungsarbeit zu kontrollieren und zu behindern. (vgl. ebda. S. 45 ff.) Ein unausgebildeter Erzieher wird in Glasers Roman als Komplize und ausführendes Organ einer konservativen Fürsorgebürokratie dargestellt. Fehlendes Fachwissen und mangelnder Einblick in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge garantieren seine Hörigkeit gegenüber Vorgesetzten und bedingen sein autoritäres Verhalten den Jugendlichen gegenüber. (vgl. Gothe/Kippe 1975, S. 157-158) Auch Koenig/Pelster deuten in ihrer 1978 veröffentlichten Fallstudie über die Entwicklung eines Mädchenerziehungsheimes den Einsatz unqualifizierten und fachfremden Personals als gezielte Maßnahme des Heimträgers, den Heimbetrieb, der durch vorübergehende Demokratisierung in Unordnung geraten ist, unter Kontrolle zu bekommen. „Denn es darf nicht übersehen werden, dass ein nicht qualifiziertes Erzieherteam administrativer Willkür aus faktischer Autoritätsangst und ohne fachliche Handlungsalternativen nichts entgegensetzen kann. Zudem resultiert aus fehlendem Wissen um die Gesamtproblematik von Devianz und Sozialisationsbedingungen der Institution eine Art von Hilflosigkeit, die selbst wieder zu autoritären Methoden greift.“ (ebda, S. 170 – 171) Auf Fachwissen gegründetes Engagement von Erziehern kann nach Koenig/Pelster demgegenüber zu einer Erziehungspraxis führen, die sich durch Kritikfähigkeit gegenüber Obrigkeit und durch Parteinahme für die Interessen der Betroffenen auszeichnet. Qualifizierte Erzieher werden so für die Gesellschaft auch zu einem unruhe-stiftenden Faktor. Die Feststellung, autoritäres Erzieherverhalten resultiere aus mangelhafter fachlicher Qualifikation, muss deshalb in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Funktionszuweisungen an Heimerziehung gesehen werden. Wenn man die Klagen über den Einsatz fachfremden Personals in Heimen der Gegenwart ernst nehmen will (vgl. Koenig/Pelster 1978, s. 94; Roth 1973, S. 75; Kluge 1979, S. 5; Späth 1979, S. 15) muss man mit Koenig/Pelster die Frage stellen, ob nicht „der Anspruch von Fachlichkeit eben doch immer wieder gegenüber einer Kasernierungsfunktion der Heimerziehung nachrangig ist.“ (S. 170) Erst wenn sich die Grundeinstellung der Gesellschaft gegenüber ihren Außenseitern ändert, Heime nicht mehr als Instrument der Absonderung und Garant von Ruhe und Ordnung angesehen werden, sondern das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen Maßstab aller Maßnahmen wird, kann der Ruf nach qualifizierten Erziehern, deren Fachlichkeit „parteilich ist im Sinne der Betroffenen“ (ebda., S. 202), Gehör finden. Negatives Erzieherverhalten tritt auch als Fehlhandlung von ansonsten positiv dargestellten Erziehern in besonderen Stresssituationen auf. Dabei kann es sich sowohl um durch Überlastung bedingte unterlassene Handlungen von Erziehern (vgl. Eberhard 1931, S. 147) als auch um unbedachte und unkontrollierte Reaktionen im Affekt handeln. Selbst Makarenko (1937) berichtet von einer Ohrfeige in gespannter Erziehungssituation als „pädagogischem Ausrutscher“ (1969, S. 12-13). Während jedoch bei ihm die in einer Ausnahmesituation erteilte Ohrfeige keine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung des betroffenen Jugendlichen hat, schildert Aerde in seinem Roman, wie durch pädagogisches Fehlverhalten die mühsam eingeleitete positive Entwicklung eines Heimjungen ins Gegenteil verkehrt wird. Aerdes Darstellung zeigt anschaulich die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Jungen einer Heimgruppe und einem sonst beliebten Erzieher, die durch dessen Überlastung hervorgerufen wird. Durch ein neben der Erziehungsarbeit ablaufendes Fortbildungsprogramm gerät der Erzieher „Smeets“ unter Prüfungsstress. Er vernachlässigt die Gruppe und verhält sich nervös und gereizt den Jugendlichen gegenüber. Die Jungen wiederum, die die Ursachen des Erzieherverhaltens nicht kennen, reagieren durch Aggressivität und Widerstand. Die Interaktionen steigern sich zur Kumulation negativer Verhaltensweisen und Gegenreaktionen auf beiden Seiten: „Ihr (der Heimjungen, Anm. d. Verf.) passiver Widerstand reizte ihn (den Erzieher, Anm. d. Verf.) mehr und mehr, und so drehten sie sich in einem Kreise und verdarben sich gegenseitig die Laune; je unberechenbarer er wurde, desto widerborstiger wurden die Jungen; das machte ihn unverträglicher und die Gruppe reagierte mit noch größerer Widerborstigkeit.“ (ebda. S. 174). Die gespannte Atmosphäre entlädt sich schließlich in einem wechselseitigen Ausbruch des aufgestauten Unbehagens, in dessen Verlauf die Hauptperson des Romans Hans ungerechtfertigt eine Ohrfeige von Smeets erhält, mit einer Reißschiene zurückschlägt und Smeets erheblich verletzt. Obwohl sich alle Beteiligten über die wirklichen Zusammenhänge im Klaren sind, wird doch allein Hans bestraft, und zwar mit dem Entzug des langersehnten Heimaturlaubs. Heimalltag und die besondere Lebenssituation des Jugendlichen wirken nun konfliktverschärfend und führen zu seiner Flucht aus dem Heim. „Mit dem Leiter, mit dem er sich überworfen hatte, saß er bei Tisch, und er saß mit ihm im Tagesraum. Alles erinnerte ihn an seinen Verdruß und an das Unrecht. Das ganze Lager war ihm plötzlich zuwider. Ein Schuljunge hatte um vier und ein Lehrling um fünf Uhr frei, und so sehr er sich geärgert haben mochte, bis zum nächsten Morgen hatte er nichts mehr damit zu schaffen. Hier hatte man immer damit zu schaffen, man war zusammen bis man schlafen ging. Einmal in acht Wochen hatte man einen Samstag und Sonntag frei, durfte man nach Hause. Und das hatten sie ihm genommen...Aber das nahm er nicht hin.“(ebda, S. 184) Hans wird nach seinem Fluchtversuch in ein geschlossenes Heim eingewiesen. Er ist verbittert, seine bis zum Zwischenfall mit Smeets positive soziale Entwicklung ist gestoppt. Aerde will mit seiner Darstellung deutlich machen, welch empfindliche Wirkungen an sich kleine Vorkommnisse, wie hier die anfänglich eigentlich unbedeutende Nervosität des Gruppenerziehers, durch den besonderen Charakter von Heimerziehung erhalten. Heimalltag, institutioneller Charakter der Erziehung, Biographie und aktuelle Lebenssituation eines Heimkindes bedingen in Wechselwirkung die Potenzierung der Resultate negativen Erzieherverhaltens. Neben der Forderung nach Regelungen der Arbeitsbedingungen von Heimerziehern, die beruflichen Stress als Ursache unpädagogischen Verhaltens ausschließen, zeigen die hier dargestellten Zusammenhänge, welch immense destruktive Wirkung pädagogisches Fehlverhalten auf die von ihm Betroffenen hat. Die Frage nach den Reaktionen von Heimkindern und –jugendlichen auf unpädagogisches Erzieherverhalten erhält so besonderes Gewicht. Es muss untersucht werden, welche Verhaltensweisen solche Kinder und Jugendlichen zeigen, die überwiegend strafenden und sich autoritär und gewalttätig verhaltenden Erziehern ausgeliefert sind. Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, dass eine einfache Kausalbeziehung zwischen Erzieherverhalten und Reaktionen der Betroffenen bestehe. Alle beschriebenen Interaktionsabläufe müssen im großen Zusammenhang der Wirkungen verschiedener Faktoren wie Ist-Lage der Kinder, Zielvorstellungen der Heimerzieher, Gesamtatmosphäre und Gruppenbeziehungen der Kinder betrachtet werden. In den als negativ dargestellten Erziehungsverhältnissen können keine vertrauensvollen Beziehungen zwischen den Erziehenden und Jugendlichen entstehen. Solche Grundlage einer positiv verlaufenden Sozialisation kommt wegen der autoritären Machtausübung der Erzieher nicht zustande. Die Kinder und Jugendlichen reagieren auf Versuche rigider Anpassung auf emotionaler Ebene mit Gefühlen von Verachtung bis zu körperlichem Ekel (Ossowsky 1967, s. 30; Genet 1976, S. 93) Angst und Misstrauen (Geiger-Gog 1929, S. 130; Honegger 1974. S. 11, 19, Ulitz 1929, S. 61-62, 232 ff.) und v.a. Hass (Bembe 1950, S. 30; Castillo 1958, S. 137; Geiger-Gog 1929, S. 14; Honegger 1974, S. 100-101; Loosli 1924, S. 121; Motley 1951, S. 54, Noack 1970, S. 91; Ossowsky 1967, S. 227; Stenglin 1912, S. 23, 40 ff., 92, 93; Schaffner 1922, s. 128; Webster 1948, s. 48; Weinheber 1923, S. 123, 227; Werner 1969, S. 148; Ulitz 1928, S. 113 ff.) Hass und Rachegefühle gegenüber Erziehern, von denen sie sich misshandelt, unterdrückt und gedemütigt fühlen, sind oft einzige Grundlage des Denkens und Handelns vieler der beschriebenen Heimkinder. Der Hass äußert sich in manchen Fällen in einer gegen das gesamte Heim gerichteten Aggression. Sie wünschen sich, die Institution in die Luft zu sprengen oder anzuzünden. Bei tatsächlichem Brand würde Freude empfunden: „Darin waren wir uns fast alle einig, dass es das Schönste wäre, wenn das Institut niederbrennen würde. Dann würden wir ja vielleicht wohl frei und brauchten von den Aufsehern und Gitterfenstern nichts mehr zu wissen.“ (Forel 1910, S. 49; Brosch 1971, S. 53; Fichte 1965, S. 48-49; Gothe/Kippe 1975, S. 21; Honegger 1974, S. 164; Leitgeb 1948, S. 183; Stenglin 1912, S. 54, 69; vgl. die gegenteiligen Gefühle von „Trauer und Verzweiflung beim Brand eines positiv dargestellten Heimes, Bjelych/Pantelejew 1929, S. 214). Es geht bei diesen Zerstörungsphantasien neben dem Bedürfnis nach Rache vor allem um die Hoffnung auf Befreiung. Das Ziel, sich der Zwangserziehung zu entziehen, ist Inhalt vieler Aktionen und Phantasien von Heimkindern. Sehnsucht nach Freiheit, oft verbunden mit Heimweh, kann als Ursache der zahlreich beschriebenen Fluchtversuche angesehen werden. Oft werden als ungerecht empfundene Verhaltensweisen von Erziehern oder Angst vor Strafe zum auslösenden Moment der Flucht von Heimkindern. (vgl. Brosch 1971, S. 14; Cousins 1955, S. 42; Erhard 1931, S. 129,130, 143; Geiger-Gog 1929, S. 137; Gothe/Kippe 1975, S. 17; Lampel 1929a, S. 47, 171; Leitgeb 1948, S. 164, 165; Meinhof 1971, S. 16; Mostar 1952, S. 302; Motley 1951, S. 49 ff., Ossowsky 1974, S. 35, 102; Stenglin 1912, S. 37, 52; Werner 1969, S. 7) Obwohl die Flucht meist früher oder später scheitert, wird sie von den Kindern ständig wiederholt. Der Zeitpunkt ihrer regulären Entlassung erscheint ihnen unerträglich weit entfernt. Fluchtpläne bilden ein Element der Hoffnung im bedrängenden Heimalltag. Brosch nennt Flucht eine Form der Revolte (1971, S. 46). Durch Flucht, den Versuch sich zu entziehen, dokumentieren Heimkinder Widerstand gegenüber übermächtigen Erziehern. Diesen kann man als Versuch definieren, die eigene Persönlichkeit vor Zugriffen von außen zu schützen. Den Angriffen auf ihr Selbst durch eine auf Zwang und Anpassung basierende Erziehung begegnen Kinder und Jugendliche durch Verteidigung. Flucht ist dabei nur eine Möglichkeit von Widerstand. Eine weitere ist der verbale Protest. Er kann offen oder versteckt sein. Manchmal dient er dem bloßen Zweck, darzustellen, dass man trotz äußeren Scheins eben noch nicht angepasst ist, sondern eine eigene unverwechselbare Persönlichkeit hat, so z.B., wenn ein Heimjunge statt „Gott grüße Sie!“ „Kikeriki“ bei der Begrüßung des Heimleiters ruft (Ulitz 1928, S. 69) oder Heimkinder am Schluss des Abendgebetes „Ende“ statt „Amen“ sagen (Genet 1976, S. 102). In Noacks Roman antworten die Jungen auf die Frage des Heimleiters Katz, wie ihnen das Essen geschmeckt habe: „Jawohl, Herr Katz, na ja es geht, frag nicht so blöd, danke Herr Katz, Schlangenfraß ...“ (1970, S. 66). All diese Äußerungen bleiben für die Erzieher unhörbar, sie gehen im allgemeinen Gemurmel unter. Die Darstellung des Widerstandes erfolgt nur gegenüber sich selbst und den Kameraden. Offenkundiger wird der Protest, wenn er auch für die Erwachsenen hörbar ist, gerade an sie gerichtet wird. Im Cremers Roman antwortet der Heimjunge Jan anlässlich einer offiziellen Besichtigung des Heimes auf die Frage, wo er gewesen sei: „Ich komm’ gerade vom Scheißhaus. Da hab’ ich die Scheißkrusten von Rand weggepisst, verdammt noch mal!“ (1964, S. 53). Diese provokative Äußerung Jans richtet sich gegen die Versuche einer Erzieherin, ihn durch Prügel zu einer vornehmen Sprache zu erziehen (S. 52). Nach vorübergehender Anpassung äußert er bei offizieller Gelegenheit seinen Protest. Er bringt sich in die Situation als der „alte“ Jan ein. Verbalen Protest als Ausdruck der Selbstbehauptung schildert auch Motley. Ein Junge erklärt nach einer schweren körperlichen Züchtigung dem Heimleiter, er, der Junge, habe „mehr Arsch als er (der Heimleiter, Anm. d. Verf.) Peitsche“ (1951, S. 45). Diese Äußerung als Demonstration eigener Kraft ist gekoppelt mit einer Form von passivem Widerstand, der darin besteht, harte Strafe, ohne um Gnade zu bitten, stumm zu ertragen. (vgl. Schaffner 1922, S. 69; Stenglin 1912, S. 46). Oft werden Erzieher unter Inkaufnahme von Strafen von Heimkindern bewusst provoziert oder es wird ihnen der Gehorsam verweigert. Der Ärger der Erzieher über das Verhalten der Kinder ist diesen dabei Triumph, sie fühlen sich ihnen überlegen: „Hatte ich dann Herrn Ungefähr, seine Frau und Herrn Braun in Ärger und Wut versetzt, dann war eine stille und grimmige Freude in mir.“ (Stenglin 1912, S. 42). Motive für Gehorsamsverweigerung können auch dadurch entstehen, dass Heimpersonal Kinder besonders provoziert und verletzt, wie z.B. ein Erzieher in Geiger-Gogs Roman, der die zahme Taube der Heimkinder tötet: „Man hatte ihnen mehr genommen als nur die Taube, die Buben fühlten es wohl. Darum waren sie böse heut und störrisch.“ (1929, S. 136). In einem anderen Fall versuchen Heimkinder durch passiven Widerstand die Entlassung eines beliebten Erziehers zu verhindern (Forel 1910, S. 26, 27) oder Kameraden aus dem Arrest zu befreien (Meinhof 1971, S. 56-57). Gehorsamsverweigerung als Protest gegen konkrete Missstände im Heim schildert auch Noack. Die Kritik gegen das Gesamtverhalten eines Gruppenerziehers konzentriert sich dabei auf dessen demütigende Gewohnheit, die Heimjungen mit Hundenamen anzureden. Nach der Aufforderung durch den Erzieher, das Tischgebet zu sprechen, beginnt Jochen, der Anführer des Protestes, zu bellen. Die anderen Jungen stimmen ein: „Die Meute ließ sich nicht zum Schweigen bringen, auch wenn einige sich duckten wie Hunde unter der Peitsche. Sie kläfften dem Erzieher ihren Zorn entgegen, ihren Haß, ihre Verachtung, ihre Auflehnung gegen eine beständige Demütigung“ (Noack 1970, S. 89). In dem hier beschriebenen Fall enthält der Widerstand nicht nur Elemente der Verweigerung. In den Formen ihres Protestes, z.B. dem Gebell, werden die Jugendlichen selbst erfinderisch. Viele der Betroffenen entfalten im Ausdruck ihres Widerstandes besondere Fähigkeiten. Sie werden aktiv und konstruktiv inmitten des sonst langweiligen und eintönigen Heimalltags. Beispiele für phantasievolle und kreative Formen des Widerstands sind Geheimbünde mit besonderen Ritualen und Symbolen (Ulitz 1928; Schaffner 1922) oder Lieder und Gedichte (Behan 1958, S. 336,337; Gothe/Kippe 1975, S. 23; Lampel 1929a, S. 164-167; Meinhof 1971, S. 27, 58; Ulitz 1928, S. 148). Als kreative Formen von Widerstand kann man auch die hier untersuchten autobiographischen Veröffentlichungen ehemaliger Heimkinder werten. Im gewalttätigen Widerstand, der offenen Revolte, überwiegen demgegenüber Aggressivität und Zerstörung. Revolten entstehen als individuelle oder kollektive Reaktionen, wenn die Situation als nicht länger tragbar empfunden wird. Werner berichtet: „Ich schlug zurück. Vor lauter Haß und Ekel wusste ich nicht mehr, was ich tat. Ewig bekam ich Schläge, ich hielt es einfach nicht mehr aus.“ (1969, S. 12) Revolten stellen sich dar als spontanes Zurückschlagen, als plötzlicher Ausbruch langaufgestauter Aggressionen. (vgl. Brosch 1971, S. 14; Genet 1976, s. 235; Glaser 1953, S. 46 ff.; Lampel 1929a, S. 170; 1979b, S. 86 ff.; Stanley 1911, S. 34). Der Erfolg einer Revolte als gewünschte Änderung von Erziehungspraxis eines Heimes wird nur von Ulitz erwähnt (1928, S. 221 ff.). Meist werden Aufstände von staatlichen Ordnungskräften niedergeschlagen und ihre Anführer bestraft. Angesichts der überwiegenden Erfolglosigkeit des Widerstandes stellt Meinhof in ihrem Schauspiel den Sinn bisheriger Formen von Revolten in Frage. Grundsätzlich bejaht sie Widerstand, denn „wer sich fügt, wird fertiggemacht.“ (1971, S. 94). Sie schlägt jedoch statt diffusen aggressiven Protesten eine gezielte Anprangerung von Missständen als alternative Form des Widerstands vor: „Dann muß man ebend reden, viel mehr reden, warum wir das machen, was wir wollen - ...“ (ebda.) Durch konstruktiven Protest hoffen die Heimmädchen auch, die Solidarisierung einer ihnen wohlgesonnenen Erzieherin zu erreichen: „Wenn wir wüssten, was wir wollen, könnte Frau Lack sich auch für uns entscheiden“ (ebda.). Auch Schaffner stellt eine Form erfolgreichen alternativen Widerstands dar. Gegenüber seinem eigenen trotzigen aber sinnlosen Protest gegen die Heimpraxis, erscheint der diplomatische Widerstand der kleinen Marie als Gegenbild. Durch geschickte Aktionen, Sympathien einzelner Erzieher für ihre Ziele einsetzend, erreicht Marie Verbesserungen des Heimalltags, die vor ihrem Auftreten undenkbar gewesen wären (1922, S. 120 ff.). Marie erscheint jedoch in Schaffners autobiographischem Roman als irreale Gestalt. So plötzlich, wie sie aufgetaucht ist, verschwindet sie wieder aus dem Leben der Erzieher und Kinder. Sie ertrinkt in einem nahen Fluss. Ihr Auftreten, ihre Persönlichkeit und ihre Erfolge wirken im Vergleich zum Alltag eigentlich nur als bezaubernde Wunschbilder, wie auch der bei Meinhof geäußerte Ausblick auf konstruktiven Widerstand und Solidarität in die Zukunft weist. Realität ist gegenüber derartigen Wünschen nach Veränderung die Erfahrung, dass rigide Erziehung stärker bleibt als der Widerstand gegen sie. Nach vergeblichem Protest und den Versuchen, sich dem Zwang zur Anpassung zu widersetzen, zeigen viele der beschriebenen Kinder und Jugendlichen Reaktionen von Resignation, Leere und Abgestumpftheit (vgl. Forel 1910, s. 47; Noack 1970, S. 152; Stenglin 1912, s. 72,73). Aus Selbsterhaltungstrieb passen sie sich dem Heimbetrieb an, versuchen nicht mehr aufzufallen oder günstige Positionen innerhalb der Heimhierarchie zu erreichen. Ein erfahrener Heiminsasse rät beispielsweise einem Neuling im Heim: „Kriech dem Alten (Heimleiter, Anm. d. Verf.) hinten hinein, und deine Chancen steigen.“ (Honegger 1972, S. 166). Kinder und Jugendliche werden bei den Versuchen ihrer Anpassung manchmal zu aktiven oder passiven Helfern der von ihnen eigentlich verachteten Erzieher. Ziegler beschreibt als Ergebnis der Aufgabe des Widerstandes und des Schweigens angesichts erkannten Unrechts den Verlust von Persönlichkeit und Selbstachtung. Thomas berichtet aus einem Heim: „Ich tat, was man von mir verlangte, protestierte nicht mehr, setzte mich auch gegen nichts mehr zur Wehr... Das Schlimmste war für mich, dass ich meine Selbstachtung verlor... Ich war dabei, als Diethelm einen Zögling mit dem Kopf gegen die Wand schlug, ... aber ich schwieg, ich schaute weg und dachte, hoffentlich lässt der Kerl mich in Ruhe.“ (1978, S. 245-246). Die Verursacher der Hassgefühle, die Erzieher, sind also aufgrund ihrer Machtposition für die Betroffenen unerreichbar. Ihnen gegenüber müssen sich die Kinder und Jugendlichen beherrschen, schweigen und Zustimmung heucheln. Aufgestaute Aggressionen richten sich deshalb in Form von zerstörerischen Handlungen ersatzweise gegen Sachen, schwächere Kinder oder Unbeteiligte. Der Heimjunge Fritz Brand berichtet: „Ich hatte mich während der Prügel so übermenschlich bezwungen, fest zu bleiben, und es war ein solcher Aufruhr in mir, dass ich unwiderstehlich getrieben wurde zu zerstören, was mir gerade vor die Finger kam.“ (Stenglin 1912, S. 46; vgl. Ulitz 1928, S. 129; Brosch 1971, S. 14). Fritz zerschlägt in solcher Stimmung ein Fenster, misshandelt einen Kameraden und beschimpft ein kleines Mädchen. (ebda., S. 74,75). Negatives Erzieherverhalten kann also soziale Beziehungen zwischen Heimkindern und ihrer sozialen Umwelt verschlechtern und letztlich eine feindselige Einstellung gegenüber der Gesellschaft bedingen. In Capotes Roman wird ein eigentlich unmotivierter Mord an einer Familie als stellvertretende Tötung aller Unterdrücker des ehemaligen Heimkindes Perry, zu denen auch Erziehrinnen in verschiedenen Kinderheimen gehören, gedeutet. Perry erzählt: „Und es hatte mit den Clutters eigentlich überhaupt nichts zu tun. Sie haben mir nie etwas zuleide getan. Wie die andern. All die andern, die mich mein Leben lang getriezt haben. Und vielleicht waren es eben die Clutters, die dafür büßen mußten.“ (1969, S. 263; vgl. S. 89). Auch in Motleys Roman werden Unterdrückungserlebnisse in einer „Besserungsanstalt“ als eine der Ursachen eines späteren Mordes genannt. Die Aggressionen des Jugendlichen Nick sind jedoch nicht allgemein auf Gesellschaft, sondern gezielt auf Vertreter von „Gesetz und Ordnung“ gerichtet. Der Ermordete ist folgerichtig ein Polizist. Im Anschluss an die schon zitierte Bestrafung seinen Freundes Tom entsteht in Nick eine Trotz- und Hasshaltung, die zur Grundlage seines späteren Handelns wird: „Was auch geschieht, ob er wieder nach Haus kommt oder nicht – er will keine Verzeihung, er bereut nicht. Er hält zu Tom, durch dick und dünn. Er bessert sich nicht. Mit eigenen Augen hatte Nick gesehen, wie erwachsene Männer mit Kindern umgingen. Von nun an haßte er Gesetz und Ordnung, Fuller und seinesgleichen. Ein für allemal.“ (1951, S. 54; vgl. S. 88, 92, 165, 387, 389). Diese Beispiele machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche durch eine extrem autoritäre und persönlichkeitsverletzende Behandlung zu gesellschaftsfeindlichen und kriminellen Verhaltensweisen gedrängt werden können. Loosli prangert an: „Wessen Gefühle vergewaltigt und unterdrückt werden, der verliert das sinnliche, damit aber auch das sittliche Unterscheidungsvermögen; der ist, im buchstäblichen Sinne des Wortes, zu allem und jedem fähig.“ (1924, S. 75) Außer dieser extrovertierten Form von Aggression, die letztlich jedoch durch die folgende Bestrafung der kriminellen Handlung mit der Destruktion der eigenen Person endet (vgl. Bembe 1950; Capote 1969; Motley 1951) wird in der untersuchten Literatur noch von einer anderen destruktiven Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse im Heim berichtet. Die Aggression richtet sich dabei gegen die eigene Person in Form von Suizidplänen, Suizid und Selbstverstümmelungen (vgl. Bembe 1950, S. 34; Castillo 1958, S. 141; Gothe/Kippe 1975 S. 53, 54; Honegger 1974, S. 144,115; Lampel 1929, S. 206; Loosli 1924, S. 126; Stenglin 1912, S. 39, 72; Ziegler 1978, S. 205-207). Autoaggression wird als endgültigste Form des Widerstandes und Protestes gedeutet. Ein Heimjunge phantasiert: „Am liebsten möchte ich sterben!... Alle müßten sterben! Achtzig Waisenkinder in einer Nacht gestorben. Da würden die Leute Augen machen, da würden die Zeitungen aber schreiben! Und dann müsste man den Zettel finden. Wir haben uns ermordet, weil es nicht mehr auszuhalten war.“ (Ulitz 1928, S. 135) Parallel zu einer Ausweitung negativer Gefühle auf nahestehende Personen, die man z.B. bei Castillo (1958, S. 141 – 143), Motley (1951, S. 54), Noack (1970, S. 152) beschrieben findet, können sich als Steigerung Zerstörungswünsche gegen geliebte Lebewesen (Menschen oder Tiere) richten. In Versuchen, sich dadurch selbst Schmerz zuzufügen, finden sich Elemente von Autoaggression. Z.B. zerreißt in Rantzaus Roman der Heimjunge Hannes einen von ihm selbst aufgezogenen geliebten Hasen, als er sich und das Tier von dem misstrauischen Heimleiter „Pastor Möller“ durch das Schiebefenster seiner Zellentür beobachtet fühlt. Der Protest des Jungen richtet sich gegen das unsensible Verhalten des Heimleiters, der selbst von dem intimen Glück des Jungen, den Ansätzen positiver Gefühle in seiner Neugier keinen Halt macht. Rantzau beschreibt die Motivation zur Tötung des Tieres: „Da war es wieder, das Leben! Da kältete es herein: übelwollend, erhaben und spöttisch, nahm ihm die kleine Zärtlichkeit, an der er sein kärgliches Dasein erwärmte, und fesselte ihn von neuem an die alten Bitternisse! Was Hannes Rüper in diesem Augenblick der brennendsten Scham und des tiefsten Hasses überkam, ... war fern von Grausamkeit und kalter Überlegung. Blinder Zorn führte ihm die Hände wie einem leidenschaftlichen Kind, das in ohnmächtigem Trotz sein Spielzeug selber zerbricht, um den Rachegefühlen in sich Genüge zu tun. Ein hämischer Drang riß ihn fort, den Lauscher zu entsetzen, der Gier seines Blickes mit dem Schauspiel höchster Gemeinheit aufzuwarten, dem Raub an der kostbaren Heimlichkeit seines Eigentums durch Zerstörung zu begegnen.“ (1931, S. 219: die Tötung des Hasen steht stellvertretend für die Destruktion positiver Elemente der eigenen Persönlichkeit. Nach seiner Entlassung reagiert Hannes in ähnlicher Situation, als er sich seiner Geliebten beraubt fühlt, mit völliger Zerstörung seiner selbst. Er begeht Selbstmord. Reaktionen von Heimkindern auf negatives Erzieherverhalten, wie sie hier beschrieben werden, weisen einen hohen Anteil destruktiver Elemente auf. Die Kinder zerstören jedoch nur das vollständig, was von den Erziehern ohnehin schon vernichtet oder unmöglich gemacht worden ist: positive soziale Beziehungen und Gefühle persönlicher Würde. Heimkinder machen mit destruktiven Aktionen aufmerksam auf schon stattgefundene Vernichtung. Ihre Reaktionen sind überwiegend Ausdruck des Protestes und Widerstands, der meist vergeblich bleibt. Die Autoren autobiographischer und belletristischer Literatur beschränken sich in der Mehrzahl nicht nur auf Kritik negativen Erzieherverhaltens. Oft werden Erziehern mit pädagogischem Fehlverhalten positive Gegenbilder gegenübergestellt. Von Bedeutung ist hier, durch welche Verhaltensweisen sich diese Pädagogen und Erwachsenen auszeichnen und von welchen Grundhaltungen ihr erzieherisch positives Verhalten geprägt ist. Es wird deutlich, dass zwischen einerseits positivem Erzieherverhalten in autobiographisch /belletristischer Literatur aus der Sicht von Heimkindern und andererseits Erziehergestalten, wie sie beispielhaft in Literatur über Heimgründer beschreiben werden, Parallelen bestehen. Deshalb wurde besonders an dieser Stelle „Gründerliteratur“ zum Vergleich und zur Verdeutlichung von Tendenzen herangezogen. Koenig/Pelster nennen die „Vermittlung von Selbstbewusstsein“ als Charakteristikum erfolgreicher Interaktionen im Heim (1978, S. 94). Auch im untersuchten Material werden Verhaltensweisen von Erziehern, die Heimkindern das Gefühl vermitteln, etwas wert zu sein und in ihrer Persönlichkeit geachtet zu werden, als positiv hervorgehoben. Von ihrer neuen Hausmutter berichtet z.B. Cousins: „Aber ich kam näher mit Miss Tooting zusammen und gewann mein Selbstvertrauen zurück, als ich spürte, dass sie mich gern hatte.“ (1955, S. 48) „Vermittlung von Selbstbewusstsein“ entspringt also aus einer Grundhaltung von Wertschätzung eines Erziehers Kindern gegenüber. Grundeinstellungen werden nämlich im Erzieherverhalten sichtbar und für Kinder erfahrbar. Die bei Cousins beschriebene Hausmutter ist „ihrem Benehmen nach zu schließen“ gern mit Kindern zusammen (ebda., s. 47). Es ist also von Interesse, in welchen konkreten Verhaltensweisen sich in der untersuchten Literatur „Wertschätzung“ von Erziehern offenbart. Heimkinder empfinden „Wertschätzung“ darin, als Gesprächspartner ernst genommen, also in ihrer Eigenart akzeptiert und respektiert zu werden. Ein bei Lampel zitierter Heimjugendlicher wertet schon die Bereitschaft seines Heimleiters, sich mit den Jugendlichen auf gleicher Ebene zu unterhalten, positiv: „Unser Herr Direktor ist ein ganz famoser Mann, welcher sich mit jedem von uns, sei es auf dem Felde oder sei es auf dem Gutshofe oder sonst wo, unterhält. Herr Direktor von Lichtenberg ganz das Gegenteil. Sein Prinzip war: "Wer was von mir will, kann auf mein Zimmer kommen. Ich hab es doch nicht nötig, mich mit einem Zögling auf dem Hofe hinzustellen!“ (1929a, S. 138). Erzieher, mit denen ein offenes Gespräch möglich ist, werden auch bei Brosch (1971, S. 63), Castillo (1958, S. 178), Koerber (1955, S. 262), Noack 1970, s. 114) und Stenglin(1912, S. 189) lobend hervorgehoben. Als Ausdruck von Wertschätzung wird auch empfunden, wenn Erzieher Individualität zulassen (z.B. Brosch 1971, s. 66, 67) und Kindern und Jugendlichen mit Rücksichtnahme, Distanz und Respekt begegnen. (Brown 1966, s. 111; Rantzau 1931, S. 18 – 22). Positiv bewerten Heimkinder auch Erzieher- verhalten, das als liebevoll und sorgend bezeichnet werden kann. Ronner berichtet in seiner Biographie des englischen Heimgründers Dr. Barnado von einem ehemaligen Kaminfegermädchen, das trotz der Bemühungen seiner Gruppenmutter sich nicht an das Leben in der neuen Umgebung gewöhnen kann: Margaret stört durch ihr destruktives Verhalten die Kindergruppe erheblich: „Alle Kinder im Haus zitterten vor Angst, sobald sie Margaret erblickten...“ (1955, S. 310). Die Gruppenmutter sieht sich schließlich nicht mehr in der Lage, das Kind in der Gruppe zu behalten. Sie berichtet: „Ich war völlig niedergeschlagen und wusste mir nicht mehr zu helfen. Und dennoch rührte mich der Gedanke zu Tränen, Dr. Barnado zu bitten, mich von der Last dieses Kindes zu befreien“ (ebda.). Als Margaret die Gruppenmutter weinen sieht, frag sie nach der Ursache, die ihr diese erklärt: „Sie hörte mir schweigend zu, dann plötzlich schlang sie die Ärmchen um meinen Hals und brach in heftiges Schluchzen aus. Und von Stund an war sie völlig umgewandelt: ihre Anhänglichkeit kannte keine Grenzen.“ (S. 311) Die Veränderung in der Beziehung des Mädchens zu seiner Erzieherin ergibt sich aus Margarets Erfahrung, dass sich die Gruppenmutter sich ihretwegen Sorge macht. Margaret hat begriffen, dass sie für jemand etwas bedeutet, also etwas wert ist. Auch Castillo (1958, S. 186, 187), Cesbron (1954, S. 84-87), Behan (1958, S. 260), Bronté (1949, S. 41), Burmeister (1953, S. 169) und Oursler (1948, S. 79 ff.) beschreiben die liebevolle Haltung von Erziehern, die sich um das Wohl von Kindern bzw. um eine belastbare Beziehung zu ihnen bemühen, als angenehme Erfahrung von Heimkindern. Die Kinder treten zu diesen Erziehern in positiven Kontakt, gewinnen Vertrauen und zeigen positive Verhaltensänderungen. Neben Beweisen allgemeiner Wertschätzung empfinden es Kinder und Jugendlich auch als fördernd, wenn Erzieher Leistungen oder Verhalten würdigen und die Kinder dafür loben. Sie fühlen sich durch eine gerechte Beurteilung ermuntert und gewinnen Selbstvertrauen. Ein Heimkind berichtet über seine beliebte Heimleiterin: „Miss Temple ist full of goodness. She sees my faults, and tells me them gently. When I do anything, she praises me generously.“ (Bronte 1949, S. 35) Pfarrer Heimersdorf zitiert eine ehemalige Bewohnerin seines Zufluchthauses, die ein Lob als Ansporn und Ursache ihrer erfolgreichen Sozialisation beschreibt: „Sie erinnerte mit Ergriffenheit an ein für uns längst vergessenes, kleines Vorkommnis aus der Zeit ihres Hierseins, das für sie von bleibender Bedeutung geworden sei. Eines Nachmittags habe meine Frau sie gelobt, weil sie die Spültücher mit heißem Wasser ausgewaschen und sorgsam aufgehängt habe; das habe noch kein anderes Mädchen so gut gemacht. Durch diese Lob habe sie sich gehoben gefühlt; bisher habe sie immer nur Zurechtweisung und Tadel erfahren; nun habe sie gesehen, dass sie doch auch Gutes leisten könne, wenn sie sich Mühe gebe; und von dem Augenblick an habe sie sich vorgenommen, mit Gottes Hilfe ein anderes, gutes Mädchen zu werden.“ (1927, s. 231). In diesem Beispiel erscheint Lob als ehrliche Anerkennung der selbständigen Leistung eines Kindes. Rantzau erwähnt in ihrem Roman demgegenüber eine Form von Loben, die im Grunde genommen nicht das Kind, sondern den Lobenden selbst meint: „Denn hinter jedem Lob stand der Eigendünkel: seht mein Werk, meinen Einfluß! Mein Beispiel! Lob konnte Hannes Rüper zur Raserei bringen. Und liegt denn nicht auch in jedem Lob ein Stückchen Selbstüberhebung, das gut und böse nach Schablonen zeichnet?“ (1931, S. 35) Lob und Anerkennung können also nur dann als pädagogisch sinnvoll verstanden werden, wenn sie aus positiver Einstellung zum Kind in seiner gesamten Eigenart heraus erteilt werden, wenn Kinder als selbständige Wesen und nicht als Produkt pädagogischer Bemühungen geschätzt werden. Bejahende Grundeinstellung gegenüber der Persönlichkeit von Kindern äußert sich in Erzieherverhalten, das Kindern und Jugendlichen selbständiges Handeln zutraut und ihnen vertrauensvoll Aufgaben überträgt. Positiv beurteilte Erzieher betonen nicht ihre Macht und Überlegenheit, sondern bitten Heimkinder und –jugendliche um Kooperation bei der Gestaltung ihres Heimlebens. (vgl. Behan 1958, S. 207; Bjelych/ Pantelejew 1929, S. 8, 112-115; Koerber 1955, S. 153) Sie lassen Kindern und J ugendlichen bew us s t H andlungs s pielraum, z.B. freien A us gang oder Selbstverwaltung. Diese fühlen sich durch den Vertrauensvorschuss von Seiten ihrer Erzieher geehrt und handeln aus moralischer Verpflichtung heraus, um die ihnen gegenüber so vertrauensvoll eingestellten Erwachsenen nicht zu enttäuschen. (vgl. Aerde 1959, S. 216-217; Koerber 1955, S. 256, 262; Wilkerson 1976, S. 82) Besonders positiv wird von einigen Autoren auch bewertet, wenn Erzieher, statt zu strafen, Kindern Aufgaben übertragen. (Zur grundsätzlich kritischen Einstellung von positiven Erziehergestalten gegenüber Strafen vgl. Burmeister 1953, S. 186; Makarenko 1969, S. 13-14; Oursler 1948, A. 183; Ronner 1955, S. 311; Stenglin 1912, S. 233) In den untersuchten Veröffentlichungen findet man zwei besonders auffallende Beispiele für sinnvolle „Strafen“: Bjelych/Pantelejew berichten, wie nach der öffentlichen Verunglimpfung eines unbeliebten Lehrers durch Schüler der Schulleiter die „Anführer“ zu sich bestellt. Sie haben eine Wandzeitung verfasst, in der sie auf den Lehrer schimpfen und sich über ihn lustig machen. Der Schulleiter bestraft die Jungen nicht, sondern schlägt ihnen vor, eine Schulzeitung herauszugeben. Er begeistert sie für diese Idee. Die Jungen sind überrascht: „’Angenehme Wendung der Dinge!’ rief Jankel in maßloser Begeisterung. ‚Tja’, meinte Japs. ’Eine Aufmunterung und kein Verweis...’“(1929, S. 173) Das pädagogisch geschickte Vorgehen diese Erziehers zeichnet sich durch weitgehendes Ignorieren negativen Schülerverhaltens und Förderung der in ihm enthaltenen positiven Komponenten aus. Die Fähigkeiten der Jungen, die sich in der Verhöhnung des Lehrers nur versteckt geäußert haben, werden als Aufgabe umformuliert. Der Erzieher gibt dem Verhalten der Jungen eine konstruktive Richtung. Einen ähnliche Schilderung gibt Koerber (1955, S. 157). Kinder fühlen sich angesichts solchen Verhaltens nicht einseitig allein negativ beurteilt, sondern in ihrer Gesamtpersönlichkeit umfassend verstanden. Die positive Grundeinstellung „Verständnis zeigen“ steht deshalb in engem Zusammenhang mit der bisher dargestellten Haltung der Wertschätzung. Als verständnisvoll werden Personen beschrieben, die bereit sind, zuzuhören und dabei ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln durch die Bereitschaft, Kinder in ihrer Eigenart als sympathisch anzunehmen. Diese Eigenschaften findet man mehr oder weniger ausgeprägt bei allen positiv beschriebenen Erziehern, vornehmlich aber bei weiblich „mütterlichen“ Personen. Neben verständnisvollen Erziehern (vgl. Cesbron 1954, S. 157 ff; Brown 1966, S. 118 ff.; Brosch 1971, S. 20) werden auch in Heimen beschäftigte Krankenschwestern und Köchinnen genannt, bei denen Kinder Zuflucht finden und sich aussprechen können. (vgl. Honegger 1974, S. 107; Noack 1970, S. 114 ff,; als Beispiel enttäuschter Erwartungen Genet 1976, S. 141-142, 209 ff.) Ungeplant und spontan vermitteln die erwähnten Frauen Heimkindern oft durch ihr „natürliches Verhalten“ emotionale Wärme. Loosli berichtet von der Verzweiflung des kleinen Otto, nachdem er im Heim vom Tod seiner Mutter erfahren hat: Er „lehnte sich im Gang an die Wand, bitterlich weinend, bis die Köchin, die gerade vorbei kam, seiner ansichtig wurde. Sie nahm den Kleinen am Arm und fragte ihn, was ihm fehle ...Da führte sie ihn in der Küche, wischte ihm die Tränen ab und wie sie des Kindes rotgeweinte Augen schaute, fuhr sie mit der verkehrten Hand über das Gesicht, gab dem Kleinen einen teilnahmsvollen Kuß und dann eine Birne.“ (1924, s. 68) Otto fasst infolge dieses Verhaltens große Zuneigung zu der Köchin. (S. 69) Man kann vermuten, dass der Einfluss der außerhalb des eigentlichen Erziehungsverhältnisses stehenden weiblichen Bezugspersonen weitgehend darin begründet ist, dass sie ohne Anspruch an die Kinder herantreten. Die Frauen werden oft als Gegenbilder zu autoritären Erziehern dargestellt, die eine Änderung kindlichen Verhaltens mit Gewalt erzwingen wollen. Auch Rantzau zeichnet mit Anna, der Frau eines strengen Heimleiters, ein solches positives Gegenbild. Anna definiert den Unterschied zwischen ihrem eigenen und dem Verhältnis ihres Mannes zu den Heimjungen: „...wo du schiltst, da möchte ich streicheln, wo du urteilst, möchte ich verstehen“ (1931, S. 70). Anna versucht nicht bewusst, Einfluss auf die Erziehung der Jungen zu nehmen. Rantzau deutet das als Grundlage ihres positiven Verhältnisses zu den Jungen, vor allem zu der Hauptperson des Romans „Hannes Rüper“: „Sie überließ das Erziehen gerne anderen, berufeneren Personen. In dieser unbewussten Passivität lag das Geheimnis ihres Einflusses.“ (S. 70) Annas Verhalten, ihr „kameradschaftliches Verstehen“ (S. 66) entspringen aus einer Ähnlichkeit zwischen der Rollenposition der Heimjungen und ihrer eigenen. Wie Hannes vom Heimleiter fühlt auch sie sich von dem dominierenden Ehemann unterdrückt (S. 77-78). Einen Wutausbruch Hannes’, in dem er blecherne Topfdeckel mit großem Lärm auf den Küchenboden wirft, empfindet sie als Erlösung: „Junge! Tat das gut? Das möchte ich auch manchmal.“ (S. 68) Annas Bewunderung für die Lebensart des Jungen, als sie ihn beim heimliches Verzehren einer gestohlenen Wurst beobachtet, ist Ausdruck ihrer eigenen Sehnsucht nach Freiheit: „Sie bekam einen Begriff davon, dass menschliche Sittengesetze für Wildlinge wie Hannes Rüper ihre Tücken haben ... und zog seufzend eine kleine Parallele zwischen ihrem Leben und dem des Zöglings Rüper. Es ist gewiß köstlich, dachte sie, einmal in das Leben und die Freiheit so urtierhaft, selbstvergessen, uneingeschränkt hineinzubeißen---. (S. 69) Annas so geäußerte Solidarität bleibt für Hannes’ Entwicklung jedoch ohne Nutzen, da sie sich auf „Schweigen und Dulden“ (S. 70) beschränkt und im Leben des Jungen keine aktive Rolle übernimmt. Andere positiv beurteilte Bezugspersonen von Heimkindern zeichnen sich demgegenüber durch Verhaltensweisen aus, die sich als Darstellung bewusster Solidarität mit Heimkindern charakterisieren lassen. Die sich solidarisch verhaltenden Erzieher unterscheiden sich dadurch von den kritisierten, dass es den letzteren meist darum geht, sich gegenüber der Außenwelt „deutlich von den Zöglingen abzusetzen“ (Ahlheim 1972, S. 163). Bewusste Solidarität zeigt sich zum einen in einer Erzieherhaltung, die um die Kinder und Jugendlichen zu verstehen, sich mit ihnen identifiziert, sich auf gleiche Stufe mit ihnen stellt und Gemeinschaft mit ihnen anstrebt. Ein Beispiel, in dem diese Haltung besonders deutlich wird, findet man in einer Veröffentlichung der Gründerliteratur. „Don Vesuvio, der Lumpenpriester von Neapel“, verkleidet sich als „Scugnizzo“, als neapolitanischer Straßenjunge und teilt das Leben diese Kinder, bevor er ihnen mit seinem Heim „Materdei – Casa dello Scugnizzo“ ein Angebot alternativen Lebens macht. (vgl. Borelli/Thorne 1964). Don Vesuvio versucht auf diese Weise, Straßenjungen in ihrer persönlichen Situation zu verstehen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Schließlich beherrscht er so vollkommen die Lebensweise der Scugnizzo, dass sich die Grenzen zwischen seiner Person als Priester und der Verkleidung verwischen. Er stellt fest: „Ich war jetzt gewissermaßen offiziell – ein Scugnizzo“ (S. 93; vgl. S. 10, 11, 172,173). Ähnliche Identifikationen von Erziehern mit Kindern findet man auch in autobiographischen und belletristischen Veröffentlichungen als Kennzeichen solidarischen Handelns von Erziehern vorgestellt. Behan charakterisiert z. B. eine beliebte Erzieherin: „... she was a Borstal boy herself“ (1958, s. 355; vgl. Lampel 1929a, S. 25) Ein weiteres Kennzeichen solidarischen Handelns von Erziehern ist, dass sie für die Kinder und Jugendlichen Partei ergreifen. Allein schon aus der Identifikation entsteht eine Frontstellung gegenüber staatlichen Ordnungsorganen. Die Distanzierung von der offiziellen Staatsgewalt gibt oft erst die Voraussetzung, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. So bekommt David Wilkerson erst aufgrund seiner in der Presse publizierten kurzfristigen Verhaftung Zugang zu den jugendlichen Straßenbanden New Yorks: Weil die „Cops“ weder ihn noch sie leiden können, stellen die Jugendlichen fest: „Er ist einer von uns.“ (1976, S. 16/16, vgl. S. 21). Die Distanzierung von Polizei und staatlicher Gewalt wird als Voraussetzung positiver Beziehungen zu Jugendlichen beschrieben. (ebda. S. 24; Borelli/Thorne 1964, S. 172/173; Ronner 1955, S. 74). Entsprechend stehen die Hilfsangebote dieser Erzieher auch bewusst unter dem Prinzip der Freiwilligkeit. Nicht Zwangseinsweisung steht am Anfang eines Heimaufenthalts, sondern freiwilliger Eintritt in eine Gemeinschaft, die oft alternative Lebensformen praktiziert und sinnvolle Existenz anbietet. (vgl. Borelli/Thorne 1964; Castillo 1958, S. 177 ff.; Davey 1974; Gothe/Kippe 1975, 1976; Heimersdorf 1927; Koerber 1955, s. 252 ff.; Oursler 1948, Ronner 1955; Simon 1954; Wilkerson 1976) Auch in autobiographisch/belletristischer Literatur ergreifen positiv beurteilte Erzieher Partei für Heimkinder gegenüber dem Fürsorgeapparat (Gothe/Kippe 1975, S. 142; Erhard 1931), der Gesellschaft (Behan 1959, s. 208) und autoritären Erziehern (Forel 1910, S. 23-25; Geiger-Gog 1929, S. 11-12; Lampel 1928b, S. 119; Motley 1951, S. 28; Noack 1970, S. 66) Solidarisch handelnde Heimerzieher müssen jedoch mit Sanktionen seitens der Heimleitung rechnen, nicht selten werden sie gezwungen, das Heim zu verlassen. Meinhof stellt den Konflikt, in den solidarische Erzieher geraten können, am Beispiel der Erzieherin Frau Lack vor. Frau Lack, die sich gegenüber der autoritären Heimleiterin Frau Turm für ihre Mädchen einsetzt (1971, S. 31 ff.), ist durch die Machtverhältnisse im Heim immer wieder gezwungen, Kompromisse auch gegen die Interessen der Mädchen einzugehen. Diese fordern jedoch bedingungslose Solidarität: „Die soll mal Farbe bekennen.“ (S. 86) Die Heimmädchen kommen jedoch am Ende des Schauspiels zu dem Schluss, dass erst Wissen um die Ziele ihres Verhaltens, also eine klar formulierte Interessenlage, wirkliche Solidarität möglich machen könnte. (vgl. S. 94) Solidarität beinhaltet also nicht nur Stellungnahme gegen etwas, sondern auch eine gemeinsame Interessenlage, die sich als konstruktive Zielangabe formulieren lässt. Ein echt solidarischer Erzieher müsste also positive Veränderung für die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen anstreben, die eine langfristige Verbesserung ihrer Lebenssituation umfasst. Ein Beispiel falsch verstandener Solidarität, der das Element eines konstruktiven Ziels fehlt, kritisieren Bjelych/Pantelejew in ihrem Heimbericht. „Graf Kossezki“, ein Erzieher und Lehrer betont seine Einigkeit mit den Jungen der Schule, hintergeht mit ihnen zusammen den Heimleiter und beteiligt sich schließlich an einem Essensdiebstahl (1929, s. 150 ff.). Seine Solidarität erscheint den Jugendlichen als plumpe Kameradschaftlichkeit, als bloße Imitation ihres Verhaltens, ohne sich wirklich für sie einzusetzen. Sie werfen ihm vor: „Das sind doch alles bloß Redereien. Sie haben uns schon manches versprochen, und es ist nicht daraus geworden.“ (S. 159) „Sie sind gar kein Lehrer...! Sie sind ein gerissener Gauner!“ (S. 162) Die Verwirklichung wahrer Solidarität stellt demgegenüber Anforderungen sowohl an Erzieher als auch an Kinder und Jugendliche. Sie fordert vom Erzieher Engagement und gezielt Förderung der emotionalen, intellektuellen und sozialen Entwicklung der Kinder, die wiederum das Angebot der Erzieher durch eigene Bereitschaft zum Lernen und eigenem Einsatz beantworten müssen. Schaffner beschreibt ein solches Erziehungsverhältnis unter einem neu eingestellten Heimleiter im Gegensatz zu dem alten vertikalhierarchischen System: „Beim Herrn Vater waren wir bis auf die letzten Tage Vorgesetzte und heimlich revoltierende Untergebene gewesen. Ein solches Verhältnis war im Grund bequem und bot weiter keine Schwierigkeiten. Herr Salis (der neue Heimleiter, Anm. d. Verf.) trat uns mit einer gewissen reifen Bruderschaft gegenüber, und es dauerte ein bisschen lang, bis wir das verstanden und mit gleichem beantworteten.“ (1922, S. 239) „Herr Salis“ und andere positiv beurteilte Erzieher erscheinen als Persönlichkeiten, die selbst vielseitig interessiert sind und ihr Wissen an die Kinder weitergeben. Sie können sich selbst für etwas begeistern und wissen Begeisterung zu übertragen. Sie dienen den Kindern als Berater, Vorbilder und positive Identifikationsangebote (z.B. Aerde 1959, s. 159 ff.; Castillo, 1958, s. 180 ff.; Brosch 1971, s. 151; Cousins 1955, S. 47; Forel 1910, S. 24; Ritter-Bern 1926, s. 33; Stenglin 1912, S. 280; Wilker 1924, S. 76; zu Wunschvorstellungen von Heimkindern in Bezug auf Erzieherverhalten Ritter-Bern 1926, S. 70; Bembe 1950, S. 32). Positives Erzieherverhalten wird also in den untersuchten Veröffentlichungen als wertschätzendes, verstehendes und solidarisches Verhalten beschreiben. Erzieher mit diesen Merkmalen ergreifen grundsätzlich Partei für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen, auch gegenüber Bürokratie, staatlicher Ordnung und Öffentlichkeit, sofern diese die Interessen und Rechte der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigen oder verletzen. Es beinhaltet deshalb in letzter Konsequenz auch politisches Engagement von Erziehern, um bessere Lebensbedingungen für Heimkinder zu verwirklichen. (vgl. Koenig/Pelster 1978) 3.5. Sexualität im Heim Sexualität nimmt in den untersuchten autobiographischen und belletristischen Veröffentlichungen einen weiten Raum ein. Man findet die These Roths bestätigt, der den „Bereich sexueller Aktivitäten der Kinder und Erzieher“ als „wesentlichen“ Bestandteil der gesamten Erziehungsatmosphäre bezeichnet (1973, S. 64). Nach Roths Untersuchungen ist die Verdrängung der Sexualbedürfnisse von Heiminsassen eines der „prägnantesten negativen Erlebnisse im Heim“ (ebda. S. 74). Das vorliegende Material wurde deshalb unter der Fragestellung untersucht, welche sexuellen Bedürfnisse Heimkinder und jugendliche äußern, wie Erzieher auf deren sexuelle Probleme reagieren und in welcher Form Sexualität im Heim manifest wird. Von einigen Autoren werden Verstöße gegen sexuelle Normen als Einweisungsgrund von Kindern oder Jugendlichen angegeben. Sie sind durch homosexuelle oder unerwünschte heterosexuelle Beziehungen aufgefallen, die sie z.T. in anderen Heimen unterhalten haben und deshalb in „strengere Anstalten“ verlegt werden. (vgl. Erhard 1931, S. 133; Gothe/ Kippe 1975 S. 117; Honegger 1974, S. 34 ff; Meinhof 1971, S. 46; Noack 1970, S. 59; Richter 1929, S. 30 ff; Ulitz 1928, S. 174-175; Ziegler 1978, S. 168 ff.) Von einer Hilfe zur Aufarbeitung sexueller Konflikte oder traumatischer Erlebnisse durch Erzieher wird nicht berichtet. Die einzige Ausnahme bildet eine Erzieherin in Meinhofs Schauspiel. (1971, S. 50 – 51). Gothe kritisiert bezogen auf die Erziehung von Mädchen, die wegen „Sexualdelikten“ ins Heim eingewiesen worden sind: „Die sexuelle Erfahrung, die das Mädchen gewöhnlich nur ausgebeutet hat, bleibt unverarbeitet...“ (1970, S. 118; vgl. Rosen 1977, S. 207 – 223). Lampel zweifelt den Sinn von Heimerziehung an, die durch Zwang auf abweichendes Sexualverhalten – z.B. homosexuelle Prostitution reagiert. Erziehung, die mit Gewalt unerwünschtes Verhalten unterdrückt, ist seiner Meinung nach Erziehung zur Heuchelei: „Erst, wenn er (d. „Strichjunge“, Anm. d. Verf.) schwört, geheilt und anständig zu sein, wird die Behörde probeweise die Freiheit wiedergeben. Damit nämlich schafft moralische Bürokratie verwerfliche Veranlagungen aus der Welt.“ (1929a, S. 36). Auch in Zieglers autobiographischem Roman erscheint Heimerziehung als zerstörerische Zwangs-maßnahme im Leben des homosexuellen Jungen Thomas, der aufgrund seiner sexuellen Orientierung ins Heim eingewiesen und dort diskriminierend behandelt wird. Der Gruppenerzieher begrüßt ihn mit den Worten: „Aha, da kommt unser Schwuliger! Etwas sag’ ich dir gleich: Meine Gruppe wird nicht versaut! Wenn du was brauchst, um dich abzureagieren, kannst du dir von mir aus eine Kerze in den Arsch stecken.“ (1978, S. 174). Wie auch in anderen Beispielen wirkt sich hier bei Thomas Heimerziehung nicht konfliktlösend, sondern eher konfliktverschärfend oder -produzierend aus. Am Ende seines Aufenthalts in der Zwangserziehung berichtet er seinem Freund über sein Verhalten, nachdem er den Widerstand gegen die Zwänge des Heims aufgegeben hat: „Du lachst jetzt vielleicht, aber ich habe wie alle anderen Jungen im Geräteschuppen die schwachsinnige Babette bevögelt . . . Ich habe mit den Kollegen gewichst, wenn ich geil war, was ist schon dabei, es tun’s ja doch alle ...“ (ebda. S. 148). Die Gesamtatmosphäre vieler der dargestellten Heime bestätigt diese Vermutung. Das Alltagsleben von Heimkindern erscheint übermäßig sexualisiert. Diese Fixierung der Kinder und Jugendlichen muss als Reaktion auf übertrieben prüdes Verhalten von Heimerziehern gewertet werden. Viele Heime, vor allem aber konfessionelle und von Ordensleuten geführte, sind durch eine Grundhaltung von „Überempfindlichkeit“ (Leitgeb 1948, S. 159) von Erziehern gekennzeichnet. Selbst an strenge Moralvorschriften bzw. Keuschheitsgelübde gebunden, sind nach Leitgeb, Fichte u.a. die beschriebenen Erzieher nicht in der Lage, Körperlichkeit, Sinnlichkeit und sexuellen Bedürfnissen einen angemessenen Stellenwert im Erziehungsprozess einzuräumen. Ihr Verhalten zeichnet sich durch extreme Leibfeindlichkeit aus. In Fichtes Waisenhauserzählung bezeichnen Nonnen die Genitalien der Kinder als „Unkeusches“. Beim Baden müssen kleine Jungen ihren Penis vor den Nonnen mit Leinenlappen bedecken. Genitalien und Sexualität erhalten in den Augen der Kinder den Anschein von Schmutzigem und gleichzeitig Geheimnisvollem. Gespräche und Phantasien drehen sich häufig um das sogenannte „Unkeusche“. (vgl. Fichte 1965, S. 28. 49, 50, 61, 83, 84, 95) Auch Leitgeb beklagt sich in seinem autobiographischen Roman über das unnatürliche Verhalten einer Gruppenschwester, das er als kindlichen Bedürfnissen gegenüber völlig unangemessen kritisiert. Die strengen Verhaltensregeln der Nonne, ihr „gar engelhaftes Getue“ – sie nimmt z.B. in Gegenwart der Kinder keine Nahrung zu sich – reizt die Kinder zu Spott und Phantasien. Um festzustellen, ob die „Mostl“ eine wirkliche Frau mit Brüsten sei, wird ein Plan ausgeheckt: „...einer von den Schlimmsten (wurde) beauftragt, die Schwester so lange zu reizen, bis es Ohrfeigen setze, und dann die abwehrenden Hände geschickt und unauffällig so zu lenken, dass ihnen eine wenigstens oberflächliche Erkundung des umstrittenen Gebietes möglich werde. Das Ergebnis war verblüffend: es befinde sich dort ein flacher Schild aus Pappe, der jedem weiteren Vorwitz den Weg versperre.“ (1948, S. 159; vgl. Cremer 1964, S. 47, 52) Sexuelles Interesse der Kinder und Sexualität verdrängendes Verhalten der Erzieherin stehen in diesem Beispiel in krassem Gegensatz zueinander. Die Kinder erhalten keine wirksame Erziehungshilfe in ihrer sexuell-emotionalen Entwicklung. Es gibt keine Möglichkeit der offenen Äußerung von Fragen, geschweige denn ihrer Beantwortung. Von sexueller Aufklärung wird nicht berichtet. Ein ehemaliges Heimkind erklärt in Jaegers Roman: „Darüber (Geschlechtsverkehr, Anm. d. Verf.) haben sie uns im Kloster nichts gesagt. Nur immer drumherum geredet haben sie, als wäre es das Fürchterlichste, was einem Mädchen passieren könnte.“ (1968, S. 112-113) Die negative Akzentuierung, mit der ihre Erzieher Sexualität versehen, verweist die Kinder in ihrem Wissensdrang an Kameraden. Sexualität erhält durch Tabuisierung den Reiz des „schönen Verbotenen“: „Da wo sich die Einstellung zur Sexualität nur negativ äußert, muß sich jede infantile sexuelle Neugierde im Dunkel schwülstiger Heimlichkeit abspielen.“ (Roth 1973, S. 71) Die Negierung sexueller Problematik beschränkt sich nicht nur auf klerikale Heime. Nur Glaser berichtet von Sexualunterricht im Rahmen von Heimerziehung (1953, S. 36). Für einen Großteil der beschriebenen Heimerzieher ist die Meinung des Anstaltsleiters in Lampels Schauspiel exemplarisch: „Zuallererst müssen die jungen Menschen von jeglicher Berührung mit sexuellen Dingen ferngehalten werden ... Eine Geschlechtsnot gibt es nicht.“ (1929a, S. 51). Derartige Verleugnungspraktiken und die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse stehen in krassem Gegensatz zu den sexuellen Phantasien und Aktivitäten, mit denen sich in vielen der dargestellten Heime Kinder und Jugendliche beschäftigen. Aus koedukativ geführten Heimen werden heterosexuelle Betätigungen der Kinder und Jugendlichen berichtet. Z.B. agieren ältere Mädchen als sexuelle Lehrmeisterinnen für kleinere Jungen. (vgl. Aerde 1959, S. 100; Cremer 1964, S. 49 – 50; Werner 1969, S. 6 – 8). In reinen Jungen – bzw. Mädchenheimen sind die Kontakte gleichgeschlechtlich bzw. beschränken sich die Aktivitäten auf Masturbation. (vgl. Brosch 1971, s. 13; Erhard 1931, S. 207; Genet 1976; Gothe/Kippe 1975, S. 57, 114, 117; Honegger 1974, S. 87, 99; Jaeger 1968, S. 112-113; Lampel 1929a, S. 44 - 45; Leitgeb 1948, S. 211-212; Loosli 1924, S. 116; Meinhof 1971, S. 58; Ossowsky 1967, S. 115-116; Richter 1929, S. 35; Ritter-Bern 1926, S. 65 ff.; Stenglin 1912, S. 22-23) Vor allem die Isolation von der Außenwelt und Verhinderung von Kontakten zum anderen Geschlecht bedingen die Aufnahme homosexueller Beziehungen: „Da wir keine Mädchen haben, müssen wir uns mit uns selber begnügen.“ (Ritter-Bern 1926, S. 65; vgl. Lampel 1929a, S. 44 -45) In Anklang an den von Loosli verwendeten Begriff der „Notonanie“ (S. 117) kann man hier durchaus von „Nothomosexualität“ sprechen. Jugendliche, für deren Alterskameraden außerhalb des Heims sexuelle Beziehungen normal sind bzw. die selbst vor ihrem Heimaufenthalt sexuelle Kontakte hatten, sollen in geschlossenen Heimen zu geschlechtlicher Abstinenz gezwungen werden (vgl. Wilker 1924, S. 44). Gleichgeschlechtliche Kontakte erscheinen in solchen Fällen als durch den Heimaufenthalt bewirktes Stresssymptom. Als weiterer Grund sexueller und homosexueller Beziehungen von Heimkindern und – jugendlichen wird von den Autoren das Gefühl der Einsamkeit im Heim genannt. Da in vielen Fällen Erzieher nicht bereit oder in der Lage sind, Heimkindern Zärtlichkeit und Geborgenheit zu vermitteln, wenden sich diese in ihrem Bedürfnis nach Zuwendung an Kameraden. Werner berichtet: „Ich hatte immer Angst in den Heimen und suchte mir einen Freund, der mich tröstete. Wir legten uns nachts zusammen ins Bett, wo es dann auch zu Spielereien kam.“ (1969, s. 6). Genet deutet gleichermaßen die sexuellen Beziehungen der Heimjungen von „Mettray“ als Reaktion auf Verweigerung emotionaler Zuwendung durch Erzieher. Die Liebe der Kinder wird als Mittel dargestellt, die von Härte und Gewalt geprägte Atmosphäre des Heimes zu ertragen: „Die Liebe, von der die Zöglinge getragen und aufrechterhalten wurden, und die sie einer dem anderen in die Arme trieb, diese Raserei wurde vielleicht noch verklärt durch die Verzweiflung, von jeder anderen Zärtlichkeit und Zuneigung einer Familie ausgeschlossen zu sein.“ (1976, s. 95; vgl. S. 108) Brosch gibt in seinem autobiographischen Heimbericht sexuellen Beziehungen zwischen Heimkindern eine ähnlich positive Deutung. Er beschreibt das Leben in einem Klosterheim als sadomasochistischen Kreis, in dem jeder die erhaltenen Schläge und Quälereien an Schwächere weitergibt. Aus dem Teufelskreis „quälen und gequält werden“ bieten nach Brosch sexuelle Beziehungen zwischen Heimkindern einen Ausweg. Er berichtet: „Mit zwölf Jahren hat Peter sein erstes sexuelles Verhältnis mit einem Jungen. Er merkt plötzlich, dass es noch etwas anderes gibt als Schläge, Böswilligkeit, Hin- und Hergerissenwerden. Er merkt plötzlich, was es bedeuten kann, einen anderen Menschen gern zu haben, zusammen Lust empfinden, glücklich zu sein. Peter . . . erkennt einen Weg aus dem sadomasochistischen Zirkel. Er merkt, dass seine Vereinzelung und sein Abkapseln von den anderen nicht unbedingt total sein muß, dass auch das Gegenteil ein ganz klein wenig möglich ist und glücklich macht.“ (1917, s. 13). Broschs Deutung von Liebesbeziehungen zwischen Heimkindern als „erste(n) Schritt zur Solidarität“ (ebda.) muss jedoch anhand anderer Aussagen der befragten Autoren angezweifelt werden. Sexuelle Beziehungen zwischen Heimkindern sind in der Mehrzahl der beschriebenen Fälle von Gewalt und sexueller Ausbeutung geprägt. „An die Stelle von Zärtlichkeit und Verständnis treten Brutalität und Tücke“ (Gothe/Kippe 1975, S. 44). Brosch selbst berichtet von Peter: „Er als Jüngster wird zunächst von den Älteren gezwungen, jede Nacht bei einem anderen zu schlafen.“ (S. 13). Die Nötigung vor allem jüngerer oder schwächerer aber besonders hübscher Jungen zu sexuellen Kontakten wird von vielen Autoren beschrieben. (Vgl. Castillo 1958, S. 155.156; Erhard 1931, S. 207; Genet 1976, S. 203; Lampel 1929a, S. 23 ff.; Stenglin 1912, S. 23; Ritter-Bern 1926, S. 65 ff.) Sexuelle Beziehungen müssen somit nicht automatisch feste Bindungen, Freundschaften oder gar Solidarität von Heimkindern oder -jugendlichen zur Folge haben. Gothe/Kippe zitieren vielmehr ein Beispiel, in dem eine feste Freundschaft nach der Aufnahme der sexuellen Beziehung zerbricht: „Dann habe ich auch einen guten Freund gefunden im Heim, mit dem klappte es. Das heißt, das war wirklich eine sehr gute Freundschaft, die nachher ziemlich intim wurde. Dann kam es irgendwie zu einer sexuellen Handlung. Das heißt vielmehr sexuelle Spielereien, dass wir gegenseitig so onanierten. Und am anderen Tag haben wir uns verkracht. Wir haben uns also sagenhaft verkracht. Ja warum? Ich glaube, ich konnte ihn nicht mehr sehen, und er mich nicht mehr sehen.“ (1975, S. 58) Die sexuellen Kontakte von Heimkindern und -jugendlichen wirken in den autobiographischen und belletristischen Darstellungen in der Mehrzahl trotz konstruktiver Ansätze zerstörerisch auf die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Erzieher sind nicht in der Lage, ihnen in bezug auf konstruktives Sexualverhalten Berater zu sein. Sexuelle Bedürfnisse und Erlebnisse im Heim bleiben oft unverarbeitet. In Honeggers Roman beschreibt ein Heimjunge die sexuelle Problematik des Heimlebens: „...keiner ist im Heim wie mein Freund Ernst . . . Sie sind alle nervös, die ganze Nacht hindurch ist ein Kommen und Gehen . . . sie poltern, kichern, und sie liegen zu zweit oder zu dritt in den Betten . . . Niemand sagt etwas, niemand kommt und erklärt uns, was da geschieht. . .“(1974, S. 99). Erzieher bieten keine Hilfen zur Verarbeitung des Erlebten. Honegger fährt fort: „ . . .die Lehrer prügeln, wenn sie sie erwischen.“ (ebda.) Auf jegliche Entdeckung einer Äußerung sexueller Bedürfnisse im weitesten Sinn, angefangen bei Versuchen von Heimjungen mit Mädchen in Kontakt zu treten (vgl. Stenglin 1912, S. 24; Leitgeb 1948, S. 147) bis zur Masturbation und sexuellen Beziehungen reagieren Erzieher vielmehr mit moralischer Verurteilung und harten Strafen. (vgl. Brosch 1971, S. 13; Meinhof 1971, S. 45; Noack 1970, S. 59, 78; Ulitz 1928, S. 174-175) Die Haltung vieler Erzieher zeichnet sich einerseits durch Ignorieren der offenkundigen Existenz sexueller Problematik aus: „Die oben behaupten, das wäre gar nicht wahr.“ (Lampel 1929b, S. 52). Loosli wird durch solche Praxis zu der Vermutung verleitet, Onanie im Heim werde bewusst geduldet, da sie die Willenskraft der Heimkinder schwäche. (vgl. 1924, s. 116; Figger 1977, S. 202). Zum anderen wird versucht, sichtbare Symptome sexueller Not von Heimkindern zu verdrängen und zu unterdrücken. Die Reaktionen von Erziehern im Bereich sexuellen Verhaltens von Heimkindern, wie sie von den Autoren berichtet wird, lassen Vermutungen in Bezug auf eigene unverarbeitete sexuelle Konflikte von Erziehern zu (vgl. Roth 1973, S. 65). Die schon aufgeführten Darstellungen von Erziehungssadismus und Berichte über päderastische Beziehungen zwischen Erziehern und Heimkindern bestätigen diese Annahme (Castillo 1958, S. 156; Gothe/Kippe 1975, S. 208; Mostar 1952, S. 313-314; Werner 1969, S. 9-10). Aufdeckung und strafrechtliche Verfolgung von Fehlverhalten des Heimpersonals und die Aufarbeitung sexueller persönlicher Konflikte vieler Erzieher im Bereich von Sexualität wären deshalb als erster Schritt zu einer Aufarbeitung dieses Problemfeldes zu sehen. Wie akzeptables Erzieherverhalten nach Meinung der Autoren aussehen sollte, darauf weißt Honegger hin: Erzieher sollten „erklären“, „was da geschieht“ (S.99). Sie sollten darüber hinaus auf Äußerungen von Sexualität statt mit „altjungfraulicher Empörung und peinlicher Neugierde“ mit „etwas Überlegenheit“ reagieren. (Ossowsky 1967, S. 116; vgl. Noack 1970, S. 79). Außerdem könnten strukturelle Änderungen wie Förderung von Außenkontakten (vgl. Bjelych/Pantelejew 1929, S. 348; Brown 1966, s. 131-135), Beschäftigung von Erziehern beiderlei Geschlechts (vgl. Burmeister 1953, S. 54; Cesbron 1954, S. 112) oder koedukative Erziehung auch von Jugendlichen (vgl. Wilker 1924, S,. 44; Lampel 1929, S. 70; Bembe 1950, S. 45) das Entschärfen sexueller Problematik bewirken. Wenn man mit Roth kindliche Formen von Sexualität als „Form der Liebesfähigkeit“ versteht, „die das gesamte emotionale Verhalten des Menschen betrifft und damit die wichtigsten Lebensbereiche des Individuums“ (1973, S. 64), so darf der Aspekt der Reaktion auf ihre Manifestationen im Heim nicht als nebensächlich angesehen werde. Zu fordern ist eine Sexualerziehung, die „aus der Anerkennung der vorfindlichen (jetzt manifesten) Bedürfnisse der Kinder als berechtigt; und aus einer gleichzeitig sich ändernden Position des Erziehers von einem Tugendwächter zu einem Wegweiser zur besseren Befriedigung von Bedürfnissen“ (Soukup 1979, S. 20) geschieht. 3.6. Gruppenstrukturen im Heim Die Darstellung sexueller Beziehungen zwischen den Heiminsassen beschreibt nur einen Ausschnitt aus dem sozialen Gefüge der Gruppen von Kindern bzw. Jugendlichen im Heim. Neben dem Heimpersonal bieten die Kameraden für den Einzelnen eine wichtige Bezugseinheit: „ . . . entstehen formelle . . . und informelle (selbständig gebildete und dem Erzieher gegenüber teilweise gar nicht zutage tretende) Gruppenbildungen, die oft einen hohen Grad an Zusammenschluss zeigen und somit auch wesentliche Gruppenwirkungen und Einflüsse auf den einzelnen ausüben.“ (Wilfert 1976, S. 4) In manchen Heimberichten erscheint die Gruppe der Heimkinder als Subkultur mit besonderen Sitten, Verhaltensregeln und genau abgestufter Rangordnung. Die Beziehungen der Heimkinder zueinander gestalten sich dabei außerordentlich kompliziert, da die Gruppen der Heimkinder heterogene Zwangsgemeinschaften darstellen. Informelle Gruppenstrukturen werden besonders deutlich bei der Ankunft eines „Neuen“ im Heim. Die Gruppe steht vor der Aufgabe, den Neuling einzuordnen, während dieser bemüht sein muss, sich den „Etablierten“ anzupassen, um nicht als Außenseiter abgestempelt zu werden. Cousins beschreibt ihren Eintritt in ein Mädchenheim als von Gefühlen der Feindseligkeit und Angst gegenüber den neuen Kameradinnen geprägt: „Überall Mädchen! Es galt, ihre Sprache zu lernen, ihre Sitten anzunehmen . . . Aber ich fürchtete mich vor dem Augenblick, in dem diese boshaften oder dämlichen Gesichter sich verziehen würden, weil sie meine Person missbilligten.“ (1955, S. 37 – 38; vgl. Forel 1910, S. 7; Leitgeb 1948, S. 140; Loosli 1924, S. 23; Ulitz 1928, S. 60) Neulinge werden oft besonderen Schikanen oder Proben ihrer Widerstandskraft ausgesetzt: „Wenn man hinein kommt, wollen sie sehen, was man sich gefallen lässt. Das ist das allererste.“ (Motley 1951, S. 48; vgl. Honegger 1974, S. 167; Loosli 1924, S. 128-129) Genet beschreibt Provokationen, denen er ausgesetzt ist, als er als „Neuer“ in eine Kindergruppe des Heimes „Mettray“ eintritt: „Ich hatte das Gefühl, daß mein ganzes weiteres Leben von meiner Haltung in diesem Augenblick abhängen würde . . . welche erstaunliche Geschicklichkeit zeigten die Kinder, wenn sie spontan und ohne sich abgesprochen zu haben ihre Kameraden bestimmten. Ohne zu zögern, schieden sie die Schwachen aus.“ (1976, S. 132-133) Wer sich als mutig erweist, erhält einen entsprechenden Platz in der Rangordnung. Diejenigen Kinder, die sich nicht wehren können, werden in die unterste Kategorie der Achtung der Anderen eingestuft. Machtstellungen in der Gruppe basieren in den meisten Fällen auf Körperstärke, Mut oder besonderer Gerissenheit. Wer den Anführern nicht gehorcht, wird zusammengeschlagen. (vgl. Cremer 1964, s. 114; Genet 1976, S. 90; Stenglin 1912, S. 22) Prügeleien entscheiden deshalb auch über den Wechsel der Machtpositionen, denen auf der anderen Seite als extrem negative Stellung die Rolle von Außenseitern gegenübersteht. Wegen besonders auffälliger Merkmale werden Kinder von ihren Kameraden gehänselt und ausgestoßen. Die Wertmaßstäbe in der Gruppe spiegeln vielfach die geltenden offiziellen Normvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft oder des Heimes, aber auch die von Subkulturen wider. Ausgestoßene und Spottobjekte sind beispielsweise Bettnässer (Forel 1910, S. 21), Strichjungen (Erhard 1931, S. 133), Farbige (Motley 1951, s. 54), Angehörige der Mittelschicht in einer Gruppe von Arbeiterkindern (Behan 1958, S. 227; Cousins 1955, S. 38) oder Evangelische in einem katholischen Heim (Fichte 1965). Die Interaktionen innerhalb der Kindergruppen sind also oft von Vorurteilen, Hierarchie und Gewalt geprägt. Als positives Gegengewicht zu derart negativen Strukturen werden Freundschaften zwischen einzelnen Heimkindern geschildert. Neulinge oder Außenseiter erfahren durch gute Freunde Hilfen zur besseren Integration in die Gruppe. (vgl. Bronte 1949, S. 38-39; Erhard 1931, S. 134; Leitgeb 1948, S. 141-143) Freundschaften stellen für Außenseiter einen Ausgleich in bezug auf Verweigerung von Anerkennung durch die übrigen Gruppenmitglieder dar. (vgl. Motley 1951, S. 54) Die Freunde vertrauen sich ihre Lebensgeschichte und ihre Probleme an, zeigen Verständnis füreinander und stehen in Solidarität gegen Angriffe von Seiten feindlich gesinnter Gruppenmitglieder oder Erzieher zusammen. ( z.B. Castillo 1958, S. 150 ff; Erhard 1931, S. 134; Loosli 1924, S. 69; Meinhof 1971, S. 30) Bei Vertrauensbruch entsteht unter den Freunden Verbitterung und Eifersucht. (Behan 1958, S. 279 ff.; Rantzau 1931, S. 127-128, 163). Selten versuchen Erzieher, in negative Gruppenprozesse verhaltensändernd einzugreifen. In den wenigen Fällen der Beschreibung positiv beurteilter Heime oder pädagogisch angemessenen Erzieherverhaltens werden jedoch auch günstige Einflüsse des Heimpersonals auf die Strukturen von Kindergruppen dargestellt. Bjelych/Pantelejew beschreiben z. B., wie sich durch die Erziehung im Schulheim die Einstellung und das Verhalten gegenüber „Neuen“ ändert: „In der Schkid hatte sich bereits die Sitte eingebürgert, jedem Neuen, der sich noch nicht eingelebt hatte, mit Freundschaft und Güte und nicht mit der Faust zu begegnen.“ (1929, S. 25) Auch Aerde schildert, wie in einem positiv beschriebenen Heim durch Förderung von Freundschaften die Situation von neuen Heiminsassen entschärft wird. (1959, S. 61) Angemessenes Erzieherhalten und eine entspannte Atmosphäre in Heimen wirken sich auch in anderen Beispielen allgemein auf die Beziehungen der Heimkinder untereinander in Richtung auf freundschaftliches und kameradschaftliches Verhalten aus. (vgl. Brosch 1971, S. 15; Castillo 1958, S. 198; Cesbron 1954, S. 153-154; Geiger-Gog 1929, S. 149) In negativen Erziehungsverhältnissen lässt sich demgegenüber eine eher verschärfende Wirkung des Verhaltens des Heimpersonals auf destruktive Gruppenprozesse feststellen. Von Unfreundlichkeit geprägte Interaktionen zwischen Heimkindern erscheinen als Imitation negativen Erzieherverhaltens. Ein Heimjunge stellt in Geiger-Gogs Roman bezogen auf mangelnde Kameradschaft der anderen Kinder fest: „Sie haben alle beim Hausvater gelernt, wie man mit Menschen umgeht.“ (1929, S. 127) Darüber hinaus beklagen sich ehemalige Heimkinder über passive und gleichgültige Haltung von Erziehern, die im Falle von Prügeleien nicht eingreifen: „Mir war zu der Zeit völlig schleierhaft, warum es Erzieher in den Heimen gibt, die dann noch bezahlt werden. Die Schweine taten so gut wie gar nichts für uns, wenn man in den Heimen von größeren Jungen zusammengeschlagen wurde.“ (Gothe/Kippe 1975, S. 105; vgl. Genet 1976, S. 90). Neben der Duldung von Grausamkeiten begünstigen zudem manche der kritisierten Erzieher negative Verhaltensweisen von Heimkindern gegenüber ihren Kameraden. Die ohnehin schwierige Situation von Neuankömmlingen wird z. B. bewusst verschärft. Lampel zitiert einen Jugendlichen: „Die Erzieher wiegelten unsere Kameraden auf, dass sie uns mit dem Spaten eine über den Arsch knallten, wenn sie uns bei der Arbeit überholten. Davor haben sie dann den Jungs Zigaretten versprochen. Weil wir neu waren – ein neuer Junge muß erst zahm werden.“ (1929, S. 180) Von anderen Erziehern wird berichtet, dass sie Kinder veranlassen, andere aus der Gruppengemeinschaft auszuschließen. (Bronte 1949, S. 38-39; Gothe/Kippe 1975, S. 153; Ziegler 1978, S. 179 ff.) Sie schaffen Außenseiterpositionen innerhalb einer Gruppe oder verstärken sie. Malten beschreibt, wie das Mädchen Nina für einen Streich u.a. damit bestraft wird, dass die anderen Kinder auf Geheiß der Erzieherin an ihr vorbeigehen und „Pfui, schäm dich!“ zu ihr sagen: „Die Mädel sagten es mit Genuß. Nina war nicht beliebt bei ihnen, weil sie zu sehr für sich blieb und zu verschieden von ihnen war.“ (1951, S. 101) Auch in anderen Beispielen lassen Erzieher Strafaktionen durch Heimkinder vornehmen, setzen Kinder als Hilfskräfte bei Kontrollen ein (vgl. Bembe 1950, S. 34; Brosch 1971, S. 58; Forel 1965, S. 21) und fördern Denunziantentum. (z.B. Bembe 1950, S. 23; Castillo 1958, S. 136; Gothe/Kippe 1975, S. 25, 28, 51, 53; Mostar 1952, S. 302) Den gewiss negativsten Einfluss von erzieherischem Fehlverhalten auf die Gruppenstrukturen von Heimkindern haben Kaposysteme. „Kapos“ (Castillo 1958, S. 135), „Älteste“ (Genet 1976, S. 171), „Korporäle“ (Ulitz 1928, S. 67), „Kerngruppenmitglieder“ (Honegger 1974, S. 164 ff.), „Gruppensprecher“ (Brosch 1971, S. 64) oder die „Großen“ (Bembe 1950, S. 31), in vielen Fällen besonders kräftige oder tückische Jugendliche, wirken als Hilfskräfte der Erzieher, garantieren den Gehorsam der anderen Kinder oder Jugendlichen und erhalten für ihre Hilfe vom Heimpersonal besondere Privilegien in Form von Vergünstigungen und besseren Lebensbedingungen. Selbst im Fall der bei Brosch beschriebenen „Gruppensprecher“, die von Jugendlichen selbst gewählt werden sollen, wird durch das Kaposystem die Kindergruppe gespalten, „jede Entwicklung von Solidarität, von Gemeinschaftsgefühl und Kameradschaft und gegenseitiges Füreinander-Einstehen verhindert“ (1971, S. 64). Brosch schildert die Rolle dieser „Kollaborateure“ so: „Die Gruppensprecher erhalten die Funktion von Erziehungshelfern. Sie erhalten den Auftrag, für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen, dafür dürfen sie dann auch schlagen, wenn ein anderer nicht pariert. Die Gruppensprecher erhalten auf diese Weise einen Schimmer von der Macht der Erzieher.“ (ebda.) Derartige Übertragung von Macht dauerhaft auf besondere Gruppen von Heiminsassen oder sporadisch auf Gruppen oder Einzelne spaltet die Gemeinschaft der Heimkinder und bewirkt bei den Privilegierten ein Verhalten, das of brutaler und strenger ist als das der Erzieher. (vgl. Goffman 1977, S. 68) Gründe hierfür mögen zum einen in einem gewissen „Machtkoller“ und sadistischer Freude am Quälen der Untergebenen liegen und zum anderen in dem Versuch, sich bei den Erziehern durch deutliches Absetzen von unangepassten Kameraden beliebt zu machen. Ein besonders auffälliges Beispiel für grausame Behandlung von Kameraden ist der bei Honegger dargestellte Chef der „Kerngruppe“ „Hasler“. Stenglin lässt den „Zögling“ Fritz Brand berichten, dass er nach schweren körperlichen Misshandlungen bei der Feldarbeit ohnmächtig wird: „Ich sank um und lag auf der Erde. Mehrere wollten mich hochheben, und Gustav Sonnemann, der jeden gern verriet, wo er nur konnte, schalt mich Drückeberger, da aber hörte ich Herrn Brauns Stimme: ‚Laßt ihn liegen! Hier nicht. Tragt ihn an die Hecke.’“ (1912, S. 37) Herr Braun, ein als brutaler Schläger dargestellter Erzieher, erscheint hier menschlicher als der eigentliche „Kamerad“. Das Verhältnis der anderen Kinder und Jugendlichen gegenüber „Kollaborateuren“ und Denunzianten“ ist dementsprechend auch von einem Gemisch aus Angst und ohnmächtiger Feindschaft geprägt. Offener Widerstand ist oft wegen des Machtgefälles zwischen den Bevorzugten und den übrigen Heimkindern nicht möglich. Wie den allmächtigen Erziehern sind in manchen Heimen unterprivilegierte und schwächere Kinder den Kollaborateuren mit Duldung der Erzieher ausgeliefert. Der Zögling Helm berichtet: „ . . . in der Erziehungsanstalt habe ich jedenfalls keine Kameradschaft erlebt. Die großen Jungen hielten die Kleinen in Schach. Die Großen waren Agenten von Erziehern und dafür sahen die Erzieher ihnen durch die Finger. So war von außen alles sehr schön in Ordnung und die Erzieher hatten wenig Arbeit. Dafür durften die Großen mit den Kleinen heimlich machen, was sie wollten. . . „ (Bembe 1950, S. 31). Helms heimliche Rache ist als Ausdruck seines ohnmächtigen Hasses gegen die „Großen“ zu werten: „Als ich im Arrest war, . . . da brachte mir ein Großer den Fraß in die Zelle, und dieser Große hat mich immer besonders gequält. Als er wiederkam und sah, dass ich nichts gegessen hatte, da hat er gegrinst und hat es selber gefressen. Aber ich hatte vorher dieselbe Suppe auch schon gegessen, aber ich habe sie absichtlich wieder in den Teller gebrochen . . .“ (1950, S. 32). Im Falle des plötzlichen Machtschwundes eines Kollaborateurs trifft diesen der angestaute Hass der anderen bisher von ihm Unterdrückten. Ein Beispiel für solche Rache stellt Lampel in seinem Schauspiel vor: Kurt wird am Ende einer Revolte vom Hausvater „fallengelassen“. Er wird mit den anderen von der Polizei abtransportiert. Der Heimleiter beauftragt einen Polizeileutnant: „Transportieren Sie ihn abseits, damit ihn seine Kameraden nicht zu arg verprügeln.“ (1929b, S. 129). Auch an sich machtlose Denunzianten, „Petzer und Angeber“ haben im Falle des Offenkundigwerdens ihres Verrats mit der Rache ihrer Kameraden zu rechnen. (vgl. Aerde 1959, S. 202; Gothe/Kippe 1975, S. 108; Loosli 1924, S. 130, 132; Schaffner 1922, S. 10 – 33) Jegliche engere Beziehung zu Erziehern wird von anderen Kindern mit Misstrauen betrachtet. (Bjelych/Pantelejew 1929, S. 15; Cousins 1955, S. 38, 41, 42; Leitgeb 1948, S. 144-145) Ein ungeschriebener Ehrenkodex der „Zöglingssubkultur“ ächtet „Petzen“ in jedem Fall. In Noacks Roman will Jochen einen anderen Jugendlichen beim Erzieher melden, da er für dessen Tat bestraft worden ist. Sven, sein Freund, hält ihn davon ab: „Das laß lieber bleiben, Jochen. Wir machen in unserer Gruppe ja alles Mögliche, zugegeben; aber einen anderen bei Hammel (Erzieher, Anm. d. Verf.) verpfeifen, das macht keiner. Und wenn du’s doch tust, dann bist du unten durch.“ (1979, S. 80; vgl. Schaffner 1922, S. 26) Dieser Ehrenkodex und die Bestrafung von Jugendlichen, die mit Erziehern zusammengearbeitet haben, werden in der Mehrzahl der Literatur als Form des Widerstands positiv beurteilt. Erhard schildert demgegenüber die Bestrafung eines „Petzers“ durch die anderen Jungen der Gruppe als brutale und destruktive Aktion: Erwin hat aus Versehen die nächtlichen Prahlereien der Jungen über ihre Straftaten einem Erzieher verraten. Die „Familie“ wird kollektiv mit Rauchverbot bestraft. Anschaulich schildert Erhard die gespannte Gruppensituation, die Angst Erwins vor der „Saalplatte“, des Verprügelns durch die anderen Jungen. (1931, S. 136 ff.) Die Bestrafungen Erwins im Schlafsaal ist wird als brutaler Ausbruch von Aggression dargestellt: „. . . eine Gruppe weißer Gestalten steht neben dem Bett von Erwin. Und es klatscht und poltert und leise Flüche dazwischen . . . Das Wimmern und Stöhnen unter der Decke ist grauenvoll und dann fliegt die Decke beiseite, aber nun prasseln die Faustschläge dem ins Gesicht und das Stöhnen geht in einen einzigen schrecklichen tierischen Schrei über . . . „ (S. 139) Die Rache am „Petzer“ ist in diesem Fall nicht legitime Form des Widerstands gegen eine gruppenzerstörende Politik von Erziehern. Erzieherisches Fehlverhalten hat vielmehr eine indirekte destruktive Wirkung. Die Aggression gegen Unterdrückung schlägt nach innen, wird zur Selbstaggression. Der Ärger über die Strafe trifft nicht den Strafenden, sondern nur einen Pseudoverursacher der unangenehmen Situation: „Die Leere und der aufgespeicherte Haß vieler sinnloser Anstaltsstunden, die Wut der Gefesselten, Eingesperrten und Getretenen entlädt sich im Kampf gegen den Kameraden.“ (Erhard 1931, S. 139-140) Derartige nach innen gerichtete Aggression, die sich scheinbar unmotiviert in gereiztem und brutalem Verhalten von Kindern und Jugendlichen zueinander äußert, findet man oft in der untersuchten Literatur beschrieben. (vgl. Genet 1976, S. 15; Gothe/Kippe 1975, S. 132-133; Honegger 1974, S. 203; Loosli 1924, S. 62-63) Auch Loosli deutet die Misshandlung schwächerer Kinder als Folge pädagogischen Fehlverhaltens von Erziehern, als Ventil aufgestauter Aggressivität: „Der, von den Vorgesetzten roh und unmenschlich behandelte Zögling wird eben selber unmenschlich und roh. Es gewährt ihm eine gewisse Genugtuung, seinerseits weh zu tun; die Grausamkeiten, denen er ausgesetzt ist, seinerseits auf Schwächere als er weiterzuleiten, sozusagen abzuladen.“ (1924, S. 133; vgl. Brosch 1971, S. 13) Gemeinsamer Widerstand von Heiminsassen erscheint in den meisten Fällen als bewusste Änderung der Aggressionsrichtung. Der nach Aussage einiger Autoren unterschwellig vorhandene einigende Grundtenor gemeinsamen Hasses (Loosli 1924, S. 131; Stenglin 1912, S. 37) bietet noch keine Gewähr für solidarisches Handeln. Gothe/Kippe (1975, S. 132) und Loosli (1924, S. 133) berichten von feigem Rückzug anderer Insassen im Fall von Protest und Widerstand Einzelner. Meistens ergreifen Einzelpersonen oder kleine Gruppen die Initiative und versuchen, die anderen in einen gemeinsamen Kampf gegen die Erzieher mitzureißen, in der Überzeugung, dass nur einiges Handeln Aussicht auf Erfolg hat. Weinheber berichtet von derartigen Erkenntnisprozessen einiger Heimjungen: „Überhaupt meinten sie, sei es blöd genug, sich jetzt, wo die drakonische Geißel der Anstaltszucht heftiger denn je über ihren Kopf sause, noch den Luxus von Feindschaft und Quertreibereien zu erlauben.“ (1924, S. 183) Auch Jochen versucht, seine Kameraden von der Bestrafung eines anderen Jungen abzulenken und sie zum gemeinsamen Widerstand gegen den Erzieher zu organisieren: „ . . . wir müssen hier zusammenhalten und uns nicht gegenseitig fertigmachen. Wie kommen wir denn dazu: Hammel will uns kleinkriegen, das ist klar. Und das schafft er viel leichter, wenn wir ihm die Arbeit auch noch abnehmen.“ (1979, S. 85; vgl. Cremer 1964, S. 137; Sillitoe 1967, S. 18, 66, 68) Gemeinsamer Widerstand von Heimkindern wird von vielen Autoren als gemeinschaftsfördernd angesehen. Der Zusammenhalt der Kinder werde durch solidarischen Kampf gestärkt (vgl. die Beschreibung von Geheimbünden bei Schaffner 1922, S. 66 ff. und Ulitz 1928, S. 144 ff.) Die durch einen Geheimbund geschaffenen informellen Strukturen der Gruppe erscheinen bei Ulitz sogar stärker als die von den Erziehern geschaffenen formellen Rangordnungen des „Kaposystems“. (1928, S. 150) Zusammenfassend kann man feststellen, dass die im untersuchten Material beschriebenen Beziehungen von Heimkindern in den meisten Fällen von Erziehern nur im negativen Sinn im Erziehungsprozess benutzt werden. Aus Angst vor einer ihre Machtposition bedrohenden Gemeinschaft der Heimkinder, einer Polarisierung (vgl. Loosli 1924, S. 121), versuchen Erzieher vielfach Einigkeit und Solidarität unter den Insassen zu verhindern. (vgl. Goffman 1977, S. 64; Kluge 1979, S. 4; Koenig/Pelster 1978, S. 74) Imitationslernen in Bezug auf negative Verhaltensweisen von Erziehern und durch pädopathologisches Erzieherhandeln entstandene Aggressionen begünstigen die Entstehung von „Hackordnungen“ und destruktiven Gruppenprozessen. (vgl. Ahlheim u.a. 1971, S. 166-167; Kluge 1979, S. 85) Der positiven Bedeutung von Kameradschaft und Einigkeit wird im Erziehungsprozess selten Rechnung getragen. Demgegenüber sollte pädagogisch angemessene Heimerziehung, ähnlich wie in den angeführten Beispielen der Förderung von Freundschaften durch Erzieher, bemüht sein, Sympathien und belastbare Bindungen zwischen Heimkindern anzuregen und Leben in der Heimgruppe als Lernfeld für positives Sozialverhalten von Heimkindern zu gestalten. Erzieher sollten durch Kenntnis von Gruppenprozessen fähig werden, durch günstigen Einfluss die Gruppe der Heimkinder in pädagogisch positivem Sinne als „wesentliches Hilfsinstrument für ihre Erziehungsarbeit einzusetzen“. (Kluge 1979, S. 26) 3.7. Verhältnis zwischen Heimkind und Gesellschaft Wenn man als Ziel einer pädagogisch begründbaren und vertretbaren Heimerziehung die gesellschaftliche Reintegration von Heimkindern anstrebt, so ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung in das Leben außerhalb des Heimes bzw. die Herstellung oder Förderung eines positiven Verhältnisses zwischen Heimkind und sozialer Umwelt schon während der Dauer des Heimaufenthaltes unumgänglich. Von solcher Prämisse ausgehend, wurde in Bezug auf die vorliegenden Veröffentlichungen gefragt, wie Heimkinder Gesellschaft erleben. Unter Gesellschaft soll das soziale Umfeld des Heimes verstanden werden, z. b. Bevölkerungsgruppen, mit denen Heimkinder z.B. bei Ausflügen, Schulbesuch oder Ausgang in Kontakt kommen. Weitere Begegnungsmöglichkeiten wären Besuche von außen im Heim, z.B. Kommissionen, Bekannten, Angehörigen, besonders interessierten Personen oder vorübergehend im Heim Beschäftigten (z.B. Ärzten). Wie sich Kontakte zwischen Heimkind und sozialer Umgebung gestalten, kann so Aufschluss über die Chancen einer sinnvollen Reintegration nach der Entlassung geben. Erfolg und Scheitern von Erziehung hängen nicht zuletzt von den Fragen ab, ob die Umwelt eines Kindes dieses akzeptiert und aufnimmt und ob es selbst der Gesellschaft mit positiven Gefühlen gegenübertritt. Einfluss auf das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Heimkindern nimmt darüber hinaus die Erfahrung, die diese mit Sozialbehörden machen. Heimkinder sind öffentlich verwaltete Kinder. So wird die Frage von Bedeutung, wie die Autoren der untersuchten Literatur Heimerziehung hinsichtlich der Verwaltungsprozesse darstellen und ob Entscheidungen der Behörden bezüglich ihrer Erziehung für die Kinder und Jugendlichen durchschaubar, nachvollziehbar und akzeptierbar sind. Im vorliegenden Material machen Heimkinder während und nach ihrem Heimaufenthalt in den meisten Fällen negative Erfahrungen mit ihrer Umwelt. Als Grunderlebnis in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft wird das Gefühl beschrieben, von der Gesellschaft, und oft auch von Eltern und nahen Verwandten abgeschoben, ausgeschlossen und verachtet zu sein. Heimkinder empfinden sich durch Heimeinweisung und -aufenthalt gebrandmarkt als minderwertige Außenseiter, denen die übrige Gesellschaft ablehnend bis feindselig gegenübersteht. „Fürsorgezöglinge – das ist, als wenn man sagt, ‚Läuse’ oder ‚Bazillen’. Jeder macht einen Bogen.“ (Rantzau 1931, S. 219; vgl. Behan 1958, S. 276; Brosch 1971, S. 11; Dickens 1837/38, S. 7; Erhard 1931, S. 130; Geiger-Gog 1929, S. 123; Genet 1976, S. 14-15; Gothe/Kippe 1975, S. 47; Graham/Frank 1968, S. 17; Honegger 1974; Leitgeb 1948, S. 146; Loosli 1929, S. 137; Noack 1970, S. 14; Ossowsky 1972, S. 36; Rantzau 1931, S. 174; Ritter-Bern 1926, S. 3, 56, 85; Stanley 1911, S. 14; Stenglin 1912, S. 12, 38; Webster 1948, S. 25) Das diskriminierend wirkende Verhalten der Umwelt äußert sich für viele in Spott, Vorwürfen und peinlicher Distanzierung. Beispielsweise beschreibt Geiger-Gog, wie Fahrgäste im Zug von einem Jungen wegrücken, als sie erfahren, dass er in „Zwangserziehung“ gebracht wird (1929, S. 123). Das Bemühen der Bevölkerung, sich von Heimkindern und Jugendlichen zu distanzieren, findet Ausdruck in der Absonderung und räumlichen Trennung der Heimkinder in der mehr oder weniger geschlossenen Institution Heim. Falls durch Ausgangserlaubnis Kontakt zur Bevölkerung entsteht, reagiert die Umwelt oft mit Angst und mit dem Ruf nach verstärkter Segregation von Heimkindern und -jugendlichen. Brosch berichtet von der Bildung eines Vereins der „Staffelberggeschädigten“ in Biedenkopf, deren Forderungen in einer allgemeinen Ausgangssperre für die Heimjugendlichen von „Staffelberg“ gipfeln. Ein vorübergehend angebrachtes Schild „Für Zöglinge Betreten verboten“ verwehrt den Jugendlichen den Zutritt zu einem Kaufhaus (1971, S. 57). Dieses Beispiel wird von Wenzel bestätigt, der in seiner Untersuchung die Forderung eines Bürgermeisters erwähnt, „die Bevölkerung seiner Stadt durch einen hohen Zaun und ein verschließbares Tor, mit denen man das Erziehungsheim versehen müsse, vor Übergriffen der Heiminsassen zu schützen“ (1970, S. 22; vgl. Koenig/Pelster 1978 über feindselige Reaktionen von Seiten der Bevölkerung nach Versuchen einer zunehmenden Öffnung eines Mädchenheimes) Offenbar besteht in den beschriebenen Fällen eine Grundtendenz von Misstrauen und Angst seitens der Bevölkerung der näheren Umgebung von Heimen. Heimkindern werden in der Regel negative Verhaltensweisen und Attribute zugeschrieben. Der „Normalbürger“ hält sie für kriminell. Auch nach ihrer Entlassung begegnet das soziale Umfeld wie Arbeitgeber, Mitschüler, Bekannte etc. ehemaligen Heimkindern mit Misstrauen. (vgl. Lampel 1929, S. 168; Richter 1929, S. 39; Stenglin 1912, S. 79; Webster 1948, S. 19; Wenzel 1970, S. 20 ff.) Der Aufenthalt im Heim wird zum Stigma der Betroffenen (vgl. Goffman, 1975), unter dessen Vorzeichen demzufolge ihr Gesamtverhalten negativ beurteilt wird. Werner berichtet: „Dann kam der Staatsanwalt, der Heimleiter und die Fürsorgerin an die Reihe und keiner ließ etwas Gutes über mich kommen, noch nicht mal meine freiwillige Stellung in Hamburg. Man sah in mir nur den Heiminsassen, das genügte dem Gericht schon. War also ein Stück Dreck.“ (1969, S. 57) Werner empfindet die negative Beurteilung durch die Umwelt als Missachtung seiner Persönlichkeit, deren wirkliche Werte nicht erkannt werden. Die Etikettierung als „Heiminsasse“ wird von ihm als herabsetzend erlebt. Als andere Form der Diskriminierung wirkt mitleidiges Verhalten von Seiten der Gesellschaft, das von einigen Autoren noch negativer als feindselige Reaktionen der Öffentlichkeit eingeschätzt wird. Webster schildert die Situation des Mädchen Jerusha im Gymnasium: „In der Oberschule standen die Mädchen in Gruppen beisammen und sahen mich nur an: Ich war sonderbar und anders und jedermann wusste es . . . Und dann gaben sich einige Mildtätige Mühe und kamen und sagten einige höfliche Worte. Ich haßte jede einzelne von ihnen – und die Mildtätigen am allermeisten.“ (1948, S. 25; vgl. Rantzau 1931, S. 35; Ulitz 1926, S. 99) Die diskriminierende Wirkung des mitleidigen Verhaltens auf das Heimkind erklärt sich aus der Erfahrung, dass die Gleichwertigkeit des stigmatisierten Individuums nicht an sich durch seine Person gegeben ist, sondern erst durch besonderes Bemühen der Umwelt herbeigeführt werden muss bzw. nur vorgetäuscht wird. Z.B. klagt Forel, dass er als Heimkind mehr unter den Vorträgen seines Lehrers über die Gleichwertigkeit von Waisenkindern als unter dem Spott seiner Schulkameraden gelitten habe. (1910, S. 203) Die Eingliederung von Heimkindern in die Gesellschaft ist unter den dargestellten Umständen außerordentlich erschwert bzw. zum Scheitern verurteilt. Ihre Reaktionen auf negative Erfahrungen bei Kontakten mit der Bevölkerung werden als ein von Bitterkeit, Hass oder Resignation begleiteter Rückzug in eine Gegenkultur der Ausgestoßenen beschrieben: „Die Welt hat mich verstoßen . . . ich verstoße die Welt! Ich brauche sie nicht.“ (Ritter-Bern 1926, S.85) Die Subkultur der Gleichartigen wird für die Heimkinder zur Heimat, die negativen Attribute, die die Außenwelt den Ausgestoßenen zuschreibt, zum Gegenstand ihres Stolzes. Behan zitiert in seinem autobiographischen Roman ein Lied von Heimjungen, das diese trotzige Haltung gegenüber der Gesellschaft ausdrückt: „. . . they say I ain’t no good‚ cause I’m a Borstal boy, but a Borstal boy is what I’ll always be . . . a title I bear with pride.“ (1959, S. 197,198; vgl. Aerde 1959, S. 200; Cesbron 1954, S. 50; Erhard 1931, S. 236, 247; Genet 1976; Loosli 1924, S. 15; Ritter-Bern 1929, S. 85; Wilker 1924, S. 18) Heimjugendliche entsprechen schließlich in ihrem Verhalten den negativen Erwartungen, die die Umwelt an sie richtet. Eine sich positiv auswirkende Integration ist trotz guten Willens von Seiten der Heimentlassenen nicht möglich; ein ehemaliger Zögling der Anstalt „Grüntal“ berichtet in Stenglins Roman: „Einige Vorsätze waren wohl in mir lebendig geworden, aber schnell waren sie vergessen, besonders, als ich sah, dass man mir überall misstraute . . . Der ‚Grüntaler’, vor dem sie von Anfang an Schränke und Kästen verschlossen hielten, machte sich kein Gewissen daraus, ihnen Schaden zuzufügen.“ (1912, S. 79, 81) Freundliches Verhalten der Umwelt wird demgegenüber von einigen Autoren als besonders positiv hervorgehoben. Heimkinder verbinden mit angenehmen Erfahrungen bei Außenkontakten Hoffnung auf ein besseres Leben. Nach einer Unzahl negativer Erfahrungen mit seiner Umgebung begegnet der Junge Oberholzer in Honeggers Roman einer freundlichen Bauernfamilie, zu der er in Stellung gehen soll. Der Autor beschreibt Oberholzers Gefühle: „Ich ging; die Leute standen vor der Scheune und winkten. Eine Hoffnung stieg in mir auf. Ich freute mich plötzlich auf die Entlassung.“ (1974, S. 156, 157; vgl. Graham/Frank 1968, S. 46) Angesichts der Diskrepanz zwischen pädagogischen Forderungen nach positiven Kontakten zwischen Heimkind und Umwelt (vgl. Elverfeldt 1966, S. 192 ff.; Kluge 1979, S. 84; Wenzel 1970, S. 21 ff.) und den in autobiographischen und belletristischen Darstellungen berichteten überwiegend negativen Erfahrungen von Heimkindern stellt sich die Frage, ob durch Organisationsformen von Heimerziehung Diskriminierung von Heimkindern Vorschub geleistet werde bzw. durch welchen pädagogischen Führungsstil gelungene Integration von Heimkindern in die Gesellschaft gefördert werden könnte. Die im vorliegenden Material beschriebenen, vom Heim organisierten Außenkontakte sind in der Mehrzahl durch auffallende Demonstration der Andersartigkeit der Kinder gekennzeichnet. Besonders auffallende Beispiele sind Szenen des gemeinsamen Ausgangs in der Umgebung von Heimen. Von Weinheber wird allein der Schulweg von Heimjungen zum Gymnasium unter Aufsicht eines „Wärters“ als „beschämend“ beschrieben, ohne dass Äußerungen von Spott oder Verachtung seitens der Bevölkerung genannt werden (1924, S. 29). Ulitz lässt Heimjungen eine ähnliche Situation berichten: „Ja, nämlich die Schweine, die Auswärtigen, die schimpfen uns Spittelkrebse. Wenn wir in die Schule gehen, auf der Straße, sie auf dem Trottoir, . . . da schimpfen uns die Auswärtigen Krebse.“ (1928, S. 78, 79) Eindeutig wird in den o.g. Beispielen die Art des Auftretens in der Öffentlichkeit, nämlich in „Reih und Glied“ unter Aufsicht zu gehen, als Anlass zur Beschämung der Heimkinder und Spott der Umwelt genannt. Solche Beaufsichtigungspraxis wird selbst noch bei Gothe/Kippe von einem ehemaligen Waisenkind berichtet: „Was heißt spazieren gehen, kann man das gar nicht nennen, wir sind also marschiert durch die Straßen von Bonn. Jeder Arsch sah uns da zu.“ (1990, S. 51) Durch die Art des geschlossenen Auftretens sind die Heimkinder sofort als besondere Gruppe zu erkennen. Der Einzelne wird nicht von seiner Person her beurteilt, sondern nach der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich verachteten Gruppe. In Noacks Roman wird durch ähnliches Auftreten in der Öffentlichkeit der Versuch eines Heimleiters, die Isolation der Heimjugendlichen abzumildern, zum Scheitern verurteilt. Herr Katz der Heimleiter, hat einen Tanzkurs für die Jungen seines Erziehungsheims in einer benachbarten Kirchengemeinde zusammen mit Jungen und Mädchen des Ortes organisiert. Die Veranstaltung nimmt einen positiven Verlauf. Am Ende des Abends wird die Andersartigkeit der Heimjungen offenkundig: „Manche der fremden Jungen schickten sich an, ihre Mädchen heimzubringen, während Herr Hamel seine Jungen zu sich winkte. Sie versammelten sich widerstrebend, und Herr Hamel blickte auffordernd zu Jochen hinüber, der noch mit Birgit am Tisch stand.“ (1979, S. 119) Jochen gesteht Birgit, seiner Tanzpartnerin, er gehöre zu der Heimgruppe. Birgit reagiert mit Distanzierung. „Obwohl Birgit sich nicht von der Stelle rührte, war es als täte sie einen Schritt zurück. ‚Ach, zu denen gehörst du? Das wusste ich nicht. Du siehst gar nicht so aus.’“ (ebda.) Durch unreflektiertes Erzieherverhalten wird die an sich positiv zu bewertende Kontaktaufnahme zwischen Heimjugendlichen und sozialer Umwelt zum negativen Erlebnis. „Herr Hamel zählte nach, ob er alle beisammen hatte, und sie fühlten sich hinausgetrieben wie eine Herde.“ (S. 120) Die Form des Heimwegs wird für die Umwelt zur Bestätigung ihrer Vorurteile, nämlich dass Heimjungen bewacht werden müssen und mit Mädchen von außerhalb nur unter Aufsicht Kontakt haben dürfen. Für die Heimjungen bedeutet der so beschriebene Ausgang der Tanzveranstaltung Demütigung und den Beweis, dass sie doch wirklich nicht „dazu“ gehören. Aufgabe einer pädagogisch sinnvollen Heimerziehung muss im Gegensatz zu der bei Noack u.a. beschriebenen Festlegung der Distanz zwischen Heimkindern und Öffentlichkeit sein, „sachliches Verständnis und Interesse für die randständige Jugend zu fördern und die Öffentlichkeit über die Heimerziehung aufzuklären“ (Wenzel 1970, S. 24), also unberechtigte Vorurteile abzubauen. Einige wenige Beispiele für Versuche, Begegnungen zwischen Heimkindern und Umwelt zu organisieren, findet man auch im untersuchten Material. Bjelych/Pantelejew berichten von der Patenschaft der Hafenarbeiter des Handelshafens für Heimkinder. Die Arbeiter unterstützen das Heim mit materiellen Zuwendungen und stellen Freizeitgelände zur Verfügung (1929, S. 65). Burmeister, eine Vertreterin der Gründerliteratur zählt Personen von außerhalb auf, die durch vielfältige Aufgaben im Heim beschäftigt werden. Heimleben und umgebender Stadtteil sind durch eine Fülle von Beziehungen untereinander verflochten; das Heim ist in die Umgebung integriert. (1953, S. 52, 53, 369) Eine ähnliche Darstellung der Übertragung von Verantwortung an die Umgebung findet sich in Ourslers Biographie Pater Flanagans. In seinem Heim lässt sich das Verhältnis zwischen Heim und Öffentlichkeit als „Geben und Nehmen“ charakterisieren. Das soziale Umfeld ist am Aufbau des Heims beteiligt und die Jugendlichen selbst geben z.B. in mehreren Städten Orchesterkonzerte. Der gegenseitige Kontakt soll die Diskriminierung der Jugendlichen aufheben: „Die Öffentlichkeit musste wissen, daß diese verachteten Jungen sich erfreulich entwickelten.“ (1948, S. 193) Auch Stenglin berichtet von dem in seinem Roman als positive Alternative geschilderten Heim die Organisation von Außenkontakten, die der Bevölkerung beweisen sollen, dass Heimkinder nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden können. Z.B. wird eine Sanitätskolonne aus Heimkindern gegründet, die am Wochenende die zahlreichen Ausflügler in der Umgebung des Heimes betreut. Der Heimleiter deutet diese Einrichtung gegenüber den Kindern: „Ich stand heute am Fenster und sah es mit an, als unsere Jungen von der Sanitätskolonne hinausgingen, um einem kranken Knaben beizustehen . . . euer Herz soll geschwellt sein von dem wahren, hohen und doch demütigen Stolz des guten Menschen, der da sich zur Richtschnur nimmt die Worte, die wir auch hier über das Tor unserer Anstalt setzen könnten: ‚Nicht Wunden zu schlagen, nein, Wunden zu heilen sind wir da!’“ (1912, S. 195) Den Heimkindern wird in diesem Heim Verantwortung übertragen für andere Mitglieder der Gesellschaft. Ihnen wird das Bedürfnis der Umwelt bzw. ihrer Angehörigen nach ihrer Mitarbeit und Hilfe mitgeteilt. (vgl. Aerde 1959, S. 145; Cesbron 1954, S. 102) Sie sind nicht länger Objekte von Erziehung und Anpassung, sondern werden zu Subjekten mitverantwortlicher Gestaltung öffentlichen Lebens. Dieses Ziel wird auch in den Berichten sowjetischer Heimerziehung Kindern und Jugendlichen immer wieder vor Augen gestellt. Sie stellen sich als Mitbürger der Gesellschaft fühlen: „Die Zöglinge einer sowjetischen Kinderanstalt müssen die Gefahren, Freunde und Feinde ihrer Heimat kennen. Sie müssen imstande sein, ihr eigenes Leben nicht anders zu vers tehen, denn als Teil der G egenw art und Zukunft uns erer ganzen Gesellschaft.“ (Makarenko 1969, S. 96) Bjelych/Pantelejew beschreiben das Ziel einer gleichberechtigten Integration die Gesellschaft als anspornend für die Entwicklung vieler Heimjungen. Sie „träumten von dem Tag, an dem sie gleichberechtigte Bürger der anderen Republik, der großen Sowjetrepublik sein würden“ (1929, S. 325). Die Jungen bemühen sich, durch eifriges Lernen und politischen Unterricht bald als Vollmitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden. Die hier dargestellten verschiedenen Ansätze von Versuchen, das Verhältnis zwischen Außenwelt und Heimkindern zu entspannen, kann man durch zwei Merkmale zusammenfassend kennzeichnen. Erzieher vermitteln Heimkindern ein Gefühl gesellschaftlicher Wertschätzung, nämlich gebraucht zu werden und daher keine lästigen Individuen zu sein, und die pädagogische Führung zeichnet sich durch Versuche aus, Grenzen zwischen Heim und sozialer Umwelt aufzulockern. Mostar charakterisiert positive Heimerziehung durch die Feststellung: „. . . , dass diejenige Anstalt, die die Öffentlichkeit nicht scheut, ja, die darum wirbt, dass sich die Öffentlichkeit um ihren schweren Arbeitsalltag kümmere, die bessere ist.“ (1952, S. 317, 318) Aus der Abgeschlossenheit vieler Heime, die demgegenüber in den autobio-graphisch/ belletristischer Veröffentlichungen beschrieben werden, ergibt sich noch ein anderer Aspekt des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Heimkind. Gruppen oder Personen von außerhalb, mit denen Heimkinder und Jugendliche Kontakt aufnehmen könnten, erscheinen als potentielle Retter aus einem als unerträglich empfundenen Heimlebens. Eltern und Elternteile werden z.B. bei Besuchen von Kindern gebeten, sie aus dem Heim nach Hause zu holen oder nach einer Flucht zuhause zu verstecken. Je nach eigener Einstellung zur Fürsorgeerziehung und zu ihren Kindern lehnen sie die Bitten der Kinder ab (vgl. Noack 1970, S. 109, 145) oder machen sich zu ihren Komplizen. (vgl. Bembe 1950, S. 37, 38; Cremer 1964, S. 41; Werner 1969, S. 189) Gegenstand der Sehnsucht auf Entlassung aus dem Heim sind auch Personen, von denen Heimkinder hoffen, adoptiert zu werden. Das Scheitern solcher Hoffnung eines Heimkindes beschreibt Lawrence. Ein Ehepaar, das an mehreren Wochenenden ein kleines Mädchen aus dem Heim zu sich nach Hause eingeladen hat, bricht den Kontakt plötzlich ab, weil der junge Mann die Verantwortung für die entstandenen feste Beziehung zu dem Kind nicht übernehmen will: „“It’s too much of a tie.“ (1969, S. 171) Lawrence veranschaulicht die tiefe Enttäuschung des Kindes sehr eindrücklich an einem Bild: „When a spider is torn from the web it has been spinning between two blades of grass, i runs for shelter into a cranny in the earth, and disappears.“ (1969, S. 123) Die Verletzung der Gefühle dieses Kindes bewirkt den Rückzug von jener Umwelt, die seine Hoffnungen nicht erfüllt hat. Die Sehnsucht, wie ein normales Kind in einer Familie zu leben, bleibt Traum, ein zerrissenen Spinnennetz, wie es Lawrence in ihrem Bild ausdrückt. Von einer ähnlichen Enttäuschung der Hoffnung, adoptiert zu werden, berichtet Ossowsky. (1967, S. 66 – 68) Man kann feststellen, dass viele der im untersuchten Material beschriebenen Kinder mit grundsätzlich positiven Erwartungen ihrer sozialen Umwelt begegnen. Im Fall gegenteiliger Erfahrungen reagieren sie schockiert, enttäuscht und verbittert. Helm berichtet von einem Erlebnis während einer Flucht aus einem Heim: „Dann kam ich zu einem Bahnwärterhaus und die Frau war sehr freundlich zu mir und gab mir eine alte Hose und auch zu essen. Ich war sehr glücklich, weil sie so gut zu mir war. Aber jetzt passen Sie gut auf, wie die Menschen in Wirklichkeit sind. Die Frau hat nämlich heimlich die Polizei angerufen. Und wie der Polizist kam, hat sie gelacht und hat sich verraten. So wie damals bin ich noch selten erschrocken.“ (Bembe 1950, S. 35) Die Auslieferung an die Polizei wird von Helm als Verweigerung von Hilfe, als Verrat empfunden. Sein Vertrauen zur Gesellschaft wird durch das Verhalten der Bahnwärterfrau zerstört. Grunderfahrung der meisten Heimkinder im untersuchten Material ist trotz ihrer Hoffnung auf Hilfe die Gleichgültigkeit bis Feindseligkeit ihrer Umwelt. Oft fühlen sie sich von allen verlassen und ausgestoßen. Aufsichtspersonen, Kommissionen oder Besucher, die zu routinemäßigen oder außergewöhnlichen, nach besonderen Vorkommnissen angesetzten Revisionen Heime besuchen, lassen sich meist von äußerlicher Ruhe und Ordnung täuschen. Kinder, die sichtbare Zeichen von körperlichen Misshandlungen tragen, oder die sich beschweren könnten, werden versteckt. (vgl. Geiger-Gog 1929, S. 15; Lampel 1929b, S. 57, 58; Loosli 1924, S. 137 ff.; Stenglin 1912, S. 42) Hoffnung auf Hilfe von außen durch eine Kommission äußert ein Heimjunge in Geiger-Gogs Roman: „Die Herren sollen nur einmal kommen: wir wollen ihnen schon sagen, wie es hier zugeht.“ (1929, S. 133) Sie wird durch die verbitterte Erfahrung eines anderen zunichte gemacht: „Beklagst du dich, dann kommt so ein Herr vom Ministerium – dem machen sie einen Schuh vor, packen ihm eine Gans oder eine halbe Sau ein – und fertig ist die Laube! Alles in Ordnung! (S. 164) Die Vorwürfe der Autoren an das soziale Umfeld von Heimen, das zwar wissen muss, was in Heimen geschieht, aber nicht eingreift, reichen von Gleichgültigkeit über Oberflächlichkeit bis zur bewussten Duldung. (vgl. Loosli 1924, S. 152) Ehemalige Heimkinder sind empört über derartiges Verhalten der Gesellschaft. Werner berichtet von einem „Diakon“, der im Garten eines Heimes Jugendliche misshandelt. Die Reaktion von Zuschauern beschränkt sich auf stumme Missbilligung des Verhaltens: „ . . . er schien vom Jähzorn befallen, denn er schlug mit dem Spaten, ob mit scharfer Kante war ihm egal. Oder zertrat einen bald am Boden. Alles Schreien und Wimmern nutzte nichts. Leute blieben am Zaun stehen und schüttelten mit dem Kopf. Aber keiner half, oder unternahm etwas zu unserer Hilfe.“ (1969, S. 11) Personen, die nach dem Erleben unmenschlicher Erziehungspraxis sich für eine Änderung des Heimlebens einsetzen oder Heimkindern zu helfen versuchen, werden demgegenüber von den Autoren lobend erwähnt. Beispiel dafür ist ein Arzt in Castillos Roman, der nach einem Arbeitsunfall eines Jugendlichen Aufklärung über die Zustände im Erziehungsheim verlangt, Aussagen von Heimjugendlichen sammelt und eine gerichtliche Untersuchung anstrebt. (vgl. 1958, S. 146 ff.) In Motleys Roman wird ein Student beschrieben, der zu dem Heimjungen Nick ein Vertrauensverhältnis aufbaut, von diesem über körperliche Misshandlungen durch den Heimleiter informiert wird und kritische Artikel über die sogenannte „Reformschule“ veröffentlicht. (1951, S. 36 ff.) Trotz ihres guten Willens zur Hilfe können diese beiden Personen letztlich nichts an der eigentlichen Heimpraxis ändern. Eine öffentliche Wirkung der Artikel des Studenten wird nicht erwähnt. Der Arzt muss auf Druck von „oben“ seine Untersuchung einstellen. Er gesteht dem Heimjungen Tanguy: „Dir habe ich es zu verdanken, dass ich die Verantwortlichen feststellen konnte . . . Leider sind meine weiteren Nachforschungen unterbunden worden. Ich habe ausdrücklichen Befehl bekommen und du kannst mir glauben, dass es mir leid tut!“ (Castillo 1958, S. 162) Als einzige Hilfe überreicht er Tanguy ein Empfehlungsschreiben einer privaten Hilfs-organisation, durch das der Junge nach seiner Flucht in das positiv beschriebene alternative Heim Pater Pardos aufgenommen wird. Von erfolgreichen Aktionen zugunsten von Heimkindern von Seiten der Gesellschaft berichten Mostar und Ossowsky aus eigener Erfahrung. Beide Autoren haben sich für die Aufdeckung von Missständen in Heimen eingesetzt und die Entlassungen eines unfähigen Erziehers bzw. Heimleiters erreicht. (vgl. Mostar 1952, S. 297 ff.; Ossowsky 1972, S. 38) Erhard zeichnet ebenfalls in der Person des Jugendfürsorgers Leukel einen möglichen Retter aus einer als destruktiv erlebten Heimerziehung. (1931, S. 148 ff.) Der Junge Hans flieht aus einem Erziehungsheim und bittet Leukel, ihn nicht wieder dorthin zurückzuschicken. Da Leukel erkennt, dass Rückführung in das traumatisierend erlebte Heim für die Entwicklung des Jungen nur schädliche Folgen hätte, setzt er seinen Einfluss ein, um eine Sonderregelung zu erreichen und Hans eine Chance zu einem selbständigen Leben zu gewähren. Leukel scheitert bei seinem Bemühen, gegen starre Ordnungsprinzipien und Kompetenzstreitigkeiten von Behörden und Heim anzukämpfen. Er muss zusehen und mitwirken bei der psychischen Zerstörung des Jungen. Der Jugendfürsorger erscheint am Ende seines Engagements als Verlierer gegen ein übermächtiges Fürsorgesystem. „Herr Leukel möchte gehen. Er hat das Werk ja nun vollendet. Sein Auftrag ist ausgeführt. Das kann er jetzt getrost in die Akten schreiben. Er hat getan, was er tun konnte. Herr Leukel hat dem Jungen das Leben erleichtern wollen. Das Leben war schwerer. Die Fürsorge hat das Beste gewollt. Die Maschine hat nicht auf einige Ecken Rücksicht nehmen können. Sie hat sich gedreht und einer ist zerquetscht worden. Wer nicht still liegt, wird immer zerquetscht. Das System ist stärker als Menschengeist und Menschenwille.“ (ebda., S. 240). Den Vergleich zwischen Fürsorgesystem und Maschine findet man auch bei Aerde (1959, S. 32) und Wilker (1924, S. 32). Die Autoren wollen zum Ausdruck bringen, dass viele Heimkinder jene Entscheidungen, die über s ie getroffen w erden, als uns innig und unmens chlich erleben. Entscheidungsprozesse von Behörden sind in vielen Fällen für die Betroffenen und mit ihnen sympathisierende Personen weder einsichtig noch nachvollziehbar. Klagen über behördliche Behandlungen, die nicht an pädagogischen sondern an verwaltungstechnischen Überlegungen orientiert sind, findet man häufig in der untersuchten Literatur. Als Symbol der Dominanz der Verwaltung über menschlichpädagogische Behandlung wird von vielen Autoren die „Akte“ genannt, die Rantzau „eine Gebrauchsanweisung auf dem Buckel“ nennt. (1931, S. 218) Die Autoren kritisieren, dass Kinder wie ihre Akte hin- und hergeschoben, „abgelegt“ und verwaltet werden. (vgl. Bjelych/Pantelejew 1929, S. 266 – 267; Brosch 1971, S. 51; Cesbron 1954, S. 12, 13; Erhard 1931, S. 156; Geiger-Gog 1929, S. 148; Lampel 1929b, S. 112) und dass durch Registrierung von Informationen in der Akte Aussagen über Persönlichkeit und Bedürfnisse von Kindern gemacht werden, die ungerechtfertigt Anspruch auf Wahrheit erheben. „Was alles in der Akte stehen mochte, konnte Jochen sich gut denken. Und wahrscheinlich war auch davon jedes Wort wahr. Darin stand keine Lüge, keine richtige Lüge. Da waren bestimmt lauter Tatsachen, und an Tatsachen lässt sich nicht rütteln. Aber lügen kann man mit Tatsachen. So furchtbar lügen, dass nichts mehr wahr ist an solcher Akte, auch wenn sie sich Wort für Wort beweisen ließe.“ (Noack 1970, S. 14) Die dargestellten Kinder fühlen sich in vielen Fällen durch behördliche Erfassung und Behandlung missverstanden und falsch beurteilt. (vgl. Aerde 1959, S. 91; Brosch 1971, S. 16; Cesbron 1954, S. 23, 63; Gothe/Kippe 1975, S. 21, 56) Vertrauen zu Behörden und damit zur Gesellschaft können sie nicht fassen. Die Klagen der Autoren finden sich in Untersuchungen über Verwaltungsprozesse in der Fürsorgeerziehung bestätigt. Vor allem Elverfeldt nennt in ihrem Vergleich zwischen öffentlicher Erziehung in der Bundesrepublik und in den Niederlanden fast identische Kritikpunkte wie die Autoren des untersuchten Materials. (1966; vgl. Aich 1973; Amann/ Nostheide 1974; Colla 1973; Wenzel 1970) Elberfeldt kritisiert am deutschen FE-System vor allem die „Trennung zwischen Erziehung und Erziehungsleitung“ (S. 163), d.h. die Platzierung der Entscheidungsgewalt der FE-Behörde beim Landesjugendamt. (vgl. S. 161) Die Erfahrung eines Jugendlichen, dass nicht Personen, die ihn kennen und die erkennt, Entscheidungen über ihn fällen, sondern Menschen in einer anonymen Behörde, die nur seine Akte kennen, müsse ihn verunsichern. Kinder und Jugendliche und Erzieher bzw. Sozialarbeiter seien so in einer sinnvollen Interaktion gestört: „So ist er nicht verwunderlich, dass von diesem System her der pädagogischen Bemühung der in den Jugendämtern tätigen Personen scharfe Grenzen gezogen sind, ja dass sie notwendig einen verwaltungsmäßigen Charakter annehmen müssen. Muß ein Zögling unter diesen Umständen nicht daran zweifeln, dass es den Behörden um seine Person geht, sonder sich vielmehr als ‚Objekt’, als ‚Fall’, als ‚Sache’ fühlen . . . „ (S. 170) Diese Dominanz der Verwaltung über pädagogisches Handeln kritisiert Elverfeldt ähnlich wie die zitierten Autoren der untersuchten Literatur mit einem Begriff aus der Technik. Sie vergleicht Entscheidungsabläufe der öffentlichen Erziehung mit einem „Fließband“. (S. 171) Elverfeldt hebt gegenüber dem deutschen FE-System das niederländische als weitaus durchschaubarer und einsichtiger hervor. Dass selbst Aerde, ein niederländischer Autor, den Verwaltungsapparat mit einer Maschine vergleicht (S. 199) beweist, dass sogar in relativ offenen Systemen die Gefahr der Bürokratisierung von Entscheidungsprozessen besteht. Durch starre an technische Strukturen erinnernde Systeme kann kindorientiertes Handeln verhindert werden. Parteinahme für Heimkinder von Erwachsenen, die sich für sie einsetzen und ihr Handeln an den Bedürfnissen der Kinder orientieren wollen, scheitert letztlich an Gesetzen, Systemen und Verordnungen, an bürokratischer Hierarchie. Auch in Meinhofs Schauspiel ist das Engagement der Erzieherin Frau Lack für ein Heimmädchen aufgrund ihrer Machtlosigkeit angesichts der Bürokratie zum Scheitern verurteilt. „Frau Lack: Wie soll man diese Arbeit aushalten, wenn die Herren am grünen Tisch nichts anderes zu tun haben, als sie wieder kaputtzumachen. Was weiß Herr Maschner (Beamter des Landesjugendamtes, Anm. d. Verf.) von Monika Gerold (Heim-mädchen, Anm. der Verf.) außer, daß er die Akte kennt?“ (1971, S. 64) Wie Herr Leukel muss auch Frau Lack gegenüber der Übermacht des hierarchischen Systems resignieren, wie er wird sie zum Helfer dieses Systems, will sie nicht ihren Beruf aufgeben. 4. Schlussbemerkung Der Widerspruch zwischen Systemen, die pädagogisch angemessenes Verhalten verhindern, und dem Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf eine Erziehung, die ihren Bedürfnissen gerecht wird, führt wieder zur Ausgangsfrage zurück. Sind auch Pädagogen, die das Beste für Heimkinder wollen, durch institutionelle, bürokratische und gesellschaftliche Zwänge „Fertigmacher – wider Willen“? Müssten sie nicht eigentlich Widerstand leisten gegenüber den Charakteristika eines Systems, die pädagogisch sinnvolles Handeln verhindern und pädopathologisches begünstigen? Die Anklagen vieler Heimkinder in der untersuchten Literatur richten sich nicht nur gegen ihre Erzieher, sondern gegen die Gesellschaft insgesamt, gegen alle, die „wussten“ und doch nicht handelten und halfen. In Castillos Roman fragt ein Heimjunge beim Besuch eines hohen Geistlichen im Heim: „Er weiß doch, was hier vor sich geht. Gewiß nicht alles. Aber er weiß das Wesentliche. Und ist also damit einverstanden?“ (1958, S. 159) Wissen verpflichtet zum Handeln, Verweigerung von Hilfe ist Schuld. Diese Untersuchung kann nicht den Anspruch erheben, Aussagen über die Wirklichkeit in Erziehungsheimen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1979 zu machen. Aber es bleibt zu bedenken, dass Veröffentlichungen von Heimkindern und ihren Parteigängern, deren Heimerlebnisse vermutlich bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts reichen, in die Ergebnisse einflossen. Auch wenn in Betracht gezogen werden muss, dass durch die von der 68er Studentenbewegung ausgelöste Heimkampagne Liberalisierungsprozesse in der Heimerziehung in Gang gesetzt wurden, muss angesichts der Entwicklung 1979 wieder mit restriktiven Tendenzen gerechnet werden. (vgl. Möllhof/Möllhof 1979) Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, was in Heimen der Vergangenheit an Zumutungen, Misshandlungen und an Leiden in und an Kindern ausgelöst worden ist und aufgrund der aufgezeigten institutionellen Zwänge und Mechanismen jederzeit möglich ist. Es konnten auch Ansatzpunkte aufgezeigt werden, was an positiver Erziehung selbst in Heimen zu verwirklichen ist, welche Bedürfnisse und Wünsche Heimkinder hinsichtlich ihrer Erziehung haben und welche Grenzen Sozialisation in Heimen gesetzt sind. Wenn man nicht gleichgültig den Problemen von Heimkindern gegenüberstehen will und damit schuldig wird an den betroffenen Kindern, muss man Denk- und Handlungsprozesse in Gang setzen, die Praxis von Heimerziehung positiv verändern können. Spürbare Praxisinnovation kann aber nur auf der Grundlage eines öffentlichen Problembewusstseins geschehen: „. . .die Fürsorgeerziehung muß eines ganzen Volkes Sache sein.“ (Wilker 1924, S. 165; vgl. Bäuerle/Markmann 1974, S. 18) Heimerziehung in einer demokratischen Gesellschaft darf nicht Leben außerhalb dieser Gesellschaft sein, will sie junge Menschen auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten. Sie wäre damit in letzter Konsequenz nicht mehr Erziehung „im Heim“. Vor allem durch prophylaktische Jugendhilfe im Rahmen von Stadtteilarbeit, Elterngruppen bzw. offener Jugendhilfe, also durch Versuche, Jugendprobleme am Ort der Entstehung anzugehen und dem verstärkten Einsatz alternativer Modelle zur traditionellen Heimerziehung (Jugendwohngemeinschaften, Heilpädagogische Pflegestellen etc.) sollte deshalb Verringerung von Heimeinweisungen angestrebt werden. Rechtliche und bürokratische Strukturen sollten anhand pädagogischer Maßstäbe überprüft und gegebenenfalls verändert werden. Eine demokratische Gesellschaft müsste bereit sein zur Änderung von Systemen, die ein befriedigendes Leben und eine menschenwürdige Erziehung einer Teils ihrer Mitglieder verhindern. Anhang Zuordnung der untersuchten Veröffentlichungen in literarische Kategorien Literatur autobiographischen Charakters Behan 1959; Bjelych/Pantelejew 1929; Bronte 1847 (Ausg.1949); Brosch 1971; Brown 1966; Castillo 1958; Cousins 1955; Cremer 1964; Forel 1910; Genet 1969; Glaser 1953; Graham/Frank 1959; Honegger 1972; Leitgeb 1948; Loosli 1924; Schaffner 1922; Stanley 1911; Werner 1969 Romane (z.T. biographisch)/Erzählungen Aerde 1959; Capote 1969; Cesbron 1955; Dickens 1837/38; Erhard 1931; Fichte 1965; Geiger-Gog 1929; Jaeger 1968; Lawrence 1969; Lenz 1968; Malten 1951; Motley 1951; Noack 1970; Ossowsky 1967 u. 1974; Rantzau 1931; Richter 1929; Ritter-Bern 1926; Salzmann 1784-88; Schwarz 1975; Sillitoe 1967; Stenglin 1912; Ulitz 1928; Webster 1948; Weinheber 1953 Biographien Mailer 1973 Berichte Koerber 1955; Mostar 1952 Protokolle Bembe 1950; Gothe/Kippe 1975; Lampel 1929a Schauspiele Lampel 1929b; Meinhof 1971 biographische und autobiographische Literatur aus der Sicht von Heimgründern und -leitern Borelli/Thorne 1964; Burmeister 1953; Davey 1974; Gothe/Kippe 1975 u. 1976¸ Gotthelf 1839; Heimersdorf 1927; Makarenko 1937 (Ausg. 1969); Ossowsky 1972; Oursler 1948; Pestalozzi 1799 (Ausg. 1927); Ronner 1955; Simon 1954; Wilkers 1924; Wilkerson 1976 LITERATURVERZEICHNIS – MATERIAL Aerde, Rogier van: Der Ausreißer, Freiburg 1959 Behan, Brendan: Borstal Boy, New York 1959 Bembe, Hans: Gefährliches Blut, Der Lebensbericht des siebzehnjährigen Wilfried Helm, Stuttgart 1950 Bjelych, G./Pantelejew, L.: Schkid, die Republik der Strolche, Berlin 1929 Borelli, Mario/Thorne, Anthony: Don Vesuvio, Der Lumpenpriester von Neapel, Freiburg, Basel, Wien 1964 Bronte, Charlotte: Jane Eyre, 1847, abridged and simplified by E. M. Attwood, London 1949 Brosch, Peter: Fürsorgeerziehung – Heimterror, Gegenwehr, Alternativen, Frankfurt a. M. 1975 Brown, Claude: Im gelobten Land, Eine Jugend in Harlem, New York 1965, München 1966 (deutsche Ausgabe) Burmeister, Eva: 45 in der Familie, Aus ihren Erlebnissen mit Kindern erzählt, Berlin – Frankfurt 1953 Capote, Truman: Kaltblütig, Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen, Reinbeck bei Hamburg 1969 (Orig. 1965) Castillo, Michel del: Elegie der Nacht, Dokumentarischer Roman, Hamburg 1958 Cesbron, Gilbert: Wie verlorene Hunde, Heidelberg 1954 Cousins, Sheila: Ich schäme mich nicht, Berlin 1955 Cremer, Jan: Ich, Jan Cremer, Amsterdam 1964 Davey, Cyril: Die Familie Santi und ihr Waisenhaus „Casa Materna“, Hamburg 1964 (Orig. 1966) Dickens, Charles: Oliver Twist, London 1837/38, Ausgabe Klagenfurt o.J. Erhard, Justus: Straßen ohne Ende, Berlin – Wien 1931 Fichte, Hubert: Das Waisenhaus, Reinbeck bei Hamburg 1965 Forel, August (Hrsg.): Erinnerungen eines Waisenknaben, von ihm selbst erzählt, München 1910 Geiger-Gog, Anni: Heini Jermann, Der Lebenstag eines Jungen, Stuttgart 1929 Genet, Jean: Wunder der Rose, Miracle de la Rose, Reinbeck bei Hamburg 1979 (Orig. 1946) Glaser, Georg: Geheimnis und Gewalt, Stuttgart 1953 Gothe, Lothar; Kippe, Rainer: Ausschuß, Protokolle und Berichte aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen, Köln 1975 (1. Auflage 1970) Diess.: Aufbruch, 5 Jahre Kampf des SSK: von der Projektgruppe für geflohene Fürsorgezöglinge über die Jugendhilfe zur Selbsthilfe verelendeter junger Arbeiter, Köln 1976 Gotthelf, Jeremias: Die Armennoth, Zürich 1839 Graham, Sheila; Frank, Gerold: Die furchtlosen Memoiren der Sheila Graham, Wiesbaden 1968 (Orig. New York 1958) Heimersdorf, Pastor Karl: Er gab – ich nahm, Erinnerungen aus der Jugend, aus dem Gemeinde- und Anstaltsamt, Kaiserswerth 1927 Honegger, Arthur: Die Fertigmacher, Zürich – Köln 1974 Jaeger, Henry: Das Freudenhaus, München 1968 Koerber, Lenka von: Verirrte Jugend, Hamburg 1955 Lampel, Peter Martin: Jungen in Not, Berichte von Fürsorgezöglingen, Berlin 1929 Lawrence, Maureen: The Tunnel, London 1969 Leitgeb, Josef: Das unversehrte Jahr, Chronik einer Kindheit, Salzburg 1948 Lenz, Siegfried: Deutschstunde, Hamburg 1968 Loosli, Carl Albert: Anstaltsleben, Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Fürsorgezöglings, Bern 1924 Ders.: Ich schweige nicht! Erwiderungen an Freunde und Gegner auf ihre Äußerungen zu meinem Anstaltsleben, Bern 1925 Mailer, Norman: Marilyn Monroe, Eine Biographie, München-Zürich 1976 Malten, Thea: Nina hält ihr Wort, Stuttgart 1951 Makarenko, Anton Semenovic: Ein pädagogisches Poem, Moskau 1937, in: Ausgewählte pädagogische Schriften, Paderborn 1969 Meinhof, Ulrike Marie: Bambule, Fürsorge – Sorge für wen?, Berlin 1976 Mostar, Hermann: Verlassen, Verloren, Verdammt, München 1952 Motley, Villard: Viele finden nicht zurück, Gütersloh 1951 Noack, Hans-Georg: Rolltreppe abwärts, Baden-Baden 1970 Ossowsky, Leonie: Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann, München 1967 Diess.: Zur Bewährung ausgesetzt, München 1972 Diess.: Mannheimer Erzählungen, München 1974 Oursler, Fulton u. Will: Pater Flanagan von Boys Town, Baden-Baden, Stuttgart 1961 (ersch. 1948) Pestalozzi, Johann Heinrich: Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans 1799, Ausg. Bern 1927 Rantzau, Lilly Gräfin: Sprung über den Schatten, Der Roman eines Fürsorgezöglings, Berlin 1931 Richter, Justin: Die in ihre Hände fallen . . . ! Jugend in Not! Eine Skizze, Berlin 1929 Ritter-Bern, Wolf: Der Drahtzaun, Aufzeichnungen des Fürsorgezöglings Günther Rodegast, Hamburg-Bergedorf 1926 Ronner, E.E.. Der Mann mit der Laterne, Das Leben Th. J. Barnados, St. Gallen 1955 Salzmann, Christian Gotthilf: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, Carlsruhe 1784 – 1788 Sillitoe, Alan: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, Zürich 1974 (Orig. London 1959) Simons, Boris: Der Lumpensammler von Emmaus, Abbe Pierre im Kampf gegen das Elend, Heidelberg 1954 Schaffner, Jakob: Johannes, Roman einer Jugend, Erlebnisse in einer pietistischen Armenanstalt, Stuttgart 1922 Schwarz, Alexandra: Stephanie probt die Freiheit, Stuttgart 1975 Stanley, Henry Morton: Mein Leben, München 1911 Stenglin, Felix Freiherr von: Arme Sünder, Die Geschichte eines Fürsorgezöglings, Charlottenburg 1922 Ulitz, Arnold: Aufruhr der Kinder, Berlin 1928 Webster, Jean: Daddy Langbein und Lieber Feind, Berlin 1948 Weinheber, Josef: Das Waisenhaus, Salzburg 1953 (ersch. 1924) Werner, Wolfgang: Vom Waisenhaus ins Zuchthaus, Frankfurt 1969 Wilker, Karl: Der Lindenhof, Werden und Wollen, Kettwig 1924 Wilkerson, David: Das Kreuz und die Messerhelden, Erzhausen 1976 (Orig. 1963) Ziegler, Alexander: Die Konsequenz, Frankfurt a. M. 197 LITERATURVERZEICHNIS – FACHLITERATUR AFET: Zur Problematik geschlossener Unterbringung im Rahmen der Heimerziehung, Sonderdruck der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe e.V., Hannover 1979 Ahlheim, Rose u.a.: Gefesselte Jugend, Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1972 Aich, Prodosh (Hrsg.): Da weitere Verwahrlosung droht . . . – Fürsorgeerziehung und Verwaltung, Reinbeck bei Hamburg 1973 Amann, Heinz; Nostheide, Helmut L.: Betrachtungen zur Heimerziehung, in: Jugendliche unter Zwang, Zur Fragwürdigkeit geschlossener Institutionen, Konstanz 1974 Bäuerle, Wolfgang; Markmann, Jürgen (Hrsg.): Reform der Heimerziehung, Materialien und Dokumente, Weinheim/Basel 1974 Behr, Sophie von: Sozialfall Heimkind: Wie kommen Kinder bis zu sechs Jahren in Westberlins Heime, in: Gerber, U. (Hrsg.): Holt die Kinder aus den Heimen, BerlinCharlottenburg 1974 Colla, Herbert E.: Der Fall Frank, Exemplarische Analyse der Praxis öffentlicher Erziehung, Neuwied/Berlin 1973 Elverfeldt, Anna Freiin von: Die Fürsorgeerziehung in Deutschland und den Niederlanden, Ein Vergleich, Münster 1966 Figger, Wilhelm: Sexuelle Konflikte in der Heimerziehung, in: Kerscher, I. (Hrsg.): Konfliktfeld Sexualität, Neuwied/Darmstadt 1977 Gerber, Uwe (Hrsg.): Holt die Kinder aus den Heimen, Alternativen zur Heimunterbringung, Berlin-Charlottenburg 1974 Goffman, Erving: Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1975 Ders.: Asyle, Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1977 INFO Sozialarbeit, Heft 1: Fürsorgeerziehung, Frankfurt-Offenbach 1972 Kerscher, Ignatz: Die Lust am Bösen, Über die Herkunft der Gewalt . . . in: sozialmagazin 8/78, S. 41 – 44 Kluge, K.-J.; Lützenkirchen, U.: Fachwörterbuch für soziale Problematik in Heim und Schule, Köln 1975 Ders.; Vosen, M.: Kölner Verhaltensauffälligenpädagogik, Grundsätze, Methoden und Forschungsergebnisse, Rheinstetten 1975 Ders.; Oversberg, M.: Soziale Problematik – Leitbegriff, Verhaltensformen, Pädagogik, Therapie und Prognose, Rheinstetten 1976 Ders.: Einführung in die Heimpädagogik der Gegenwart – ein Beitrag zur Demokratisierung von Gefährdeten und Verwahrlosten sowie zur Verminderung von Segregation, Darmstadt 1979 Koenig, Claudia; Pelster, Mariele: Reform im Ghetto – die Geschichte eines Mädchenerziehungsheimes – eine Fallstudie, Weinheim, Basel 1978 Mehringer, Andreas: Heimkinder, München 1976 Meyer-Dettum, Klaus; Bauer, Rudolf: Musterstücke und Widersprüche – Zur Analyse der Entwicklungsprozesse in der Heimerziehung, in: Neue Praxis 3/77, S. 194 – 212 Mollenhauer, Klaus: Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim 1964 Möllhof, Beate; Möllhof, Manfred: Geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen – Problemdiskussion und Literaturdokumentation, Frankfurt 1979 Muss, Barbara: Gestörte Sozialisation, Psychoanalytische Grundlagen therapeutischer Heimerziehung, München 1973 Pongratz, L.; Hübner, H.O.: Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung – Eine Hamburger Untersuchung über das Schicksal aus der Fürsorge-Erziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe entlassener Jugendlicher, Neuwied/Berlin 1959 Roeper, Friedrich Franz: Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim, Göttingen 1966 Rosen, Rita: „Sexuelle Verwahrlosung“ von Mädchen, Anmerkungen zur Doppelmoral in der Sozialarbeit, in: Kerscher, I. (Hrsg.): Konfliktfeld Sexualität, Neuwied/ Darmstadt 1977, S. 207 – 223 Roth, Jürgen: Heimkinder, Köln 1973 Scherpner, Hans: Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 1966 Schöffel, Luise: Sozialfall Heimkinder – dargestellt am Fall T., in: Gerber, U. (Hrsg.): Holt die Kinder aus den Heimen, Berlin-Charlottenburg 1974 Soukup, Günter: Das unaufgebbare Verlangen nach Glück – Über Bedürfnisse, in: sozialmagazin 9/79, S. 14-20 sozialmagazin: Trennung und Verlassenheit – Heimerziehung, 12/78, S. 9 o.V. ebda.: Psycho hinter Gittern – Drogenstation, 2/79 S. 6 – 7 o.V. ebda.: Knast für Kinder darf nicht sein, Jugendhilferecht, 3/79, S. 62-63, o.V. ebda.: Wo Kinder nicht mehr weglaufen müssen, Aufruf für eine „alternative Heimliste“, 5/79, S. 6 – 7, o.V. ebda.: Kindergefängnisse sollen verboten werden – Ein letzter Aufruf des ISS, 8/79, S. 72, o.V. Späth, Karl. H.: Heillose Verwahrung, Erziehung in geschlossenen Heim, in: sozialmagazin 9/79, S. 12 – 15 Ders.:: Die Widersprüche der pädagogischen Technokratie, Geschlossene Verwahrung, in: sozialmagazin 10/79, S. 14 – 15 Tausch, R.; Tausch, A.: Erziehungspsychologie, Göttingen 1973 Wenzel, Hermann: Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik – Eine Untersuchung in Heimen für männliche Jugendliche und Heranwachsende, Stuttgart 1970 Wilfert, Otto: Das Erziehungsheim – Beiträge zu Theorien der Heimerziehung, NeuwiedDarmstadt 1976 Wölfel, Ursula: Fürsorgerische Heimerziehung in der biographischen und schönen Literatur, in: Trost, Friedrich (Hrsg.): Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt 1952, S. 1265 - 1283
© Copyright 2024 ExpyDoc