Europas Sozialdemokratie in der Krise

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DEUTSCHLANDFUNK
Hörspiel/Hintergrund Kultur
Redaktion: Karin Beindorff
Dossier
Was tun?
Europas Sozialdemokratie in der Krise
Von Werner A. Perger
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Sendung: Freitag, 20.11.2015, 19.15 - 20.00 Uhr
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Musik
Atmo: Parteitag SPD Gesang
Autor:
Das Drama kam nicht über Nacht, nicht plötzlich, nicht ohne Warnsignale. Der
politische Niedergang der europäischen Sozialdemokratie, wie wir ihn heute
beobachten, hatte sich schon im vorigen Jahrhundert angekündigt. Eine kurze
Scheinblüte täuschte die Betroffenen dann, zur Jahrtausendwende, über den Ernst
der Lage zwar noch einmal hinweg. Das kurze Aufflackern wurde so aber schließlich
selbst zum Teil des Problems.
Ansage:
Was tun?
Europas Sozialdemokratie in der Krise
Ein Dossier von Werner A. Perger
Autor:
Inzwischen ist der Verlust an Einfluss und Gestaltungsmacht unübersehbar, vor
allem im Vergleich zu den 1970er-Jahren, dem „goldenen Jahrzehnt“ des
demokratischen Sozialismus.
Sprecherin 1:
Zurück in bessere Zeiten
Autor:
Dieser Abschnitt der Demokratiegeschichte in Europa war geprägt von der politischkulturellen Hegemonie sozialdemokratischer Parteien und Gewerkschaften der
„linken Mitte“. Sie hatten, im europäischen Nachkriegskonsens mit Mitte-rechtsParteien, die europäische Demokratie aus jenen Trümmern wieder aufgebaut, die
vom deutschen Nationalsozialismus und den vielen kleineren national-faschistischen
Diktaturen der Dreißigerjahre hinterlassen worden waren. Es war die Zeit des
„Rheinischen Kapitalismus“, vielen vielleicht besser bekannt als „soziale
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Marktwirtschaft“. Der zerstörerische „Kasinokapitalismus“ war in diesen Jahren noch
ein außereuropäisches Phänomen.
Später, nach den Revolten und inneren Umbrüchen in den westlichen Demokratien
der 60er-Jahre, bildeten Frankreich, die Bundesrepublik, Österreich, auch Italien eine
nicht sehr enge, aber doch wirksame Allianz des Fortschritts. Mitte der 1970er-Jahre
wurde sogar die etwas altbackene Parteienvereinigung mit dem hochtrabenden Titel
Sozialistische Internationale zu neuem Leben erweckt. Lange hatte sie, von niemand
wirklich beachtet, ein etwas obskures Dasein gefristet. Unter der Präsidentschaft des
deutschen Exkanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, gesteuert von
dessen Büro im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus, mischte sie dann fast zwei
Jahrzehnte lang in der internationalen Politik mit - am Rande zwar, aber ziemlich
effizient. Sie wirkte als Ratgeber, Krisenvermittler und in regionalen Kleinkonflikten
auch mal als Friedensstifter.
Es war die Zeit, in der die Sozialdemokraten Willy Brandt in Bonn, Olof Palme in
Stockholm, Gro Harlem Brundtland in Oslo und Bruno Kreisky in Wien die politischen
Debatten der europäischen Sozialdemokratie inspirierten. Das waren die Jahre, in
denen die deutsche Ostpolitik die Grundlagen für die innere Entspannung in Europa
und die spätere Überwindung der Spaltung legte und die westeuropäische Linke die
demokratischen Entwicklungen auf der iberischen Halbinsel und in Griechenland
anstieß und förderte.
Musik
Autor:
Es war auch die nervöse Phase, in der Henry Kissinger davon phantasierte, ganz
Europa werde in zehn Jahren 'marxistisch' sein. Dementsprechend wollte er 1974
gleich den Anfängen wehren und mit einer direkten Intervention die Nelkenrevolution
der Militärs beim Nato-Partner Portugal stoppen. Es waren auch die deutschen
Sozialdemokraten, Bundeskanzler Schmidt und der SPD-Vorsitzende Brandt, die das
über inoffizielle Kanäle verhinderten. Die SPD war es auch, die nach Francos Tod in
mannigfaltiger Weise den Aufbau demokratischer Strukturen in Spanien unterstützte.
Viele griechische Antifaschisten – Kommunisten, Sozialisten, Konservative –
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überlebten die Herrschaft der Athener Militärjunta damals im deutschen und
schwedischen Exil.
Unvergessen, vor allem in Israel und im arabischen Raum, sind bis heute die
Aktivitäten Bruno Kreiskys als Fürsprecher der palästinensischen Sache. Das gilt
auch für den politischen Kampf Olof Palmes gegen Südafrikas rassistisches
Apartheid-Regime. Dass der damalige Geheimdienst des Burenstaats hinter der
Ermordung Palmes im Februar 1986 steckte, konnte nie gerichtsfest bewiesen
werden. Die vorherrschende Einzeltäterthese wird in Schweden dennoch bis heute
im politischen Milieu bezweifelt.
So war dies, alles in allem, die große Zeit des demokratischen Sozialismus in
Europa. Vorbei, fast vergessen. Von der neuen späteren Blüte, angestoßen vom
Wahlsieg Bill Clintons in den USA im Jahr 1992, wird gleich noch die Rede sein.
Sprecherin 1:
Die Wende
Autor:
Der Diskurs vom Ende der sozialdemokratischen Epoche hatte zu Beginn der
1980er-Jahre schon längst begonnen, nachdem im Anschluss an die Wahlerfolge
von Margaret Thatcher und Ronald Reagan die große geistige und machtpolitische
Wende in den westlichen Demokratien begonnen hatte. In Bonn setzte sie sich mit
der Kanzlerschaft Helmut Kohls 1982 durch.
Damals schrieb der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf, Direktor der
London School of Economics:
Zitator:
„Ein Themenwechsel findet statt. Die Annahmen der Welt von gestern helfen uns
nicht weiter bei der Bewältigung der Probleme von morgen. Morgen ist nicht die
Fortsetzung von gestern. Morgen ist auch nicht das Gegenteil, schon gar nicht die
Rückkehr zu einem aufgemöbelten Vorgestern. Morgen wird anders sein. Das
Thema, das sich verändert, trägt einen Namen: Sozialdemokratie.“
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Autor:
Dahrendorf schrieb keineswegs unfreundlich über die SPD und deren beide Kanzler,
Brandt und Schmidt. Immerhin hatten sie das westliche Deutschland 13 Jahre lang
anständig regiert und zur europäischen Entwicklung – politisch und ökonomisch –
erheblich beigetragen. Aber es war bereits – unüberhörbar – ein Nachruf. Dieser
Blick des Liberalen auf das sozialdemokratische 20. Jahrhundert richtete sich
durchaus respektvoll zurück, ohne Groll, aber auch ohne Bedauern:
Zitator:
“In seinen besten Möglichkeiten war das Jahrhundert sozial und demokratisch. An
seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden. Wir haben alle ein paar
Vorstellungen in uns aufgenommen und um uns herum zur Selbstverständlichkeit
werden lassen, die das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren:
Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus.“
Autor:
Die Formulierung vom “Ende der sozialdemokratischen Epoche“ blieb an den
Parteien der linken Mitte im demokratischen Europa jedenfalls wie ein Etikett mit
Verfallsdatum kleben.
Sprecherin 1
Brüder zur Sonne empor - Eine trügerische Hoffnung
Autor:
Im Sog des Wahlsiegs der US-amerikanischen Demokraten unter Bill Clinton tankten
die Sozialdemokraten noch einmal etwas Kraft und gewannen Wahlen. In
Großbritannien, und danach, 1998, auch im vereinigten Deutschland.
Atmo: Blair nach dem Wahlsieg
Autor:
Wie wurde da gefeiert! The boys are back in town. Der Fortschritt war heimgekehrt,
das Leben ging weiter. Für ein paar Jahre waren die Sozialdemokraten in 13
Mitgliedsländern der damals 15 Mitglieder umfassenden Europäischen Union an den
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Regierungen beteiligt; in 11 Regierungen stellten sie den Regierungschef. Bei
passenden Gelegenheiten wurde nicht selten im Parteifreundeskreis das Wort vom
“Ende der sozialdemokratischen Epoche“ noch einmal aufgerufen und unter
fröhlicher Zustimmung als überholt und widerlegt belächelt. Sie fühlten sich wie
Totgesagte nach der Auferstehung. Doch auch die jähe Blüte vor der
Jahrtausendwende vermochte den Niedergang nicht aufzuhalten.
Sprecherin 1:
Der Feind schläft nicht
Autor:
An dieser Stellen sollten wir nicht übersehen, dass im Herzen dieser neu florierenden
Mitte-links-Renaissance die Gegenströmung schon rumorte, die heute als
Rechtspopulismus nicht nur Österreichs Sozialdemokraten bedrängt und umtreibt:
Ende 1999 landete der rechtsradikale Volkstribun Jörg Haider aus Kärnten mit seiner
von Altnazis durchsetzen FPÖ einen krachenden Wahlerfolg. Nach dem
Jahreswechsel bildete seine Partei eine von der christdemokratischen ÖVP geführte
Zweiparteien-Koalition, ohne Haider zwar, aber dennoch unter großer internationaler
Beachtung. Das war die erste Regierung in der EU unter Beteiligung einer
rechtspopulistischen Partei. Das sozialdemokratische Europa erschrak, protestierte,
versuchte Österreich eine Zeitlang mit Isolierung zu bestrafen und musste sich am
Ende doch damit abfinden.
Sprecherin 1:
Was nun ?
Autor:
Die Strategen des „rosaroten Europa“ mit seiner immer noch stattlichen
sozialdemokratischen Mehrheit entfalteten nun emsige Aktivitäten. Interessenten aus
der Welt der Wirtschaft, der Finanzbranche, der Börsen, der
Kommunikationstechnologien sahen ihre Chance und suchten den Kontakt. Neue
Liaisons und Partnerschaften entstanden. Die strebsamen Politikdenker und die
ehrgeizigen Jungmanager harmonierten nun aufs Beste. Das berühmt-berüchtigte
US-amerikanische Drehtürensystem, der Daueraustausch von Personal zwischen
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Staatsverwaltung und Politikbetrieb auf der einen und Business auf der anderen
Seite hielt Einzug; es sei für alle Beteiligten und nicht zuletzt für die Gesellschaft von
Nutzen, hieß es. Nur die Gesellschaft scheint das selten zu bemerken.
Fest steht, dass das Zusammenleben der 'coolen Typen' von hüben und drüben
funktionierte. Alte Feindbilder zwischen der demokratischen Linken und der
modernen Wirtschaft wurden rasant abgebaut, die neue Wirtschaftsfreundlichkeit der
Rosaroten in Europa wurde gewürdigt.
Vor allem Rot-Grün in Deutschland bewährte sich als neuer verständnisvoller Partner
der Unternehmen mit marktwirtschaftlichen Reformen, an die sich die konservativliberale Vorgängerregierung in 16 Jahren nicht herangewagt hatte. Der „Spiegel“
fasste diese Phase später einmal zusammen:
Zitator:
„Es zählt zu den ironischen Wendungen der deutschen Geschichte, dass
ausgerechnet unter der ersten rot-grünen Bundesregierung der Markt über den Staat
dominierte: Die Spitzensteuersätze sanken, die Finanzmärkte wurden dereguliert.
Weil Konzerne ihre Unternehmensbeteiligungen plötzlich nahezu steuerfrei
verkaufen konnten, zerbrach die alte Deutschland AG, jene Festung aus
wechselseitigen Beteiligungen zwischen deutschen Großbanken (das waren damals
noch fünf!), Versicherungen und Industriekonzernen. Privatisiert wurde alles, was
nicht bei drei auf dem Baum war. Briefe zustellen, Telefonanschlüsse legen, Strom
erzeugen: Das kann doch der Markt alles viel besser als der Staat.“
Autor:
Hier zeigt sich vor allem die Wirkung des Neuen Denkens der ReformSozialdemokratie, die von New Labour in London ausging. Die alte, von
Gewerkschaften gesteuerte Industriearbeiterpartei, war von Margaret Thatcher in
den 11 Jahren ihrer Amtszeit als Premierministerin zur Bedeutungslosigkeit reduziert
worden. Nun erlebte die Partei eine Verjüngungskur. Von smarten, marketingversierten Kommunikations-Experten waren sie quasi rundum erneuert worden.
Labour war kaum wieder zu erkennen, mit frischen Farben und konsequenter weise
mit neuen Markennamen: „New Labour“. Alles hatte gepasst zum
Imagegesamtkunstwerk Cool Britannia: Make-up, Outfit und der Kandidat.
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Über allem thronte der jugendlich-strahlende Parteichef und neue Premierminister
Tony Blair, der Mann der goldenen Worte und einer Botschaft, die er selbst immer
wieder „radikal’“ und „revolutionär“ nannte - Begriffe, die so wenig mit den Inhalten
seiner Regierungszeit zu tun hatten. Alles würde nun anders werden. Ganz anders.
So wie es der im Wahlkampf 1997 benutzte britische Poptitel verhieß: Things can
only get better
Musik: Wahlkampfhit New Labour
Autor:
Tony Blair hatte Helfer, intelligente Schnelldenker, die in der britischen Politik rasch
zu Ruhm und Ansehen kamen, einer der Wichtigsten sein akademischer Coach, der
Politikwissenschaftler Anthony Giddens. Er war ab 1997 Direktor der London School
of Economics.
Giddens lieferte die Inhalte zum veränderten Design, die Ideen zur neuen Hülle, die
Begriffe zur flotten Präsentation. Er gab der Partei eine neue Sprache, die zum Inhalt
der Reformpolitik „jenseits von links und rechts“ und zum 'Abschied vom
Klassenkampf' passte. Mit der eigentlich schon etwas abgenützten Metapher vom
„Dritten Weg“, der zwischen dem entfesselten Marktliberalismus der Altrechten und
der orthodoxen Zwangswirtschaftsideologie von Altlinken in eine bessere Zukunft für
alle Teile der Gesellschaft führen sollte; und er warb vehement und zunächst
wirkungsvoll für die Vorstellung, dass die Zukunft vor allem von der Reform des
Arbeitsmarktes abhänge: Welfare to work. Jeder, der arbeiten konnte, sollte es auch
tun. Das sollte kein Arbeitszwang sein, war es aber, angesichts schwindender
sozialversicherter Arbeitsplätze.
Zitator:
„Wer von der Gesellschaft profitiert, muss auch eine Gegenleistung erbringen.
Konkret: Wer zum Beispiel Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bekommt, muss sich aktiv
um einen neuen Job bemühen und etwas aus seinem Leben machen.“
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Autor:
Ob sein Reformprojekt für sozialdemokratische Parteien nicht eine Art
Selbstmordprogramm bedeute, wurde Professor Giddens damals vom „Spiegel“
gefragt. Er war offenkundig problembewusst:
Zitator:
„Natürlich ließe sich eine solche Idee nur in kleinen Schritten umsetzen. Aber nur
wenn die Linke bereit ist, radikal zu denken, kann sie die Probleme wirklich an den
Wurzeln packen.“
Autor:
Radikal denken! In der Labour-Party und in der Sozialdemokratie insgesamt hatte
das bis dahin eine andere Bedeutung gehabt. Radikal dachte beispielsweise der
frühere linken Labour-Wortführers Tony Benn, und erst recht dessen damaliger
Mitarbeiter im Parlament, der junge Gewerkschafter Jeremy Corbyn, der ab 1981
selbst dem britischen Parlament angehörte. Der Dritte Weg war in Corbyns Augen
ein Irrweg, mit Tony Blair konnte er nichts anfangen. Während der 13-jährigen
Labour-Regierungszeit galt er als Hinterbänkler, in Opposition zur eigenen
Parteiführung. Am 12. September 2015 wurde er zum neuen Labour-Chef gewählt.
Atmo: Wahlergebnis für Corbyn Labourparteitag 2015
Autor:
Die Mehrheit, die ihn gewählt hatte, mochte gedacht haben: Things can only get
better. Endlich! Corbyns Programm spiegelte ihre Forderungen und Erwartungen:
Vorrang für den Kampf gegen die Armut, Schluss mit dem ideologischen Sparkurs
der Konservativen, Verstaatlichung wichtiger, unter den Konservativen privatisierter
öffentlicher Einrichtungen, vor allem der Eisenbahn und der Energieversorgung.
2020 will Corbyn als Spitzenkandidat antreten.
Atmo: Corbyns Dankesrede
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Autor:
Tony Blair kann es kaum glauben. Verstehen sowieso nicht. Dies ist eine andere
Welt als die Seine. Blairs New Labour-Kampagne war damals, 1997, anders
gestrickt. Sie lebte vor allem vom stilistischen Kontrast. Die neue Mitte der britischen
Gesellschaft war, ohne politisch insgesamt nach links gerückt zu sein, der langweilig
gewordenen Tories überdrüssig geworden. Blairs modernes Reformpathos passte
besser zum Zeitgeist und Stimmungstrend der Neunziger. Der Wahlsieg Blairs
machte Eindruck auf dem Kontinent.
Doch den deutlich auf Dialog mit dem Neoliberalismus angelegten Inhalten des
„Dritten Wegs“ von Blair und Giddens näherte sich die SPD-Führung um das Duo
Schröder-Lafontaine zunächst nur zögerlich.
Blair wurde zwar für den beginnenden Wahlkampf nach Deutschland eingeladen.
Lafontaines Abneigung gegenüber dem angeblichen britischen Heilsbringer war
jedoch durchaus bekannt. Parteidisziplin und Wahlkampfzwänge zwangen den SPDVorsitzenden allerdings zur Selbstdisziplin und Zurückhaltung. Der Spitzenkandidat
Schröder hielt sich aus dem potenziellen Konfliktthema ‚Dritter Weg‘ heraus. Er
sorgte aber dafür, dass auch der französische Genosse und Wahlsieger Lionel
Jospin eingeladen wurde.
Sprecherin 1
Die Kritik am Dritten Weg blieb nicht aus
Autor:
Viel strenger, ja aggressiver ging mit dem ideellen Konzept des Dritten Wegs die
belgische Politologin Chantal Mouffe ins Gericht. Sie sah in Anthony Giddens’
Versuch, damit zwischen den klassischen Gegnerschaften von Arbeit und Kapital
einen neuen Konsensus zu schaffen, eine gefährliche, die Demokratie gefährdende
Fehlentwicklung. Ihr plausibles Argument: Wo die Unterschiede vermindert oder gar
beseitigt werden, geht die Wahlmöglichkeit verloren. Das Interesse an der
Demokratie schwindet. Chantal Mouffe und ihr 2014 verstorbener Mann und
Berufskollege, Ernesto Laclau, lehrten an der Universität in Essex, einer Anlaufstelle
für linke Denker und Aktivisten, darunter auch Linkspolitiker wie der kurzzeitige
griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und der spanische Politologe Pablo
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Iglesias, Gründer und nun Spitzenkandidat der Linkspartei „Podemos“. Sie stehen für
das Konfliktmodell der Demokratie. Ähnlich wie Jeremy Corbyn in Großbritannien.
Atmo: Pablo Iglesias Rede
Autor:
Inhaltlich sah Chantal Mouffe im Dritten Weg das Eingeständnis der verlorenen
politisch-kulturellen Hegemonie der Linken gegenüber Neokonservativen und
Neoliberalen. „Jenseits von links und rechts“, das ist für sie so viel wie überall und
nirgendwo, der „Dritte Weg“ ist für sie bestenfalls eine sozialdemokratische Version
des Neoliberalismus. Er bedeute die bedingungslose „Akzeptanz der bestehenden
Hegemonie“. Die voraussichtliche Konsequenz daraus: Politik werde auf „Spinning“,
also auf konfliktverschleiernde Öffentlichkeitsarbeit reduziert. Und wo die
fundamentalen Unterschiede zwischen den Parteien gelöscht worden seien, schlage
die Stunde der Werbeagenturen, die mit ihrem „cleveren Marketing“ der Kundschaft
ihre Produkte anböten:
Zitatorin:
„Die Folge ist eine wachsende Politikverdrossenheit und ein dramatisches Sinken der
Wahlbeteiligung. Wie lange wird es dauern, bis die Bürger das Vertrauen in den
demokratischen Prozess vollkommen verloren haben?“
Autor:
Auch Gerhard Schröder, obwohl ihm das unternehmensfreundliche Konzept des
„Dritten Wegs“ nicht wesensfremd war, verhielt sich noch abwartend. Mit dem in sich
geschlossenen akademischen Gesamtkonzept des „Dritten Weges“ konnte er
eigentlich wenig anfangen. Es interessierte ihn so wenig wie ihn die Einwände der
ihm ohnehin unbekannten Chantal Mouffe interessiert hätten. Theorielektüre ist nicht
seine Sache. Solche Diskurse übten auf den späteren Kanzler geringe Faszination
aus. Diese Haltung zeigte auch später Folgen, als Schröder gefordert war, die
Agenda 2010 wirtschafts- und gesellschaftspolitisch zu begründen. Er zog das Basta
vor.
Musik
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Autor
Als bald nach Schröders Einzug ins Bonner Kanzleramt 1998 klar wurde, dass Tony
Blairs Denk- und Planungsbrigade aus dem Dritten Weg nun eine gemeinsame
deutsch-britische Operation Zukunft machen wollte, entschied der neue deutsche
Kanzler: Das soll „der Bodo“ machen: Bodo Hombach. Der Mann für Wahlkämpfe, für
Probleme, fürs Grobe und für Besonderes. Auch für, um ein legendäres SchröderWort zu gebrauchen, so „Gedöns“ wie den Dritten Weg. Hombach machte es auf
seine Art. Auch er ist kein Intellektueller. Das half. Mit Hilfe des britischen Teams um
Blair wollte der streitlustige Helfer im Namen Schröders die Lafontaine-SPD wissen
lassen, wo’s künftig lang geht. Basta.
Sprecherin 1
Der Basta-Kanzler und die Bosse
Autor:
Das Strategie-Papier wurde im Juni 1999 vorgelegt. Es trug den schlichten Titel: „Der
Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“. Es wurde in Großbritannien
weitgehend ignoriert, in Deutschland zumindest in SPD-Kreisen mit Staunen und
zum Teil verärgert zur Kenntnis genommen. In der Zwischenzeit ist es vergessen
und verblichen. Als Mixtur sozialdemokratischer Inhalte und neoliberaler Politik hätte
es heute, ein Jahrzehnt nach der „Agenda 2010“ und ihrer rot-grünen
Sozialstaatsreformen, vermutlich geringere provokatorische Wirkung. Es passt in ein
von einer großen Koalition weitgehend einvernehmlich regiertes Land. Gedruckter
Konsens, „jenseits von rechts und links“, offen für die Bedürfnisse der Wirtschaft und
nur mit einem Pflichtteil, der sich den Arbeitnehmerinteressen und sozialen
Problemen der gesellschaftlich Abgehängten widmet. Unleugbar hatte das darin
deutlich gewordene Einlenken der Politik auf Wünsche und Forderungen der
Wirtschaft dazu beigetragen, dass die deutsche Volkswirtschaft im europäischen
Gesamtsystem von der „Roten Laterne “ innerhalb weniger Jahre zur Lokomotive
wurde. Diese Strategie unter dem Stichwort „Modernisierung“ hatte aber ebenso
bewirkt, dass die Traditionspartei SPD inzwischen bei Bundestagswahlen gerade
noch auf ein Viertel der Wählerstimmen hoffen kann.
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Damit ist sie immer noch ein wichtiger Faktor in der Politik und eine der stärksten
Parteien innerhalb der europäischen Sozialdemokratie. Die einstige politische
Hegemonie aber ist dahin. Die Themen setzen andere.
Atmo: Schröder: Es ist ja so, man kann gar nicht genug gelobt werden. Mein
Problem ist nur: es ist ein bisschen viel von der anderen Seite zur Zeit.
Autor:
Für Politikwissenschaftler wie Chantal Mouffe oder die rote Zelle LafontaineWagenknecht von der Linkspartei ist diese Entwicklung eine Bestätigung ihrer Kritik
an der sozialdemokratischen Kapitulation gegenüber dem Neoliberalismus. Doch
möglicherweise lag die Ursache für den auf dem ganzen Kontinent seit einem
Jahrzehnt zu beobachtenden Vertrauensverlust in die Sozialdemokratie weniger an
den Reformkonzepten und den Prioritäten, die man sich in den Staatskanzleien
zwischen Stockholm und Rom, Madrid und Wien, Paris und Bonn/Berlin
vorgenommen hat - mit oder ohne strategische Mitwirkung aus London.
Es könnte auch an den Reformern selbst gelegen haben. An denen, die den Dritten
Weg hatten gehen wollen, aber unterwegs dann bald das Ziel vergessen, auf
Erklärung und Diskussion verzichtet oder schließlich die Orientierung verloren hatten.
Schröder zum Beispiel: Zu seinen Vorgaben gehörte, dass er „keine
wirtschaftsfeindliche Politik“ machen würde. Eine Art „Basta!“-Argument und zugleich
sein Mantra als Wirtschaftspolitiker. Schließlich kokettierte er ja auch gern damit,
dass er der sozialdemokratische Ludwig Erhard sei.
Er mochte sich mit seiner Partei, zu Zeiten als Ministerpräsident mit dem grünen
Koalitionspartner in Niedersachsen und mit den TV-Moderatoren in der BundestagsWahlnacht 2005 gestritten haben: Streit mit Vorstands- und
Aufsichtsratsvorsitzenden der deutschen Wirtschaft vermied er stets. Am Tag vor
Oskar Lafontaines Rücktritt 1999 hatte er in einer Debatte im Kabinett einmal mehr
verkündet, mit ihm werde es keine neuen Belastungen der Wirtschaft geben. Es
wurde kolportiert, diesmal habe er die rituelle Formel angeblich mit einer
Rücktrittsdrohung verbunden. Wenn es nicht wahr ist, so ist es hübsch erfunden.
Dementiert wurde es jedenfalls nie.
So ein Auftritt ist das Recht jedes Regierungschefs. Aber war es politisch klug? War
die Haltung dahinter sozialdemokratisch, progressiv, nach vorn gerichtet? „Nach
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vorn“ im Sinne klassisch sozialdemokratischer Begriffe, von „Vorwärts“ und
„Fortschritt“ für die ganze Gesellschaft? War es wichtiger, die SPD umzuerziehen, ihr
die alten „Feindbilder“ zu nehmen, wie es aus dem strategischen Schröder-BlairPapier immer wieder herausklang? Oder hätte die politische Verbindung von
Fortschritt und Gerechtigkeit nicht eher eine Balance von Rechten und Pflichten
gebraucht, in der auch die Wirtschaft gefordert wird? Vor der Überforderung der
nationalen Unternehmen und Wachstumsproduzenten zu warnen, ist legitim und
mitunter sogar angebracht. Genauso ist es aber legitim und ratsam, die
Führungselite der deutschen Wirtschaft – die „Bosse“ – an ihre
Gesamtverantwortung gegenüber der Gesellschaft zu erinnern. Die Sozialdemokratie
auf dem Dritten Weg hat diesen Aspekt irgendwie übersehen. Oder ignoriert. Oder –
– einfach vergessen?
Sprecherin 1
Nachfrage bei den Vordenkern
Autor:
Als ich im Frühjahr 2002 Anthony Giddens in London sprach, ging es auch um dieses
offenbar sensible Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und den Wirtschaftsführern
in der kapitalistischen Welt. Giddens hatte gerade ein neues Buch veröffentlicht:
Where Now For New Labour? Wohin jetzt, New Labour. Eine Art Orientierungshilfe
für Freunde Blairs, die Giddens‘ Empfehlungen inzwischen etwas einseitig
interpretierten. Der Besuch fiel in die Zeit nach dem Auffliegen des gigantischen
Enron-Bilanzfälschungsskandals in den USA, die Frage des Sittenverfalls im
Geschäftsleben war nun ein verbreitetes Thema. Warum, wollte ich wissen, hatte die
New Labour-Regierung zwar entschlossen einige angekündigte
Arbeitsmarktreformen durchgeführt, dagegen die von Blair ebenfalls propagierte
gesellschaftliche Unternehmensverantwortung – die berühmte corporate
responsibility –, nicht mit derselben Energie verfolgt? Giddens Antwort:
Zitator:
„In der Tat gibt es eine etwas unkritische Haltung zu ungehinderten, unregulierten
Unternehmeraktivitäten und zu wenig Nachdenken darüber, was
Verantwortungsbewusstsein eines freien Unternehmers bedeutet. Die Skandale, die
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wir zurzeit erleben, zeigen, wohin dieses Versäumnis führen kann. Ich war immer der
Meinung, dass New Labour eine etwas zu starke ‚Liebesaffäre’ mit den
Wirtschaftsführern hat. Natürlich muss man die Unternehmen unterstützen, sonst hat
man keine florierende Wirtschaft. Aber das ist etwas anderes als unkritische
Bewunderung für erfolgreiche Unternehmer.“
Autor:
Unzufrieden zeigte der Pate des „Dritten Weg“-Projekts sich auch mit dem
abgemagerten Reformbegriff der „Reformer“. Hauptsache es funktioniert, das sei ihm
zu wenig und mild formuliert. Genau genommen ist es armselig. Giddens formuliert
das eleganter:
Zitator:
„Pragmatismus ist gut, aber zugleich bedarf es einer Vision von der Gesellschaft, die
man anstrebt.“
Autor:
Die alte, wie er meinte: ideologische „Wirtschaftsfeindlichkeit“ aufzugeben, sei völlig
in Ordnung. Die Interessen der Unternehmen zu berücksichtigen, sei richtig. Doch
das bedeute nicht, den Unternehmern jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und
beflissen zu erfüllen. Vielleicht hätte er das den Freunden in Downing Street schon
früher sagen sollen, damals, als sie noch auf ihn hörten. Oder Bodo Hombach. Der
war inzwischen von der politischen Bühne in die Wirtschaft verschwunden.
Andere kritisierten zu dem Zeitpunkt - immerhin nach fünf Jahren Labour-Regierung die Modernisierer radikaler und prinzipieller. Richard Sennett zum Beispiel, der USamerikanische Soziologe, auch er ständiger Gesprächspartner der BlairIntellektuellen. Ich traf ihn gelegentlich auf Konferenzen in Berlin oder auf Seminaren
in abgelegenen Ortschaften wie dem malerischen Bellagio am Comer See. Dorthin
lud ein Think Tank aus dem New-Labour-Umfeld gelegentlich zum
Gedankenaustausch ein. Auch Sennett kritisierte den überzogenen Pragmatismus
der Reformer, sprach von der Verengung ihres Blicks auf das Machbare und
beklagte deren Verzicht auf eine Betrachtung des gesamten Bildes, also aller Teile
der Gesellschaft. Er verspottete sie als Machbarkeitstechniker der neuen,
'pragmatischen Linken'.
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Zitator:
"Ihre Überzeugung, es gebe für alles eine praktische Lösung, ist eine Krankheit von
Mitte-Links. Diese Leute glauben, alles ist machbar. Damit verwechseln sie das
Praktische mit dem Realistischen – ohne Blick auf den Hintergrund des Problems.
Sie glauben, die Zukunft der Linken liegt darin, praktisch zu sein. Aber das ist ein
Irrtum."
Autor:
Deutlicher gesagt: Wer Reformen versucht, soll die real existierenden
Machtverhältnisse nicht übersehen.
Die demokratischen Gesellschaften haben inzwischen reagiert. Sie entziehen nicht
nur den Sozialdemokraten, sondern allen etablierten Parteien in dramatischem
Ausmaß das Vertrauen. Doch die Sozialdemokraten sind zur Zeit von diesem
Vertrauensschwund am meisten betroffen. Sie verlieren die größten Stimmanteile
und das in alle Richtungen. Sie geben an die konservative Konkurrenz ab, von der
sie sich in vielen Fällen kaum noch unterscheiden; an die nahezu überall in Europa
florierenden rechtspopulistischen Parteien, die mit ihren Hassparolen im Zeichen der
massiven Zuwanderung bei sozialen Verlierern, Verängstigten und Verhetzten
starkes Echo finden; und sie verlieren nicht zuletzt an neue Parteien, die mit neu
aufgelegten - zum Teil klassisch sozialdemokratischen - Programmen verstärkt
Gehör bei den „Empörten“ finden – in Spanien: die „Indignados“ der sozialen
Protestbewegung des Frühjahrs 2011, denen „Podemos“ jetzt eine organisierte
Alternative bietet – und den speziell von der Anpassungsstrategie der
Sozialdemokratie Enttäuschten – in Großbritannien: Jeremy Corbyn, der neue
Hoffnungsträger der sozialradikalen Labour-Linken; und sie verlieren an die „Partei
der Nichtwähler“, die zum Teil aus politisch motivierten Wahlverweigerern besteht,
zum größeren Teil aber aus denjenigen, die vom demokratischen Prozess gar nicht
mehr erreicht werden und in einer postpolitischen Parallelwelt leben, in der
Demokratie und Wahlen keine Rolle mehr spielen.
Sprecherin 1
Europäische Sozialdemokraten - ein blasses Bild
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Autor:
Wo die Sozialdemokraten in Europa noch regieren oder als Juniorpartner
mitregieren, wie in Deutschland und den Niederlanden, tun sie das nicht gerade in
strahlender Manier. Auch nicht, wenn sie den Regierungschef stellen, wie
beispielsweise in Österreich, Schweden oder Malta. Das gilt auch für Frankreich, wo
der von der Verfassung mit viel Macht ausgestattete Präsident derzeit ein Sozialist ist
und seine Partei die Regierung stellt. Aber was bedeutet das Regieren in einem Land
schon angesichts der realen Machtverhältnisse? Verfügen die Sozialisten in
Frankreich über die politische Hegemonie, setzen sie die Themen? Weit davon
entfernt: Stattdessen starrt ganz Europa wie gebannt auf die in ihrer demagogischen
Wucht von der demokratischen Linken nicht zu übertreffende Vorsitzende des
rechtsradikalen Front National, Marine Le Pen, und hofft, dass wenigstens der
konservative Nicolas Sarkozy bei der nächsten Präsidentschaftswahl in Frankreich
dafür sorgt, dass sie es nicht in die Stichwahl schafft.
Und Spanien? Die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) hat sich etwas erholt. Doch
welche Rolle sie in diesem Land noch spielen kann, in dem das klassische
Zweiparteisystem entlang der traditionellen Konfliktlinien soeben zerbröselt, ist
ungewiss. Die neue linke Bewegungspartei Podemos, die an ihre Stelle treten
möchte, ist ein unwägbarer Faktor. Aber Podemos ist jedenfalls ein Hoffnungsträger
für viele Demokraten. So ist die spanische Wahl am 20. Dezember ein europäischer
Termin. Das Ergebnis könnte Neues zeugen. Echte Veränderung. Ansonsten
beschränken sich sozialdemokratische Hoffnungen und bescheidene Erwartungen
auf Italien, wo der rührige Matteo Renzi bisher gut über die Runden kommt, zwar
ohne große gesellschaftliche Visionen, aber wenigstens mit dem Image des
zupackenden, auch machtbewussten Machers.
Musik
Autor:
In Osteuropa, den sogenannten jungen Demokratien, sieht es für die
Mitgliedsparteien der Europäischen Sozialdemokraten (SPE) ganz bitter aus. Wo sie
regieren, ist eine sozialdemokratische Substanz nur schwer erkennbar. Am
wenigsten in der aktuellen gesamteuropäischen Flüchtlingsfrage.
Korruptionsvorwürfe und Gerichtsverfahren gegen führende Funktionäre spielen eine
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umso größere Rolle; in Rumänien ist der Regierungschef Ponta auf öffentlichen
Druck gerade zurückgetreten. Viel zu spät.
Und dann noch Griechenland, das Land, in dem seit Anfang 2015 Syriza an der
Macht ist, in Europa bisher ein politisches Unikum. Die sozialdemokratische „Pasok“
hingegen, die Griechenland Anfang des 21. Jahrhunderts in den Euro geführt hat, ist
von der politischen Bildfläche nahezu verschwunden. Ihr letzter Vorsitzender,
Giorgos Papandreu, hat eine eigene Partei gegründet, sie schaffte es nicht ins
Parlament. Auch Pasok mit einem Wahlergebnis von knapp über 6 Prozent spielt in
der griechischen Politik keine Rolle. An der politischen Gestaltung des Landes ist
also weder Pasok noch Papandreus neue Kleinpartei beteiligt. Als Name aber lebt
Pasok weiter im politischen Fachjargon der angelsächsischen Welt: Dort fand man
für dieses Verlöschen einer Volkspartei die Vokabel „pasokification“: Pasokifizierung
– der Sturz einer Partei ins politische Nichts.
Sprecherin 1:
Wie konnte das passieren?
Autor:
Politische Wissenschaftler aller Lager haben sich inzwischen mit dieser Frage
beschäftigt, wie es zum Absturz der traditionsreichen europäischen Parteien
kommen konnte. Die Antworten sind umfangreich und vielfältig. Der gemeinsame
Nenner aber ist klar: Objektive Entwicklungen und subjektive Faktoren spielten
zusammen und entfalteten ihre schwächende Wirkung. Der außer Rand und Band
geratene Finanzkapitalismus – von „Raubtierkapitalismus“ sprach selbst Helmut
Schmidt – und die dadurch verschärften Krisen der Realwirtschaft mit ihren
verheerenden Folgen für den Arbeitsmarkt stellten die nationalen Regierungen vor
schwer lösbare soziale Folgeprobleme.
Atmo: S. Gabriel: Wenn es Experten für gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, liebe
Genossinnen und Genossen, dann sind das seit 152 Jahren Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten. Niemand weiß mehr darüber wie man eine Gesellschaft
zusammenhält als die deutsche Sozialdemokratie.
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Autor:
Zu den objektiven Faktoren zählen vor allem aber auch die internationalen und
regionalen Spannungen, die erbittert geführten Bürgerkriege wie in Syrien, alte,
latente Nachbarschaftskonflikte, die jederzeit zum Flächenbrand werden können, wie
im Nahen Osten, neue Konfrontationen, die sich auf alle anderen Konfliktzonen
auswirken, wie im Fall der Ukraine, bedrohliche innere Zuspitzungen wie in der
Türkei.
Die von diesen Krisen ausgelöste interkontinentale Fluchtbewegung verändert
gegenwärtig das politische Klima in den europäischen Demokratien. Das
Zusammenwirken der politisch-sozialen Störfaktoren, die Stichworte sind
Neoliberalismus, Finanzkapitalismus, Protektionismus, Nationalismus und
Destabilisierung ganzer Großregionen überfordert die traditionellen Mechanismen
und Fertigkeiten in den Schönwetterdemokratien des Westens. In der
Flüchtlingskrise haben die Rat- und Hilflosigkeit der Verantwortlichen diesen Mangel
besonders krass demonstriert. So nehmen die inneren Spannungen, Reizbarkeit und
Gewaltbereitschaft zu.
Gleichzeitig wächst die aggressiver werdende Renationalisierung der öffentlichen
Stimmung. Sie ist die Basis für Wahlerfolge rechtsextremer Parteien, von Schweden
bis Frankreich und Österreich über Polen, Ungarn und neuerdings auch
Deutschland. Stimmen, die in diese rechten Sammelbecken für wütende, frustrierte,
verängstigte Protestwähler drängen, kommen auch aus dem Wählermilieu der
Sozialdemokraten. Analysen der Wahlforscher zeigen: Deren enttäuschte Wähler
wandern nicht mehr wie früher in den „Wartesaal“ der Nichtwähler ab. Sie probieren
es nun auch im direkten Wechsel ganz rechts.
Sprecherin 1
Und wo ist der Notausgang?
Autor:
Man trifft sich weiterhin ein- oder mehrmals im Jahr in den Hauptstädten, wie zu der
Zeit, als Tony Blair noch eine Hoffnung und keine schlechte Erinnerung war. Und die
alte Frage ist auch die neue: Wie kann die siechende Sozialdemokratie wieder zu
Kräften kommen? Wo sind Hoffnungsträger oder Wegweiser, wo „Best-practise“Modelle zum Anfassen und Kopieren? Etwa Jeremy Corbyn, AlexisTsipras, Pablo
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Iglesias? Ihre Namen stehen zur Zeit für Bewegung von unten. Der US-„Sozialist“
Bernie Sanders, der Hillary Clinton gerade in Wahlkampfschwierigkeiten stürzt? Oder
Justin Trudeau in Kanada? Sie alle jedenfalls, verstehen sich auch als Garanten für
mehr Gemeinwohl, für ein Gesellschaftsmodell, das eine gerechtere Verteilung des
Reichtums, verspricht und der Macht der Finanz- und Wirtschaftseliten etwas
entgegensetzen will. Doch welchen Gegenkräften solche Versprechungen
ausgesetzt sind, ließ sich nicht zuletzt in Griechenland studieren.
Mit ihrem Plädoyer für Emotionalisierung der Politik mit Hilfe eines neuen radikalen
Populismus hat Chantal Mouffe einen wichtigen strategischen Punkt getroffen. Zur
Schwäche der Sozialdemokratie trug nicht zuletzt deren politische Konfliktscheu bei,
das Streben nach Anerkennung durch die Gegner von gestern – den „Klassenfeind“
– und das Misstrauen gegenüber charismatischen Gestalten mit der Fähigkeit, „die
Massen“ zu begeistern.
Die Sozialdemokratie muss ihre Ignoranz gegenüber den Interessen von
vernachlässigten Bevölkerungsschichten aufgeben. Diese Ignoranz ist der
Brandbeschleuniger in einer Demokratie, in der die Gestalten aus Dunkeleuropa
überall zündeln. Die Heimkehr ins eigene Milieu, die Kontaktaufnahme mit den
Menschen vor Ort - reconnecting, nennen es die Experten – ist die Voraussetzung
für die Renovierung des Betriebs. Das Quäntchen Populismus, das man dafür
braucht, stoppt allein nicht den „Niedergang“ der einstigen Arbeiterpartei.
Man könnte auch, in Abwandlung eines klassischen Merksatzes des SPDVorsitzenden Willy Brandt, der bei aller Sprödigkeit auch ein begnadeter
demokratischer Populist war, der Sozialdemokratie die Einsicht auf den Weg
mitgeben: Demokratie und Populismus sind nicht alles. Aber ohne Demokratie und
Populismus ist alles nichts.
Atmo: Willy Brandt 1969: Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche
Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung sich gegenseitig zu
verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.
Musik
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Absage:
Was tun?
Europas Sozialdemokratie in der Krise
Ein Dossier von Werner A. Perger
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015.
Es sprachen: Axel Gottschick und Bernt Hahn
Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Roman Weingart
Regie und Redaktion: Karin Beindorff
Musikausklang
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