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Antonin Artaud und die Psychotherapie des 21. Jahrhunderts in Wien
(vorläufige Fassung, nicht zur Weiterverarbeitung oder Zitation freigegeben!)
1.) Einleitung
Als ich vor drei Wochen vor meinem Artaud-Text saß und hörte, dass man in Rodez zwecks
Übersetzung auf ihn wartete, war ich etwas verzweifelt. Die vergangenen Monate waren
beruflich und privat sehr anstrengend gewesen. Ich spürte den Druck, die Sache fertig bringen
zu müssen. Mein Anliegen, Antonin Artaud mit der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts
zusammenzubringen, sie mit seinem Geist auszuleuchten, schien mir plötzlich monströs und
anmaßend. Ich steckte in einem Nadelöhr fest und musste doch hinaus auf die andere Seite.
Mein Geist, meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich wusste zwar wo ich hinwollte, kam
aber keinen Zentimeter vorwärts. Es zog mich hinaus aus meinem Büro in die Innenstadt, in
ein bekanntes Cafe, wo ich mich mit Marie-Therese, einer alten Freundin verabredet hatte. Ich
bestellte etwas zu Essen und eine Melange, eine Wiener Kaffeespezialität. Wir sprachen über
meinen Vortrag, über Artaud, mit dem wir uns beide in den 70er Jahren im Rahmen unserer
künstlerischen Tätigkeit, intensiv auseinandergesetzt hatten. Plötzlich wurde mir bewusst,
dass die Beschäftigung mit Antonin, der in jungen Jahren ein Vorbild für mich war, eine
Annäherung an meine eigene Leidensbereitschaft, den Kontakt mit dem, was ich nicht spüren
und denken wollte, einforderte. Aus dieser Haltung heraus, dachte ich mir, würde es möglich
sein, meinen Text zu Ende zu bringen.
Antonin Artaud war ein bedeutender Schauspieler, Regisseur, Dramatiker, TheaterTheoretiker und Zeichner, der in Paris und an anderen Orten lebte und arbeitete. Die
Psychotherapie ist zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts durch Sigmund Freud in Wien
entwickelt worden und beeinflusst nun seit mehr als hundert Jahren auf unterschiedliche
Weise Gesellschaft und Individuum. Beide, Artaud und die Psychotherapie als Disziplin,
beschäftigen sich mit Grenzbereichen der menschlichen Existenz. Dabei führen beide einen
Kampf gegen die Eindämmung der inneren Freiheit durch gesellschaftliche Konventionen und
Machtansprüche, für die Entfaltung freierer individueller und kollektiver Lebensbedingungen
und Formen.
In diesem Vortrag werde ich versuchen, die Psychotherapie mit dem Geist Antonin Artauds
in Verbindung zu bringen und sie damit reicher zu machen. Antonins Erkenntnisse haben für
mich eine zutiefst psychotherapeutische Dimension. Beide, Artaud und die Psychotherapie
beschwören den menschlichen Geist und suchen nach dessen Befreiung. Artaud sah sich in
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seiner Arbeit mit ständiger Kritik und Versuchen, sein Schaffen zu denunzieren, konfrontiert.
Die Psychotherapie hat diesbezüglich eine mildere Entwicklung hinter sich. Sie ist in vielen
Ländern als Heilmethode anerkannt. Die Denunzianten sind nicht nur im Außen zu finden,
sondern kommen auch aus den eigenen Reihen und versuchen das Potential der
Psychotherapie an gesellschaftliche Konventionen anzupassen. Erst seit kurzem gibt es wieder
eine Diskussion um die Funktion der Psychotherapie in der Gesellschaft.
Die Denunzianten der Psychotherapie haben auch versucht, Artaud zu denunzieren, sein
Werk auf das eines Geisteskranken zu reduzieren. Ich spreche von der Psychiatrie, einer
Institution, die die gesellschaftliche Legitimation besitzt die „nicht-normalen“ Bewegungen
des Geistes einzudämmen und zu bekämpfen. Die Psychiatrie hat auf Grund ihres
gesellschaftlichen Auftrags nur wenig mit Psychotherapie zu tun. Sie verwaltet die von den
Machtinstitutionen der Gesellschaft in Auftrag gegebene Repression des menschlichen
Geistes. Aber es wäre zu einfach nur die Psychiatrie zum Buhmann zu machen. Das was
eindämmt, Adaption an Normen und opportunes Verhalten verursacht, scheint eine
Deformation des menschlichen Sehens und Interpretierens selbst zu sein. Der Glaube des
Individuums an die, in gesellschaftlichen Kontexten entstandenen absoluten Wahrheiten
lässt, wie Kant es beschreibt, „die Fähigkeit Dinge mit sich selbst durchzudenken“,
schmerzlich vermissen. Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann formuliert es
so: „Gesellschaft als ontologische Wirklichkeit, die greifbar, essbar und gleich einer
Keramikvase formbar ist, gibt es nicht.“ Gesellschaft ist ein virtuelles Konstrukt, das von
Beobachtern, die durch ständiges Unterscheiden ihre Wirklichkeit konstruieren, erfunden wird
und im weiteren Verlauf, im Austausch mit anderen Beobachtern, als Kommunikation, in
gesprochenen Sätzen, Zeitungsartikeln, Büchern, Internet-Blogs und Fernsehsendungen für
kurze Augenblicke, in ständig wechselnder Bedeutungsgebung manifest wird.
Um die gewöhnliche Psychotherapie mit dem Geist Antonin Artauds bereichern zu können,
müssen sich meine KollegInnen erst an dessen Person und Werk gewöhnen. Nur wenige
PsychotherapeutInnen wissen von ihm. Man muss wohl selbst Schauspieler, ein
leidenschaftlicher Theatergänger gewesen sein oder sich für die Literatur und Kunst des
Surrealismus interessiert haben, um Artaud zu kennen.
2.)
Der Geist bzw. die Sprache Antonin Artauds
Im „Theater und sein Double“ setzt Artaud die Pest dem Theater gleich. Die Pest ist ein
Ereignis, das den Menschen aushöhlt und entweder mit dem Tod oder der Heilung endet. Die
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Pest und das Theater beschwören Kräfte, „die den Geist durch das Exempel wieder an den
Ursprung seiner eigenen Konflikte zurückführen“ schreibt Artaud zwischen 1932 und 1935.
Dies bedeutet das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an Grausamkeit in einem
Individuum oder einer Gesellschaft. Das Böse geht ans Werk. Die schwarzen Mächte
triumphieren, alle wahre Freiheit ist schwarz und das Leben ist grausam. Die Pest und das
Theater bilden diese Vorgänge, die einem Gemetzel gleichen, ab. Konflikte werden so gelöst,
Kräfte und Möglichkeiten werden frei. Und dass diese Mächte schwarz sind, ist nicht die
Schuld der Pest oder des Theaters, sondern liegt am Leben selbst.
Auch in der Psychotherapie begegnet uns die heilende Kraft des Negativen oder Bösen auf
vielfältige Weise. Unlängst schilderte mir ein Klient eine Beziehungssituation mit seiner Frau:
Auf Grund andauernder Vorwürfe von ihr und seiner Neigung zum Grübeln, hätte er sich
während der Weihnachtsfeiertage mehr und mehr in einen Kokon aus Frust und Ärger
zurückgezogen. Er sei regelrecht verstummt, wie ein Autist und nicht mehr ansprechbar
gewesen. Dies hätte seine Frau dermaßen provoziert, dass sie ihm vorgeschlagen habe,
Schluss zu machen mit dieser „Beziehungs-Scheiße“ und getrennte Wege zu gehen. Danach
sei es beiden, so mein Klient, plötzlich wesentlicher besser gegangen. Der Kontakt mit dem
Krisenszenario einer Trennung und den damit verbundenen Verlustängsten, hatte eine
heilende Wirkung und ermöglichte ein erneutes aufeinander Zugehen.
3.)
Die Psychotherapeutische Dimension
Es klingt ein wenig unbedacht, zu Beginn eines Jahrhunderts, schon von einer Psychotherapie
des 21. Jahrhunderts zu sprechen. Eigentlich hat die Psychotherapie, mit der ich mich hier
beschäftige, ihr Potential, das sie heutzutage ausmacht, im vergangenen Jahrhundert
erworben. Trotzdem ist in der vergangenen Dekade einiges passiert, was unweigerlich in die
Zukunft weist. Die Psychotherapie hat sich als eine eigenständige, erfolgreiche Disziplin im
Gesundheitsbereich positioniert. Sie ist in mehreren europäischen Ländern staatlich
anerkannt. Berufsbeschreibung, Ausbildung, Pflichten etc., sind in Österreich in einem
eigenen Gesetz für PsychologInnen und PsychotherapeutInnen festgeschrieben. Die
Psychotherapie hat sich in der Gesellschaft etabliert und versucht durch Evaluationsstudien
ihre positive Leistungsbilanz herauszustreichen. Diese Entwicklung kann man von
unterschiedlichen Positionen aus betrachten. Auf der einen Seite sehen sich
PsychotherapeutInnen zusehends als Mitglieder eines Berufstands, der für die Gesundheit
einer Gesellschaft verantwortlich ist und bisher von ÄrztInnen und später PsychologInnen
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dominiert wurde. Das macht TherapeutInnen selbstbewusst und stolz. Lange haben sie für
diese Gleichstellung gekämpft. Auf der anderen Seite bezahlen sie diese Position mit der
Anpassung ihrer Kräfte an gesellschaftliche Normen und Erwartungen. Die Psychotherapie
scheint sich bereits als junge Wissenschaft und Heilmethode, in die Reihen der
Alteingesessenen eingeordnet zu haben und verliert somit früh die Außenperspektive und das
damit verbundene kritische Potential. Publikationen in Fachzeitschriften und Büchern
befassen sich fast ausschließlich mit Behandlungsmethoden und Krankheitsbildern.
Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Positionierung von Psychotherapie sind äußerst selten.
Man hat den Eindruck als wiege sie sich in einem Dornröschenschlaf oder scheue einen
Tabubruch, der sie das bisher Erreichte kosten könnte. Sie scheut die Pestilenz, um mit
Antonin Artaud zu sprechen, den Niedergang ihres eigenen Narzissmus, ihrer
Selbstgefälligkeit und verzichtet auf das subversive Potential, das ihr zur Erneuerung ihres
Selbstverständnisses, ihrer sozialen Funktion und der Behandlungsmethoden eigen ist.
Das subversive Potential der Psychotherapie ist in die Lebensgeschichten bestimmter
Personen, die sich später als Psychotherapeuten und Schulengründer hervorgetan haben,
hineingeschrieben. Sie haben Bewusstseinsgrenzen überschritten und ihrer Psyche, ihren
Körper erforscht. Ihr Inneres bereisend, sind sie auf Dinge aufmerksam geworden, die neue
Sichtweisen in Bezug auf die äußere Welt öffneten. Zugleich war es ihnen möglich, diese
Erkenntnisse zu instrumentalisieren und in neuartige Behandlungsmethoden einfließen zu
lassen. Leidenszustände und Leidensambiente konnten so beeinflusst werden und Wissen an
solche weitergeben werden, die es benötigten. Dabei spielte die Berufszugehörigkeit eine
untergeordnete Rolle. Diese wurde eher als Ballast und als Zwang empfunden.
Sigmund Freud hat sich erst im Alter, in seinen letzten Publikationen, aus dem
wissenschaftlichen Korsett herauswinden können, das ihm eine objektive, unpersönliche
Haltung vorschrieb. Subjektiv traute er sich nun in seiner Schrift Das Unbehagen in der
Kultur eigene Ansichten über die Beziehung von Glück und Kultur zu äußern. Das
hysterische Unglück der Einzelperson ist aus den lebensgeschichtlichen Zusammenhängen
nicht einfach herauslösbar, sondern „eingebunden in einen ganz bestimmten kulturellen
Zusammenhang, einen Kultur-Konflikt, der in seiner lebenspraktischen Unmittelbarkeit
Ausdruck sucht“, befand Freud. (Freud S.1994, Psychologie Fischer, S.9) Was hier zum
Ausdruck kommt und in Widerstreit gerät, sind intime Lebensentwürfe, Bedürfnisse und
Wünsche von Individuen auf der einen Seite und Normen, Gebote und Verbote einer
Normalisierungsmacht (vgl. Foucault 1974/75) auf der anderen Seite.
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4.) Potential einer Artaud’schen Psychotherapie und ihre Wirkung auf
gesellschaftliche Konventionen
Wie kann man sich nun eine Psychotherapie im Sinne Artauds vorstellen? Sie müsste sich
zuerst einmal aus ihrem derzeitigen Korsett herauslösen und sich den Annahmen und Fragen
derer stellen, die ich zuvor als Reisende beschrieben habe. Sigmund Freud, Wilhelm Reich,
Jacob L. Moreno, Carl Rogers, Harold Goolishian und andere PsychotherapeutInnen haben
für sich die Psychotherapie als probates Mittel zur Kur komplexer Problemstellungen
akzeptiert. Sie bringen den Inneren Menschen mit dem Äußeren in Verbindung, in dem sie
seine Trauer, seine Wut und Hoffnungslosigkeit anerkennen und eine Verbindung zu
Geschehnissen in der Familiengeschichte bzw. dem Alltagsgeschehen herstellen.
Gesellschaftliche Verhältnisse, soziale Umwälzungen und insbesondere der Krieg, werden
dabei als zentrale Wirkfaktoren, die das Schicksal tausender Familien und Individuen
beeinflussen, mit einbezogen. Die systemische Familien-Aufstellungsarbeit, ein nicht mehr
ganz neuer Zweig der Psychotherapie, beschäftigt sich in diesem Kontext mit der
Mehrgenerationenperspektive. Kinder, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Abtreibungen, der
Tod im Kindsbett, Männer die im Krieg bleiben, werden thematisiert und bilden den Fluss der
Zeit ab, der auch im Hier und Jetzt auf Personen einwirkt. Unbewusst wird in Familien die
nicht geleistete Trauerarbeit eines längst verstorbenen Angehörigen übernommen und
verursacht Leiden und Konflikt im Familiensystem. Wird dieser Prozess durch das Aufstellen
der früheren Familienkonstellation therapeutisch sichtbar gemacht, so bricht die ursprüngliche
Konfliktstruktur durch und wird, im besten Fall, in einer kathartischen Bewegung aufgelöst.
Wie im Theater der Grausamkeit wird das unterdrückte und unbekannte negative als
Heilungspotential benutzt. Der Krieg, die Pest, das Unglück darf sich zeigen und wird in
seinem Recht auf Existenz anerkannt.
Natürlich steht der Leidensprozess und die damit verbundene Selbstwahrnehmung Antonin
Artauds für sich. Keine der Lebensgeschichten der oben genannten Personen ist damit
vergleichbar. Artaud ist über seine Nervenkrankheit früh mit seinem Inneren in Kontakt
gekommen. Der Konsum von Laudanum, von Opiumtinkturen, die er zur Beruhigung seiner
inneren Zustände regelmäßig einnahm, die Entziehungskuren, die er sich selbst verschrieb
und seine leidenschaftliche Tätigkeit als Schauspieler und Künstler, haben ihn immer in
Zonen des Bewusstseins herumvagabundieren lassen, die dem normalen Menschen fremd
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bleiben müssen. Dass seine Irlandreise in einen neunjährigen, zwangsverordneten
Psychiatrieaufenthalt mündete, der von unmenschlichen Behandlungsmethoden und Kuren
geprägt war, hat ihn nicht daran gehindert, seine innere Befindlichkeit durch Sprache, in
Worten, Sätzen und Zeichnungen zum Ausdruck zu bringen. Gerade hierin zeigt sich eine
Maxime der Psychotherapie: Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, können durch
Akzeptanz, durch Zulassen und Identifikation zu Ressourcen werden. In dem das Innere
Empfinden, was auch immer es ist, als zum Leben, zum eigenen Schicksal zugehörig
empfunden wird, führt es über das Leben hinaus und wirkt befreiend. Auch große
Leidenszustände bekommen in diesem Kontext einen Sinn und sind so bewältigbar. Sie
werden, wie bei Antonin Artaud zu Botschaften, die den Rahmen der konventionellen
Medizin, Psychologie und Psychotherapie sprengen. Da diese Botschaften über Dinge
berichten, die jenseits der uns bekannten Grenzen geschehen, besitzen sie das Potential des
Umsturzes und der Erneuerung. Sie öffnen uns den Weg in andere Welten und ein neues
Verständnis von Psychotherapie.
Weiter könnte man vielleicht über die Dekonstruktion angepasster Kommunikation im
psychotherapeutischen Prozess nachdenken. Eine Psychotherapie, die sich auf Artaud einlässt,
muss sich mit der Matrix ihrer Sprache auseinandersetzen. Michel Foucault spricht hier von
der Macht des Wortes, des Textes, der Tradition, die von der Norm besetzt wird. Es gibt eine
Macht, die Normalisierung durchsetzt und in der Medizin, in den Humanwissenschaften als
Gegensatzpaar Normal und Anormal begriffen wird. Die Norm sortiert und organisiert die
Individuen schreibt Foucault. Auch die Psychoanalyse läuft Gefahr, durch Kontrolle und
Normalisierung zu wirken. Sie normiert die Person durch eine bestimmte Terminologie und
passt sie in ihren Behandlungskontext, in ihr psychoanalytisches System ein. Später
entstandene Psychotherapieschulen wie die Gestalttherapie oder das Psychodrama, die sich an
humanistischen Ideen orientieren, weichen diese Vorgangsweise auf und erreichen eine, dem
psychotherapeutischen Dialog entsprechendere Sprachkultur. In den 60er Jahren wird das
Anormale für kurze Zeit mit einer neuen Freiheit gleichgesetzt. Das psychologische
Verbalisieren tritt zurück und macht dem Körper, den Empfindungen, kollektiven Dynamiken
und Begegnungen in Psychotherapiegruppen Platz. Eine gänzlich neue Dimension
psychotherapeutischen Arbeitens, wird Ende der 80er Jahre in Systemischen Konzepten
diskutiert. Man nennt dies in Fachkreisen die „konstruktivistische Wende“. Die Systemtheorie
des Soziologen Niklas Luhmanns und der radikale Konstruktivismus Heinz von Foersters,
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Ernst von Glasersfelds und Paul Watzlawicks, favorisieren eine konstruktivistische Sicht der
Dinge.
Für die Systemische Psychotherapie bedeutet dies, dass KlientInnen und TherapeutInnen
durch Beobachten und Unterscheiden, Wirklichkeitskonstrukte erfinden und austauschen. Der
Klient ist Experte seiner Situation und Befindlichkeit. Der Psychotherapeut begleitet ihn
lediglich und hilft ihm, neue Sichtweisen zu finden. Wie bei Artaud, dessen Sprache eine
radikale Kehrtwendung weg vom Normalen, uns Bekannten vollzieht, dessen Dialog mit der
Welt neue Sichtweisen einfordert, muss der Therapeut sich auf etwas einlassen, das er nicht
kennt. Er ist aufgefordert die Wirklichkeit sich neu erfinden zu lassen. Nur so kann er sein
Gegenüber im eigenen Erkenntnisprozeß unterstützen.
Ich möchte diesen Prozess zum Abschluss meines Vortrags an einem Fallbeispiel
demonstrieren:
Herr A., ein beruflich sehr erfolgreicher Internist, kam vor einigen Jahren das erste Mal in
meine Praxis. Er sprach von großen familiären Problemen. Seine Frau und er hatten sich vor
einigen Wochen getrennt, die beiden Kinder lebten nun bei der Mutter. Irgendwie war es zu
einer gewalttätigen Situation gekommen. Sein Alkoholkonsum hatte dazu beigetragen. Die
Frau hatte die Polizei gerufen und er war für einige Wochen aus dem Wohnhaus weg
gewiesen worden. Die Situation hatte sich nun dahingehend verändert, dass seine Frau mit
den Kindern in eine Stadtwohnung gezogen war. Herr A. beschrieb in den ersten Stunden
ausführlich die Torturen und Misshandlungen, die er seitens seiner Partnerin erdulden musste.
Da er Arzt war und es in seiner Natur lag, bedrohliches, von seinem Normverständnis
abweichendes Verhalten diagnostisch auszulegen, hatte er sich im Internet kundig gemacht
und das Krankheitsbild der narzistischen Persönlichkeitsstörung gefunden, Die Beschreibung
schien genau auf das Verhalten seiner Frau zu passen. Es war nun möglich ihr krankhaftes
Verhalten zu verstehen und jegliche Mitschuld am Niedergang der Beziehung von sich zu
weisen.
Die Sprache die er für seine Argumentation benutzte, erschien mir plakativ und aufgesetzt.
Sie hielt mich auf Distanz. Bald hatte ich verstanden, dass seine Formulierungen einen
inneren verletzten Kern schützten. Herr A. hatte durch sein gewalttätiges Auftreten und seine
Wegweisung auch an beruflicher Reputation eingebüßt. Es gab deshalb für ihn nichts
Wichtigeres, als sein Gesicht zuwahren. Über Monate hinweg pflegten wir eine
Kommunikation der Anpassung. Da er sich nicht öffnen konnte und es kaum neuen
Gesprächsstoff gab, begann ich das von ihm Gesagte zu wiederholen. Ich erfand immer
wieder neue Formeln, die ihm die Gleichförmigkeit seiner Aussagen spiegelten. Dabei fühlte
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ich mich sehr unwohl, da ich nicht in der Lage war, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Als
er dies bemerkte, sagte ich ihm, dass ich sein Bedürfnis nach Sicherheit und Abstand
akzeptierte. Trotzdem sei es manchmal unerträglich für mich, vor einer Fassade zu stehen und
immer die gleichen Slogans und Plakatüberschriften lesen zu müssen.
Wir sahen uns nun seltener. Die Dinge entwickelten sich auch außerhalb der Therapie. Herr
A. litt unter seiner Einsamkeit, die er mit Alkohol und Bordellbesuchen einzudämmen
versuchte. Nun begann die Fassade zu bröckeln. Wir sprachen über Gefühle, seine
Bedürftigkeit und seine symbiotische Mutterbeziehung. Die zunehmende Fragilität seines
Zustands begann sich nun in einer Zerbrechlichkeit der Wörter und Sätze auszudrücken. Es
zeigte sich eine Persönlichkeit, die darin gefangen war, ständig um sich selbst zu kreisen und
in ihrem Spiegelbild gefangen war. Die Bewusstwerdung dieser Selbstbezogenheit war für ihn
sehr schmerzhaft. Das was er nun empfand, richtete sich nun auch gegen mich. Er begann
mich zu kritisieren und zu beschimpfen. Ich war froh darüber, denn dies belebte unsere
Treffen. Unsere Art miteinander zu sprechen, hatte sich grundlegend geändert. Wir
vereinbarten eine längere Therapiepause. Als er dann einige Monate später wieder zu mir
kam, hatte sein Alkoholkonsum zugenommen. Seine Sprache war unkontrollierter und
vulgärer geworden. Dies ermöglichte uns ein sehr direktes aufeinander Zugehen. Ein Damm
war gebrochen. Die offene Pestillenz seiner verdrängten Vergangenheit bescherten uns eine
sprachliche Nähe und Spontanität, die bisher undenkbar gewesen war.
Herr A., der immer noch erfolgreiche Internist, kommt nach wie vor in meine Therapiestunde.
Seine Existenz scheint noch fragiler geworden zu sein. Trotzdem, so sagt er, sei sein Alltag
lebendiger und er selbst ausdrucksfähiger. Hin und wieder könne er auch einen ganzen Tag
mit sich selbst alleine sein.
Antonin Artauds radikale Offenheit dem Leben gegenüber, hat auf mich stets wie ein Magnet
gewirkt. Diese Offenheit und die Sprache, die darin entstehen kann, ist für mich Vorbild für
eine Psychotherapie des 21. Jahrhunderts. Diese bewegt sich notgedrungen in einem
professionellen Rahmen. Ihre Kraft und Stärke bezieht sie aber aus einem Lebensgrund, der
immer aufs Neue, durch Umstürze und Durchbrechen von Normen bzw. Konventionen,
erschlossen werden muss.
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