Montag, 22. Juni 2015 Nr. 141 Ein Fiat Panda mit ausländischen Kennzeichen kann sich selbst im dichtesten Feierabendverkehr einer Schweizer Stadt viel erlauben, man lässt ihm freundlich den Vortritt, selbst wenn er drängelt. Aber unterlassen Sie, um Gottes Willen, ein solches Manöver in einer Limousine der Oberklasse mit deutschen Nummernschildern! Dabei hatte ich nicht einmal gedrängelt, sondern war nur in die falsche Spur zum Abzweig vom Schweizerhofquai Richtung Zürich geraten. Mein höflich abwartendes Blinken nach links wurde mit einem wütenden Hupkonzert quittiert. Beim Stopp am nächsten Rotlicht kam es dann zum Wortgefecht: Durch das offene Wagenfenster rief’s: «Sauschwob!» Der Schlötterlig, den ich entgegenschleuderte, ist nicht publikationsfähig. Nicht das Was, sondern das Wie des Fluchs tat seine Wirkung, die stadtluzernisch-aarauische Hausmischung meines Ideolekts führte zur sofortigen Einstellung des verbalen Duells. Es gab nichts mehr zu schimpfen, denn ich war ja einer von hier. Der Wechsel der Ampel auf Grün dauerte gefühlte zehn Minuten, es lag jene Beklommenheit in der Luft, welche schon die alten Eidgenossen beim Rückzug aus der Schlacht von Marignano gespürt haben müssen. Zur Beschreibung des Nachkriegsverhältnisses von Deutschland und der Schweiz wähle ich, deutscher Beamter mit Schweizer Pass, die Froschperspektive des Zeitzeugen. Ich war ja selber Kind zu jener Zeit der Kinderzüge, als zwischen 1946 und 1956 gegen 44 000 deutsche Mädchen und Buben von Schweizer Gasteltern für drei Monate aufgenommen wurden. Wir erfahren, mit Henri Bergson gedacht, die Welt immer doppelt: zum einen als Durée, als ununterbrochener Strom leiblicher Wahrnehmung, seit wir empfinden können. Andererseits gibt es jene Erinnerungen, die sich Erzähltem und schriftlichen Berichten verdanken und sich unvermerkt mit dem selbst Erlebten verschränken. Die Gedächtnisorte meiner Kindheit sind ausstaffiert mit Schwarz-Weiss-Fotografien aus Filmen und Zeitungen von damals. Meine ersten inneren Bilder der Zeitgeschichte stehen im Zusammenhang mit dem Ungarnaufstand. Nach dessen Niederschlagung durch sowjetische Truppen im November 1956 strömten gegen zweihunderttausend ungarische Familien in die Schweiz. Meine Eltern hatten die vierköpfige Familie Fekete bei uns zu Hause aufgenommen, bis das Rote Kreuz für sie eine Wohnung gefunden hatte. Am Bahnhof Luzern hatten wir sie abgeholt. Die Szenen ankommender Züge mit Flüchtlingen aus Ungarn überlagern so die Bildberichte der Kinderzüge aus Deutschland, ohne dass mein Gedächtnis die beiden Ereignisse scharf unterscheiden könnte. Die Vermischung von Erlebtem und Erzähltem ver- Die Vermischung von Erlebtem und Erzähltem versetzt das Erinnerte in eine eigenartige Traumzeit. setzt das Erinnerte in eine eigenartige Traumzeit, die mich zum Augenzeugen ermächtigt, auch wenn ich beim Start der Schweizer Hilfsaktion gerade erst geboren war. Die historischen Fotografien spiegeln mir ein Lebensgefühl zurück, das ich mit meinen etwas älteren Generationsgenossen aus Deutschland teile: diese oft zu grossen Mäntel, in denen die Ankommenden stecken, wohl von den älteren Geschwistern schon angetragen – «du wächst da noch hinein», höre ich meine Mutter sagen; diese fohlenartig heraustretenden Kniegelenke der Knaben in kurzen Hosen, die Haare im Nacken hochgeschoren; diese Schmetterlingshaarschleifen der Mädchen, auf dem Scheitel eine Tolle, sorgfältig gerollt; oder das Haar ist zu Zöpfen gezähmt, zu schneckenförmigen Haarkränzen, zu wippenden Affenschaukeln um die Ohren. So hat Kindheit ausgesehen, auch auf dem Pausenplatz meiner Felsbergschule im Wesemlin. Den Kinderkolonnen voran marschieren energische Frauen in Uniformen von feldgrauem Filz, die Taille durch einen schmucklos breiten Ledergürtel markiert. Die Schlichtheit, ja gar Armseligkeit der Kleidung ist dadurch ausgeglichen, dass jeder Knopf am richtigen Ort sitzt. Was für ein Unterschied zum heutigen Schlabberlook bei Jung und Alt! Ein Zug aus Deutschland umfasste um die 400 Kinder, die von jeweils 40 Mitarbeiterinnen des Schweizerischen Roten Kreuzes begleitet wurden. Ein bis zwei Tage dauerte die Reise aus den von den Alliierten besetzten Zonen Westdeutschlands und Berlins, da Züge wegen zerstörter Geleise auf französische Bahnlinien ausweichen mussten. Erste Station war das Quarantänelager Schaffhausen, wo die Kinder von der Grenzsanität in Empfang genommen wurden: duschen, Haare waschen, entlausen, desinfizieren. Viele Kinder hatten Angst vor dem Haarföhn, wird berichtet, zu Hause gab es das noch MEINUNG & DEBATTE 17 Neuö Zürcör Zäitung Die Schweiz und ihre Schwaben Zum Nachkriegsverhältnis von Deutschland und der Schweiz: Erinnerungen und Eindrücke eines Zeitzeugen. Gastkommentar von Beat Wyss nicht, jenes laute, windige Gerät, das an eine übergewichtige Ordonnanzpistole erinnerte. Die Lagerbaracken waren mit den Wappen der Kantone gekennzeichnet, denen die Kinder zugeteilt werden sollten. War die Quarantäne überstanden, ging es mit der Eisenbahn an die Wohnorte der Gastfamilien. Auf einem Pappkarton, mit Schnur um den Hals gebunden, standen Herkunft und Name des Kindes, damit sich die kleinen Gäste und ihre Pflegeeltern am Zielbahnhof schnell finden konnten. Rund 100 000 Gastfamilien meldeten sich. Mädchen waren leichter zu vermitteln als Knaben. Was war das Motiv der Schweizer für diese Gastfreundschaft? Christliche Nächstenliebe wird gern genannt, aber auch Dankbarkeit für das Glück, vom Krieg verschont gewesen zu sein. Ohne diese untadeligen Motive anzweifeln zu wollen, gilt es, die Gründe etwas tiefer anzusetzen. Könnte es sein, dass die Schweizerinnen und Schweizer, wie uneingestanden auch immer, von schlechtem Gewissen geplagt wurden? Was wusste man von den ungezählten Flüchtlingen, die an der Schweizer Grenze abgewiesen worden waren? Wenigstens den Fall Paul Grüninger kannten alle zeitungslesenden und Radio Beromünster hörenden Eidgenossen. Offiziell galt der Sankt Galler Polizeihauptmann als Landesverräter, der Flüchtlingen die Fälschung und Vordatierung von Reisepässen ermöglichte. Er hatte damit Hunderte von Verfolgten, zumeist Juden, vor den Vernichtungslagern bewahrt. Während der Staat Israel Grüninger den Titel eines «Gerechten der Völker» verlieh, blieb er hierzulande lebenslang geächtet, ohne je wieder eine feste Anstellung zu finden. Mit seiner Beamtenstelle verlor er auch die Pension. Im Sinne von Sippenhaftung wurde sogar Tochter Ruth um ihre berufliche Karriere gebracht, da sie ihren Studienplatz an der Handelsschule in Lausanne verlor. Der aufrechte Bürger in Uniform wurde erst 21 Jahre nach dem Tod im Jahr 1972 rehabilitiert. Was wussten die Gastfamilien der Kinder aus Deutschland über geschäftliche Verbindungen von Landsleuten mit den Nazis? In der Tat: Das Thema Fluchtgeld und nachrichtenlose Vermögen wurde erst Jahrzehnte später publik. Doch von der lukrativen Kriegswirtschaft konnte die Öffentlichkeit schon zu Kriegszeiten wissen. Der aus Pforzheim stammende, 1937 eingebürgerte Emil Georg Bührle, Mehrheitsaktionär der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, machte ein Riesengeschäft mit dem Deutschen Reich. Das Auftragsvolumen während des Zweiten Weltkriegs betrug jährlich 120 bis 180 Millionen Franken, während die Alliierten nicht beliefert wurden. Die Schweiz sei von den faschistischen Achsenmächten umgeben, war eine Entschuldigung, welche die USA nicht gelten liessen. Bührle stand auf der schwarzen Liste der Kollaborateure bis 1947, als die US Navy mit Oerlikon in Sachen Flugabwehrraketen ins Geschäft kam. Das bringt uns auf ein anderes heikles Thema, das von den Schweizern gern verdrängt wird. 38 alliierte Bomber gingen in der Nordostschweiz nieder. Manchmal waren die Flugzeuge gezwungen, nach Einsätzen gegen Deutschland wegen Treibstoffmangels die Abkürzung über eidgenössisches Hoheitsgebiet zu nehmen. Dabei kam es zu Abschüssen seitens der Schweizer Flugabwehr, die gnadenlos auch auf notlandende beschädigte Maschinen schoss. Man begründete die scharfe Haltung mit den 70 irrtümlichen Bombardierungen in der Nordostschweiz, denen 84 Menschen zum Opfer fielen. Doch die Alliierten hatten Mühe, das eigensinnige Wehrverhalten der Eidgenossen zu akzeptieren. Immer wieder kam es zu Klagen wegen Un- gleichbehandlung abgeschossener Piloten. Angehörige der Wehrmacht würden, im Gegensatz zu den Amerikanern, nicht gefangen genommen, sondern ungeschoren wieder heim ins Reich gelassen; einige deutsche Soldaten hätte man gar zur Erholung nach Davos geschickt. Die Schweiz liess sich die Unterbringung der internierten Piloten vergüten. Nach vierjährigen zähen Verhandlungen zahlten die Amerikaner für Kost und Logis der in der Schweiz gestrandeten Soldaten 14,4 Millionen Franken. Die 61 Soldaten, die zwischen März 1944 und November 1945 in der Nordostschweiz nach Luftgefechten verstarben, wurden im Amerikanerfriedhof Münsingen beerdigt. Die letzte Ruhestätte blieb allerdings Provisorium. 1948 wurden die sterblichen Überreste der Soldaten exhumiert und in ihre Heimat zurückgeführt. Die Schweiz als neutraler Staat wünschte keine gemeinsamen Erinnerungsstätten in Europa und Amerika. Wir sind wir! Schliesslich hatte man sich im Sinne immerwährender Neutralität am eigenen Schopf aus dem Kriegsschlamassel gezogen. Angesichts der Verstimmung zwischen der Schweiz und den Alliierten wundert es nicht, wenn die westlichen Siegermächte dem Vorhaben der Kinderzüge zunächst eher reserviert gegenüberstanden. Sie waren wenig interessiert an einer Hilfsaktion, die den Eindruck erwecken musste, man hätte in den drei Westzonen die humanitären Probleme im zerstörten Deutschland nicht im Griff. Die USA sicherte ja schon eine regelmässige Verpflegung für dreieinhalb Millionen Kinder im Rahmen der Hooverspeisung, benannt nach dem 31. Präsidenten der USA, Herbert Hoover. Die Besatzungsmächte hatten Deutschland unter enormen Kriegsopfern befriedet. Ganz zu schweigen von den 37 Millionen Toten in der Sowjetunion, starben 407 316 amerikanische Soldaten in einem Krieg, der im fernen Europa angezettelt worden war. Es war der Marshallplan, der die entscheidenden Massnahmen zum Wiederaufbau und zur Wohlfahrt nicht nur Deutschlands, sondern ganz Westeuropas im Rahmen einer stabilen Nachkriegsordnung eröffnete. Den USA musste es daher schon etwas An den hungernden Kindern aus Deutschland konnte die Schweiz ihre Grossherzigkeit beweisen. sauer aufstossen, als die Eidgenossen den Rettern westlicher Demokratie ihre Rechnung präsentierten für die Kosten ihrer zuvor abgeschossenen, internierten Amerikaner. Schliesslich aber liess man das Schweizerische Rote Kreuz gewähren. Die Kinderzüge hatten vor allem eine psychologische Wirkung, dem Nachbarland sollte nach der Kapitulation die Hand zur Hilfe ausgestreckt werden. Man war bereit zu teilen, den Schweizer Haushalten ging es schon bald wieder gut. Am 1. Juli 1948 konnte die Rationierung von Lebensmitteln, selbst für Fett, Öl, Reis und Mehl, ganz aufgehoben werden. Die Hilfsaktion für die 44 000 deutschen Gastkinder war auf zehn Jahre verteilt. Dazu kamen im selben Zeitraum noch weitere 140 000 Gastkinder aus Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Belgien, Italien und Ungarn. Zum Vergleich: Libanon hat heute mit gut vier Millionen Einwohnern etwa so viele wie die Schweiz Ende der 1940er Jahre. Das kleine Land beherbergt gegenwärtig über eine Million Kriegsflüchtlinge, deren Aufenthaltsdauer unbestimmt ist. Die Nachkriegsschweiz dagegen hatte die Einwanderung als temporäre Hilfsaktion in eigener Regie voll im Griff. Nicht zufällig gehören Bahnhofszenen ankommender und abfahrender Kinder zu den häufigsten Motiven fotografischer Dokumentation. Die Schweiz verband ihre Gastfreundschaft mit dem Stolz, zu zeigen, wie schön man es hier haben könnte. Aber Gäste sind dazu da, dass sie dann auch einmal wieder gehen. Dieser Moment wurde besonders häufig festgehalten. Wie verwandelt sahen die Kinder nach drei Monaten aus: alle ganz proper, manchmal steckten die Füsse gar in weissen Socken und in auf Hochglanz gewichsten Schuhen, der neue Mantel von PKZ wie angegossen, in der Hand den neuen Regenschirm zum Andenken. Die Schweiz dokumentierte in diesen Abschiedsbildern, dass sie sich nicht hatte lumpen lassen. Die Presse meldete Gewichtszunahmen von bis zu 12 Pfund pro Kind. Die strotzenden Zahlen wurden illustriert mit Fotos von lachenden, pausbäckigen, rotwangigen Kindern, denen das Schweizerland bei Bergluft, Käse, Alpenmilch und Schokolade gutgetan hatte. An den hungernden Kindern aus Deutschland konnte die Schweiz ihre Grossherzigkeit unter Beweis stellen. Nach sechs Jahren ausgestandener Angst vor dem Einmarsch der Wehrmacht schienen sich die Grössenverhältnisse plötzlich umgekehrt zu haben. Der grosse Kanton, noch eben ein unberechenbar gefährlicher Nachbar, war mit der Hilfsaktion der Kinderzüge auf das Format eines Bettlers geschrumpft. Die Schweiz ist ein durchaus gastfreundliches Land. Von den derzeit acht Millionen Einwohnern sind fast ein Viertel Einwanderer. Nach Luxemburg mit 44 Prozent hat die Eidgenossenschaft den zweithöchsten Ausländeranteil in Europa. Als liberaler Nachtwächterstaat verhält sich die Eidgenossenschaft nicht nur offen gegenüber Immigranten aus Schwellenländern und Armutsregionen, sondern Kinder merken sofort, dass Mundart ein Herrschaftsinstrument ist, das den sozialen Einund Ausschluss regelt. zieht auch die Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte an. Ja, den Armen gibt man gern etwas ab, die machen dann auch die Arbeit, für welche die Schweizer sich zu schade sind. Das Fremdeln richtet sich eher gegen die schmale Schicht der Ausländer, die den etwas behäbigen Eidgenossen die Spitzenpositionen streitig machen und es ihnen an gehobenem Lebensstil gleichtun. Mit Abstand am unbeliebtesten sind die 300 000 meist gutsituierten Deutschen im Land. Meine Frau ist selber Schwäbin und stolz auf ihre Heimat mit den Rebbergen am Neckar, dem schmackhaften Gaisburger Marsch zum Vespern, geteilt mit Landsleuten wie Hegel, Schiller, Mörike und Hölderlin. Sie hat sich während unseres dreijährigen Forschungsaufenthalts am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich zunehmend unwohl gefühlt in einem Land, wo der Schwob ein geschlechtsneutrales Schimpfwort ist, das alle Bewohner zwischen Flensburg und Lörrach gleichermassen verwünscht. Meine Tochter hingegen hat die Schweizer Jahre in bester Erinnerung. Nachdem ich mit dem in Stuttgart geborenen Kind zuvor nie Dialekt geredet hatte, sprach sie nach vier Wochen Züritüütsch wie eine Einheimische – so wie es von vielen deutschen Gastkindern nach dem Krieg berichtet wird. Kinder merken sofort, dass Mundart ein Herrschaftsinstrument ist, das den sozialen Einschluss und den Ausschluss regelt. Dialekt bedeutet etymologisch ein auf gleicher Stufe Miteinander-reden-Dürfen, ist somit ein Privileg, worauf meine Tochter noch heute besteht. Stolz spricht sie mit mir, auch in der Berliner Diaspora, ausschliesslich schweizerdeutsch. Aber eben: Je länger wir nun wieder in Deutschland sind, desto mehr beginnt sie exakt jene Aussprachefehler zu machen, die typisch sind für den Schwob, der sich übereifrig durch dialektales Reden anpassen will. Diese Mühe ist übrigens unerwünscht, gerade wenn sich erwachsene Deutsche ihr unterziehen. Wenn sie schon herkommen müssen, dann sollen sie wenigsten in der Sprache draussen bleiben. ........................................................................................................ Beat Wyss, 1947 in Basel geboren, ist Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Beim Text handelt es sich um ein Referat, das er am 15. Juni anlässlich des NZZ-Podiums in Berlin zum Thema «Ein Neuanfang – hüben wie drüben. Deutschland und die Schweiz 1945» gehalten hat.
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