85 AUS DER FORSCHUNG Wie Chile und Argentinien nach den Militärdiktaturen um die nationale Aufarbeitung der Massenmorde ringen Eine soziokulturelle Anwendung des Dualen Prozessmodells Hildegard Willmann und Heidi Müller Robben, Antonius C. G. M.: Massive Violent Death and Contested National Mourning in Post-Authoritarian Chile and Argentina: A Sociocultural Application of the Dual Process Model. In: Death Studies, 2014, Vol. 38, Nr. 5, S. 335–345. Staaten müssen ebenso wie Individuen Krisen bewältigen. Doch wie gehen sie damit um, wenn die eigene Regierung oder das Militär in der Vergangenheit systematisch einen Teil der Gesellschaft ermordet hat? Wie Individuen auch gehen sie ganz unterschiedliche Wege. So glaubte zum Beispiel die nigerianische Regierung, dass es hilfreich für eine Versöhnung sei, von offizieller Seite aus einen Deckmantel des Schweigens über den Biafra-Konflikt und seine Opfer zu legen. Die vietnamesische Regierung hingegen verherrlichte nach dem Vietnamkrieg ihre gefallenen Soldaten als Märtyrer, während es Jahrzehnte brauchte, bis auch um die vom »Feind« getöteten Zivilisten offiziell getrauert werden durfte. Und in der Bundesrepublik Deutschland begann erst in den 1970er Jahren, nach Jahrzehnten des Schweigens, eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die sehr schuldbeladen war. In wissenschaftlichen Analysen zum Thema nationale Verlustbewältigung dominierte das Konzept der »Trauerarbeit« von Freud und der »Trauerphasen« von Bowlby. Sozialwissenschaftler nahmen an, dass Gesellschaften notwendigerweise über Jahrzehnte hinweg die Erinnerung an massive Verluste durch Gewalttaten abspal- ten müssten, um den Wiederaufbau nicht zu gefährden. In den letzten Jahrzehnten mehrte sich jedoch die Kritik an diesen Konzepten. Außerdem zeigen Länder wie Argentinien und Südafrika, dass es möglich ist, mit der Aufarbeitung der Gräueltaten unmittelbar nach dem Ende eines Regimes zu beginnen. Das Duale Prozessmodell (DPM) von Stroebe und Schut stellt einen Gegenentwurf zu den Konzepten der Trauerarbeit und den Trauerphasen dar. Es postuliert einen Bewältigungsprozess, bei dem Betroffene systematisch hin- und herpendeln. Einerseits beschäftigt sie dabei der Verlust an sich (Verlust-Orientierung, VO). Andererseits sind sie damit beschäftigt, sich in dem neuen, veränderten Leben zurechtzufinden (Wiederherstellungs-Orientierung, WO). Das Duale Prozessmodell am Beispiel von Nationalstaaten Der Autor dieser Arbeit legte das DPM zugrunde, um am Beispiel von Chile und Argentinien nachzuweisen, dass es sich auch zur Erklärung gesamtgesellschaftlicher Prozesse wie der Aufarbeitung einer gewaltgeprägten Vergangenheit eignet. Chile und Argentinien erlebten im Laufe der 1970er und 1980er Jahre linksextreme und rechtsextreme Bewegungen, Arbeiterproteste, Wirtschaftskrisen, Aufstände von Guerilla-Organisationen, Todesschwadronen, Militärdiktaturen und einen staatlichen Terrorismus, der Zehntausende von Menschen verschwinden und ermorden ließ. Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 85–87, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2192–1202 8 6 A u s d e r Fo r s c h u n g INTERFOTO / Orsolya Haarberg In beiden Ländern gab es später Wahrheitskommissionen, Amnestiegesetze, Maßnahmen zur Wiedergutmachung, Gedenkveranstaltungen, öffentliche Schuldeingeständnisse des Militärs und Rufe nach Wahrheit und Gerechtigkeit. In beiden Ländern mussten für eine Vergangenheitsbewältigung auf nationaler Ebene die Anliegen der verschiedenen Interessengruppen (zum Beispiel der Regierung, dem Militär, den trauernden Angehörigen, den Menschenrechtsorganisationen) permanent ausbalanciert werden. Die Aufarbeitung schloss auch die Täter mit ein, die sich dem stellen mussten, was sie Einzelpersonen, aber auch der Gesellschaft insgesamt angetan hatten. Die Täter sind also am nationalen Trauerprozess beteiligt und stellen ebenso einen Teil der argentinischen beziehungsweise chilenischen Gesellschaft dar wie die Hinterbliebenen auch. Gemeinsam mussten sie einerseits Wege finden, um ihre Vergangenheit und ihre Toten zu betrauern. Andererseits mussten Täter wie Opfer nach Möglichkeiten suchen, wie sie die Zukunft ihrer Gesellschaft gestalten wollten, auch wenn sie möglicherweise die Vergangenheit immer unterschiedlich bewerten würden. Wie auf nationaler Ebene mit der Vergangenheit umgegangen wird, ist daher immer das Ergebnis intensiver Kämpfe um Macht. Alle Gruppen möchten so umfangreich wie möglich darüber mitbe- stimmen, wann, wo und wie die Toten gewürdigt beziehungsweise betrauert, aber auch wie die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wiederaufbaus angegangen werden. Es versteht sich fast von selbst, dass die Interessengruppen unterschiedliche Schwerpunkte setzen. So sind die trauernden Angehörigen stark verlustorientiert. Sie möchten ihre Toten gewürdigt und die Täter bestraft wissen. Dahingegen möchten die Täter die Vergangenheit gern hinter sich lassen und befassen sich deutlich stärker mit der Gestaltung der Zukunft. Maßnahmen in Chile und Argentinien In Chile und Argentinien würdigten die Regierungen die Anliegen der Opfer, indem sie die Suche nach den Verschwundenen und Ermordeten anordneten, die Exhumierung von Massengräbern veranlassten, sich für die Bestrafung der Täter einsetzten und das aktive Gedenken an die Toten und Verschwundenen förderten. Im Zusammenhang mit dem DPM betrachtet, war das der verlustbezogene Bewältigungsprozess. Im Rahmen des wiederherstellungsorientierten Bewältigungsprozesses standen andere Fragen im Mittelpunkt. Dazu gehörten die Regelung des Zusammenlebens von Tätern und Angehörigen der Opfer, das Einrichten von Gedenkstätten zur Erinnerung an die politische Gewalt der Vergangenheit1, die therapeutische Behandlung von und die Wiedergutmachung gegenüber Zehntausenden von Folteropfern, trauernden Angehörigen und aus dem Exil zurückgekehrten Staatsangehörigen. Um zu verdeutlichen, dass nationale Verlustbewältigung das Ergebnis von Machtkämpfen und ein Pendeln zwischen Verlust- und Wiederherstellungsorientierung ist, zeichnet der Autor wesentliche Entwicklungen beider Länder nach der Diktatur nach. Ein kleiner Ausschnitt sei hier wiedergegeben: VO: Im Dezember 1983 wird in Argentinien Raúl Alfonsín zum Präsidenten gewählt. Dieser gründet umgehend eine Nationale Kom- L E I D FA D E N – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R H e f t 3 / 2 0 1 5 A u s d e r Fo r s c h u n g 8 7 mission, besetzt mit Gegnern der Diktatur, die die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur aufklären soll. Gleichzeitig wird das Gesetz, das den Tätern Straferlass zugestand, aufgehoben. WO: Alfonsín befürchtet dann aber, dass durch die Aufhebung des Amnestiegesetzes eine Prozesswelle in Gang gesetzt wird, der die junge Demokratie nicht gewachsen ist, und will nur hochrangige Offiziere unter Anklage stellen. VO: Alfonsíns Plan löst eine große Protestwelle aus. Breite Teile der Bevölkerung sind nicht damit einverstanden, dass viele schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen unbestraft bleiben sollen. VO: Die Wahrheitskommission erklärt ca. 9.000 Verschwundene für tot. Die Menschenrechtsgruppen gehen aber von mehr als 30.000 Verschwundenen aus. Es kommt zu Massendemonstrationen, die an die Verschwundenen erinnern und Aufklärung sowie Gerechtigkeit einfordern. Auf die staatliche Umgangsweise mit Kriegsoder Diktaturopfern haben viele Einzelpersonen und rivalisierende Interessengruppen Einfluss. Doch auch umgekehrt wirkt sich der staatliche Umgang mit der Vergangenheit auf die individuelle Bewältigung aus. So kann beispielsweise eine unzureichende nationale Verlustorientierung, die sich darin äußert, dass die Täter straffrei bleiben, die individuelle Verarbeitung eines Verlustes beeinträchtigen. Wenn Hinterbliebene wissen, dass die Täter unbehelligt in der Nachbarschaft leben, kann dies die therapeutische Hilfe erschweren und Hinterbliebene möglicherweise sogar retraumatisieren. Psychologen, die in Ländern arbeiten, in denen durch Krieg oder Diktatur viele Menschen getötet wurden, müssen daher die nationalen Trauerprozesse verstehen und berücksichtigen. Dabei kann ihnen das DPM als Modell eine Hilfe sein. Möchten Sie mehr zu diesem oder anderen Themen aus der Trauerforschung erfahren? Melden Sie sich gern beim kostenlosen Newsletter »Trauerforschung im Fokus« unter www.trauerforschung.de an oder schreiben Sie uns einfach eine Mail. Schlussfolgerungen Robben kommt bei seiner Untersuchung zu der Einschätzung, dass das DPM einen hilfreichen theoretischen Rahmen bietet, um nationale Bewältigungsprozesse besser verstehen zu können. Insbesondere der Aspekt des ständigen Pendelns zwischen verlust- und wiederherstellungsorientiertem Prozess half, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Argentinien und Chile einzuordnen. Verlustbewältigung auf nationaler Ebene braucht eine ausgewogene Balance zwischen beiden Prozessen. Das Pendeln ist somit unvermeidlich. Bliebe es aus, so würde die zu einseitige Betonung von Versöhnung (WO) das Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit verletzen. Und eine zu stark ausgeprägte Betonung von Vergeltung (VO) würde das Zusammenleben von Tätern und Opfern erschweren. Beides wäre hinderlich für eine »erfolgreiche« Vergangenheitsbewältigung. Heidi Müller, Diplom-Politologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauer forschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psychologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1 Der Autor begründet diese auf den ersten Blick irritierende Zuordnung, indem er sich einer Einschätzung von Young anschließt: »Indem die Erinnerung die Gestalt eines Monumentes bekommt, entledigen wir uns der Verpflichtung des Erinnerns« (Young, J. E.: The texture of memory. Holocaust memorials and meaning. New Haven, CT, 1993, S. 5). Tr a u e r h a t S y s t e m
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