SERIE 70 Jahre danach ZEITZEUGEN Freitag 22. Mai 2015 8 Bild oben: Wendelgard von Staden, Jahrgang 1925. Bild links: Das elterliche Anwesen in Kleinglattbach, auf dem Wendelgard von Staden aufgewachsen ist. Dort hat die Familie im Krieg KZ-Häftlingen geholfen. Heute lebt von Staden auf dem Leinfelder Hof bei Vaihingen. Fotos: Wendelgard von Staden (l.)/Martin Tröster (o.) Gefährliche Hilfe Wendelgard von Staden rettete mit ihrer Familie unter Lebensgefahr KZ-Häftlinge Bild Mitte: Irmgard von Neurath, die Mutter Wendelgard von Stadens, im Jahr 1949. Bilder links und rechts: Bestattung von toten KZHäftlingen nach der Befreiung des Lagers durch die Franzosen sowie ein entkräfteter Häftling in einer Baracke des Lagers. Fotos: Wendelgard von Staden (M.)/Stadtarchiv Vaihingen (l.,r.) 1925 1944 Weitere Infos Ausführlichere Informationen zum KZ Vaihingen gibt es auf der mart Homepage der Gedenkstätte. gedenkstaette-vaihingen.de fünf ganz besonders harte Burschen“ der SS. „Wir lernten, vor wem wir aufpassen mussten.“ Auch Verräter unter den Häftlingen waren gefährlich. Dass die SS langsam Verdacht schöpfte, meinte sie an der zunehmenden Zurückhaltung der Wachen zu erkennen. Aufs Äußerste gefährlich wurde es ganz am Ende, als die Franzosen schon fast da waren: Die Häftlinge wurden nach Dachau verschleppt, „mit kolossaler SS-Bewachung“, wie Wendelgard von Staden sagt. Sie erinnert sich an einen Tross mit mindestens 700 Gefangenen. „Das Wendelgard von Staden wird als eine „Freiin von Neurath“ geboren. Die Familie wohnt auf einem Anwesen in Kleinglattbach. Wendelgard von Stadens Onkel väterlicherseits ist Konstantin von Neurath, der deutsche Außenminister von 1932 bis 1938 – während der Weimarer Republik und unter Hitler. Der Konservative genießt national und international hohes Ansehen. Das Verhältnis der Familie zum Außenminister ist nach Streitigkeiten lange vor dem Zweiten Weltkrieg abgekühlt. Im August kommen die ersten Häftlinge ins KZ Vaihingen. Vom Hof der von Neuraths müssen sie Stroh und Lebensmittel holen. Die Familie beschließt, ihnen zu helfen. 1945 Buch Wendelgard von Staden hat 1979 ein Buch veröffentlicht, in dem sie ihre Erlebnisse um das Kriegsende auf dem elterlichen Hof in Kleinglattbach schildert. Der Titel des Buches lautet „Nacht über dem Tal“. Das Vorwort verfasste Marion Gräfin Dönhoff, die langjährige Chefredakteurin und Herausgeberin der Wochenzeitung „Die Zeit“. „Besonders harte Burschen“ und Verräter Wendelgard von Staden: Stationen Im April wird das Lager aufgelöst, die Häftlinge müssen nach Dachau. Über acht Monate hinweg haben die von Neuraths die Juden heimlich mit Nahrung versorgt. „Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die über so lange Zeit von Außerhalb [des Lagers, Anm. Red.] in eine so relativ enge Berührung mit KZ-Häftlingen gekommen ist“, sagt Wendelgard von Staden. 1954 Serie Auf der Homepage der Bietigheimer Zeitung gibt es weitere Beiträge unserer Zeitzeugen-Serie. Einer der Zeitzeugen, die mit uns sprachen, ist Ted Weisbord, Jahrgang 1923: Als jüdischer Häftling des KZ Vaihingen hatte er das Glück, auf dem Hof der Familie von Neurath zu arbeiten (wir berichteten am Samstag, 16. Mai). Weitere Beiträge der Serie erscheinen auch in den kommenden Wochen in loser Reihenfolge. bietigheimerzeitung.de ganze Dorf war zusammengelaufen und hat zugeschaut“, sagt sie. Ihre Mutter war entsetzt. „Sie rief: Was macht ihr da? Haltet sofort an. Sie war ganz verzweifelt, diese Leute abtransportiert zu sehen.“ Bis zuletzt hatte sie gehofft, sie zu retten. Die SS-Wachen kamen mit angelegtem Gewehr auf sie zu. Sie fauchten: „Wir kennen Sie, wir haben rausgekriegt, was Sie da machen.“ Einer muss sie verraten haben. Die Bauern reagierten sofort, zogen Irmgard von Neurath zurück und stellten sich vor sie. „Hätten sie das nicht getan, dann wär’ sicher was passiert“, sagt ihre Tochter. So zogen die SS-Männer sich wieder zurück zu den Häftlingen, die nach Bietigheim laufen mussten, wo der Bahnhof noch nicht zerbombt war. „Wir blieben zurück, und das ganze Dorf war durcheinander.“ Im Lager blieben mehr als 600 Häftlinge, die zu schwach zum Gehen waren – oder sich totgestellt hatten. Nach der Befreiung des Lagers durch die Franzosen am 7. April hatten die Vaihinger, die lange Zeit genug wussten, um nicht mehr wissen zu wollen, Angst. Doch die Häftlinge, deren Gesichter Totenköpfen glichen, sie rächten sich nicht. „Sie waren nicht böse, nicht gefährlich, gar nicht“, sagt Wendelgard von Staden. „Sie haben versucht Hühner zu fangen, in die Speisekammern zu gelangen. Wir haben sie gewarnt, dass sie nicht zu viel essen.“ Wenn Menschen lange gehungert haben, ist der Magen überfordert, falls er zu schnell zu viel bekommt. Sie sterben. Wendelgard von Staden erzählt in ihrem Buch „Nacht über dem Tal“, das sie 1979 zu ihren Erlebnissen um das Kriegsende veröffentlicht hat, von Häftlingen, die mit vollem Magen starben – mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Konstantin von Neurath wird aus dem „Kriegsverbrechergefängnis Spandau“ entlassen. Seine Nichte sagt über ihn: „Er war kein Nazi, aber er hat sich hergeben lassen.“ Auch sie legt nach dem Krieg eine diplomatische Karriere hin: Sie arbeitet für das Auswärtige Amt in Bonn, wird Vize-Konsulin in Bern und Legationsrätin in Washington. 1961 Hochzeit mit Berndt von Staden (baltischer Adel). 1973 Buch, weitere Infos Vaihingen. Ein seltsamer Haufen marschierte auf das Anwesen in Kleinglattbach. Dürre Gespenster in gestreiften Anzügen, mit Holzpantinen an den Füßen. Der Hof gehörte der Familie von Neurath. Tochter Wendelgard, die heute den Nachnamen von Staden trägt, erinnert sich an die Gefangenen: „Sie sprachen eine Sprache, die wir nicht verstanden, und hatten eine ganz starke SS-Bewachung, mit Maschinenpistolen und allem.“ Die Gespenster waren Häftlinge des KZ Vaihingen. Die meisten waren junge, polnische Juden und in Auschwitz als Arbeitssklaven „selektiert“ worden. Nun sollten sie für das Lager Stroh und Bohnen holen. Wendelgard von Staden begleitete den merkwürdigen Trupp zu einer großen Feldscheuer. Dort mussten die Häftlinge Stroh aufladen. „Die fielen mit den Strohballen um, die waren viel zu schwach“, erinnert sie sich. „Als ich mir das eine Weile angeguckt habe und die Wachen draufgehauen haben, sagte ich: Also, das machen wir nicht, wir gehen wieder zurück. Wir bringen das Stroh irgendwie runter.“ Ähnlich erging es auch den Häftlingen, die Bohnen pflücken mussten. „Die kriegten Schläge von der SS, aber es war unmöglich, dass die in den Büschen die Bohnen finden oder auch nur kontinuierlich irgendetwas machen. Also versammelte auf den Hof kommen. Irmgard von Neurath erhielt ein festes Arbeitskommando aus dem Lager. „Im Laufe der Zeit war es gelungen, die SS von den Häftlingen zu trennen“, erzählt Wendelgard von Staden. Auch war es gelungen, immer wieder dieselben 30 Gefangenen auf den Hof zu bekommen, um wenigstens ein paar aufzupäppeln. „Das konnten wir nur fertig bringen, indem wir ihnen über einen längeren Zeitraum Nahrungsmittel zusteckten.“ Acht Monate funktionierte das, von August bis April. Das klappte sicherlich auch deshalb, weil die SS gar nicht auf die Idee kam, dass ausgerechnet diese Familie Juden helfen könnte: Der Onkel Wendelgard von Stadens war Konstantin von Neurath, Hitlers erster Außenminister. Dieser berühmte Name half Irmgard von Neurath wohl auch, beim Kommandanten des Lagers vorstellig zu werden. Die Schwierigkeit, sagt Wendelgard von Staden, „waren vier oder Umzug nach Washington – Berndt von Staden ist von 1973 bis 1979 deutscher Botschafter für die USA. 1979 MARTIN TRÖSTER sich die Gruppe im Hof wieder.“ Ihr Vater, sagt Wendelgard von Staden, hatte sich das kurz angeschaut und war dann weggegangen. Sie erinnert sich an seine Worte: „Das ist ein Irrenhaus, damit will ich nichts zu tun haben.“ Ihre Mutter habe den SS-Männern gesagt: „Die Leute werden hier nicht geschlagen. Meiner Ansicht sind die Leute hier einfach wahnsinnig am Verhungern.“ Die Antwort eines Wärters: „Ja, das könnt’ sein.“ „Also“, erzählt Wendelgard von Staden, „haben wir einen Kessel aufgestellt mit Kartoffeln.“ Beim Ausleeren des Wassers fiel der Kessel um. „Da ging ein Tumult los unter den Häftlingen. Sie stürzten sich drauf und verschlangen diese dreckigen, heißen Kartoffeln, die sie kriegen konnten.“ Als sich das Schlurfgeräusch der Holzpantinen wieder entfernte, war die Familie schockiert. „Auf jeden Fall blieb der Eindruck, dass da etwas vor sich ging, das unwahrscheinlich war“, erinnert sich Wendelgard von Staden. Sie sagt, es war der Beginn eines Versuches, diesen Menschen zu helfen. Das Grundstück, auf dem das KZ war, hatte ihrem Vater gehört – das Regime hatte ihn enteignet. Die Familie vermutete richtig, dass die Häftlinge auf der großen Baustelle hinter dem Vaihinger Schloss schuften mussten. Dort hatte das Regime eine unterirdische Flugzeugfabrik geplant. Bereits im Spätherbst 1944 wurde das Projekt wegen der Fliegerangriffe wieder fallen gelassen, das KZ wurde ein „Kranken- und Erholungslager“. Die von Neuraths mussten weiterhin Stroh und Nahrungsmittel liefern. Diese Lieferungen bargen eine Chance zu helfen. Damit der Hof auch weiterhin liefern konnte, so das Argument gegenüber dem Langerkommandanten, müssten die Häftlinge regelmäßig Wendelgard von Staden veröffentlicht ihr autobiografisches Buch „Nacht über dem Tal“ (sh. Infobox links). 2015 Wendelgard von Staden ist die Nichte von Hitlers erstem Außenminister. Mit ihrer Familie half sie Häftlingen des KZ Vaihingen. Alles schien gutzugehen. Der gefährlichste Moment kam ganz zum Schluss. Seit 25 Jahren lebt Wendelgard von Staden auf dem Leinfelder Hof bei Vaihingen. Dort lebte ihr Onkel Konstantin bis zu seinem Tod 1956. Ihr Mann Berndt von Staden stirbt im Oktober 2014.
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