Lernen mit Lernleitern – Schulentwicklungskonzeptionen aus Rishi

Thomas Müller
Lernen mit Lernleitern –
Schulentwicklungskonzeptionen aus Rishi Valley
Zusammenfassung: Die MultiGradeMultiLevel-Methodology und ihre Lernleitern sind
eine komplexe Methode, die vom Rishi Valley Institute for Educational Resources
(RIVER) im Rahmen einer indischen Landschulreform entwickelt wurde. Die Methode
geht von der Heterogenität aller Kinder aus und würdigt in ihrer Konstruktion und durch
die Beschaffenheit ihrer Lernmaterialien die Einmaligkeit der Lernprozesse auf Seiten
von Schülerinnen und Schülern wie Lehrenden. Als Möglichkeit des voll
individualisierten Lernens und Unterrichtens in Form einer inklusiv wirkenden Schule
strahlt diese Methode national und international aus.
Schlüsselworte:
Heterogenität
Lernleitern,
MGML-Methodology,
Individualisierung,
Aktivierung,
Learning with Ladders of Learning – Conceptions of School Development from
Rishi Valley
Abstract: The MultiGradeMultiLevel-Methodology and their ladders of learning are a
complex method that was developed by the Rishi Valley Institute for Educational
Resources (RIVER) in the framework of a rural Indian school-reform. The method is
based on the heterogeneity of all children and values in its construction and due to the
nature of their learning materials the uniqueness of the learning processes of pupils as
teachers. As a way of fully individualized learning and teaching in the form of an
inclusive acting school, this method emits nationally and internationally.
Keywords: ladders
heterogeneity
1.
of
learning,
MGML-Methodology,
individuality,
activation,
Die MultiGradeMultiLevel-Methodology und ihre Lernleitern
Vor gut 30 Jahren begann das Rishi Valley Institute for Educational Resources (RIVER) am
Aufbau von Schulen, die wie Satelliten in den sehr abgelegenen und armen Dörfern rund
um Rishi Valley liegen. Dort kann jedes Kind auf der Basis seiner kulturellen Herkunft einen
gut strukturierten Lernweg individuell beschreiten. Ausgangspunkt waren dabei
Fragestellungen, die auch aktuell in Deutschland und in vielen anderen Ländern virulent
sind: Wie kann man zum einen der großen Altersmischung und zum anderen der
Leistungsheterogenität der Kinder (eines Dorfes) in einer Schule bzw. in einer Klasse
gerecht werden? Für die indische Landsituation kam hinzu, dass sich Mitte der achtziger
Jahre weder die Kinder, noch die größtenteils nicht alphabetisierte Elternschaft, noch die
Lehrerinnen und Lehrer mit Schule und Unterricht identifizierten. Schulen waren in vielen
Dörfern nicht vorhanden oder aber es fand sehr unregelmäßig Unterricht ohne
Verantwortungsübernahme seitens der Lehrerschaft statt - wenn jedoch dann vielfach unter
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der Erzeugung von Angst und Druck. Die familiären, religiösen und landwirtschaftlichen
Verpflichtungen der Kinder, die oft angstbesetzte schulische Situation und ihr insgesamt
geringer Stellenwert führten dazu, dass viele Kinder keine Schule besuchten oder nach
wenigen Monaten oder Jahren abbrachen. Diese Situation brachte RIVER dazu, sich
grundsätzlich mit dem Lernen von Kindern und Jugendlichen zu befassen. Grundlage ihrer
Auseinandersetzung sind die bildungsphilosophischen Gedanken Jiddu Krishnamurtis, in
denen es auch darum geht, dass Schulen nicht auf Wettbewerb und Vergleich angelegt
sein brauchen, sondern die Einzigartigkeit jedes ihrer Schülerinnen und Schüler im
gemeinsamen Zusammenwirken fördern können, um angstfreies Lernen und Leben für
diese wie auch Lehrkräfte zu ermöglichen und so zu einer ebenso angstfreien Gesellschaft
beizutragen. Ein solch ganzheitlicher Ansatz von Bildungsarbeit wird von Krishnamurti im
Vorwort seiner Briefe an seine Schulen formuliert:
„They [die Schulen] are to be concerned with the cultivation of the total human being. These
centres of education must help the student and education to flower naturally. The flowering is
really very important; otherwise education becomes merely a mechanical process oriented to
a career, to some kind of profession.” (Krishnamurti/McCoy 2006, o. S.)
Um Kinder und Jugendliche in diesem ‚Aufblühen‘ im Leben unterstützen zu können,
weist Krishnamurti den Lehrerenden eine umfassende, ungetrennte Verantwortung für
den eigenen Bildungsprozess und den Bildungsprozess der Kinder zu.
„Education is not merely the teaching of various academic subjects; it is also the cultivation of
total responsibility in the student. (…) You, the educator in these schools, need to have this
deep concern and care of this total responsibility” (Krishnamurti/McCoy 2006, 28ff.).
Drei grundsätzliche Fragen leiten die Arbeit von RIVER daher bis heute:
1. Wie würdigt, unterstützt und begleitet Schule die Einzigartigkeit jedes Kindes und
Jugendlichen?
2. Wie lernen Kinder, Jugendliche und Lehrerende in einem voll individualisierten
Unterricht eigenständig und zugleich gemeinsam?
3. Wie bleiben das Lernen im und aus dem Leben sowie das Lernen im schulischen
Prozess ungetrennt?
Zunächst entstand als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit diesen Fragen unter dem
Namen „School in a Box“ eine von Dorf zu Dorf tragbare Tasche mit einem flexibel
einsetzbaren Lernset in Form von Aktivitätskarten für individualisiertes Arbeiten, das auf
Schulbücher verzichtete, weil diese keinen Zusammenhang mit der kulturellen und
regionalen Situation der Kinder aufwiesen. Ausgehend davon, leitete RIVER die
Entwicklung und den Aufbau von bis zu 16 Satellite-Schools (2016: zuletzt ‚nur‘ noch
sieben Schulen aufgrund der besseren Schulinfrastruktur ausgelöst durch den Right to
Education Act der indischen Staatsregierung) ein und entwickelte die MGML-Methodology
(Rishi Valley Education Centre 2003a und 2003b).
Mit Modellschulen und durch entsprechende Designer-Workshops und Fortbildungen
fördert RIVER seitdem schulische Entwicklungen in und außerhalb Indiens. Das Institut
gehört zu den innovativsten internationalen Impulsgebern für die Entwicklung voll
individualisierter Schulen, in denen angstfrei und zugleich erfolgreich gelernt wird. Die
Ausstrahlung der MGML-Methodology in zahlreiche Bundesstaaten Indiens erreicht nach
dem letzten UNICEF-Bericht derzeit etwa 250.000 Grundschulen und ungefähr zehn
Millionen Kinder (Müller/Lichtinger/Girg 2015, 24).
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2. Pädagogische Überlegungen und Konstruktion der Methode
Durch die MGML-Methodology wird die Schülerschaft als Lerngruppe mit ihrer Vielfalt an
Heterogenität (Boller/Rosowski/Stroot 2007) in Form von Alter, Leistungsfähigkeit,
Motivation, Begabung etc. belassen und keinen Homogenisierungsbemühungen
unterworfen. Das Lernen der Schülerinnen und Schüler wird über so genannte Lernleitern
(ladders of learning) strukturiert und dadurch zugleich abgesichert. Dies ermöglicht den
Schülerinnen und Schülern, die Dynamik ihrer eigenen Lernprozesse, insbesondere in
Form ihrer eigenen Lerngeschwindigkeit, zu entfalten. Gleichzeitig erlaubt es den
Lehrkräften ein flexibles Begleiten und Fördern in individuellen wie gemeinsamen
Situationen. Durch diese Grundanlage steht die MGML-Methodology exemplarisch für den
Charakter lebenslangen Lernens und ist zugleich ein Teil desselben (Hof 2009). Sie stellt
zudem eine gelungene Möglichkeit dar, die Umsetzung einer inklusiven Schule zu
realisieren (Unesco 2005).
“Life is a constant process of teaching and learning: To teach and to learn is not possible if
there is a motive, and when we have a motive the state of learning is not possible. Now, watch
this carefully: In the very nature of teaching and learning there is humility. You are the teacher
and you are the taught. So there is no pupil and there is no teacher, (…) there is only teaching
and learning which is going on with me. I am learning and I am also teaching myself; the
whole process is one” (Krishnamurti 1974, 2006, 149).
Ein wesentliches Grundanliegen der Methode ist es, eine angstfreie Lernatmosphäre zu
schaffen, in der jedes Kind, unterstützt durch klare Strukturen und auf Grundlage der
gültigen Lehrpläne, seiner eigenen Lernbewegung folgen kann. Insgesamt handelt es sich
um eine sehr komplexe Methode mit aktivitätsorientiert gestalteten Lernmaterialien inmitten
eines nicht-lehrerzentrierten Klassenzimmers. In der MGML-Methodology sind
verschiedene Lern- und Gestaltungsformen in regional und kulturell spezifizierten Bezügen
verwurzelt und zu einem Ganzen verbunden. Alle Leistungsstufen, die sich innerhalb eines
Klassen- bzw. Schulverbandes zeigen, werden bewusst einbezogen. Dieses Lernangebot
kann in wie folgt charakterisiert werden:
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Lernen mit Jahreslernleitern
und den darin enthaltenen Milestones
nach den Prinzipien der MultiGradeMultiLevel-Methodology
in heterogenen Lerngruppen
mit dynamischem Wechsel der Sozialformen
anhand von aktivitätsorientiertem Arbeitsmaterial
durch Lernstanddiagnosen in Evaluationen abgesichert
mit integriertem Helfersystem
mit einer Übersicht zu den individuellen Lernständen
mit Förder- und Vertiefungsoptionen
in einem professionellen Lernraumarrangement
in Freude – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Eines der zentralen Charakteristika ist die Realisierung eines aktivitätsorientierten
Unterrichts mit strukturierten und dadurch die Kinder freisetzenden Arbeitsprozessen. Die
Kinder selbst leiten mit Hilfe der in der Methode enthaltenen Lernleitern ihre Lernprozesse.
Das individuelle und gemeinsame Lernen mit Partnern, Gruppen oder in der Gemeinschaft
aller Schülerinnen und Schüler wirkt dabei in situations- und inhaltsspezifischen Variationen
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zusammen. Die Bildungsprozesse werden durch einzelne Lernmaterialien angeregt, auf
denen die mit ihnen verbundenen Aktivitäten beschrieben sind. Jedes Material ist zur
Systematisierung durch ein Symbol und eine Nummerierung gekennzeichnet und gibt somit
strukturierte Hinweise zur Bearbeitung, bietet inhaltliche Aufgaben an und ist ein Teil von
systematisierten Lernsequenzen, die in einer Lernleiter in eine zeitliche und zugleich
didaktische Reihenfolge gebracht werden. Alle Aktivitäten bilden mit ihren Lernmaterialien
auf der Basis gültiger Lehrpläne einen systematisierten Materialpool.
Lernleitern können als grafische Strukturierungsinstrumente für Lernprozesse in
fachspezifischen offenen Arbeitsprozessen angesehen werden. Sie ermöglichen eine
langfristige Lernprozesssteuerung. Die Lehrkräfte werden so von ihrer oft zu stark
prozesssteuernden Aufgabe im herkömmlichen frontalen Unterricht weitestgehend befreit.
Durch sogenannte Milestones in Lernsequenzen gegliedert, führen die Lernleitern durch
den systematisierten Materialpool. Linear aufgebaute Lernleitern sind von RIVER für
Sprache und für Mathematik entwickelt worden. Systemische Lernleitern findet man in den
„Environmental Studies“ als Lerntafel mit vernetzten Themenfeldern und einer ökologischen
Grundanlage. Die Milestones gliedern als kleinschrittige Sequenzen die Lernleitern. Sie
weisen eine didaktische Systematik auf, die als fünfstufige Lernfortschrittsentwicklung
konzipiert ist:
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Einführung (Introductory)
Übung (Reinforcement)
Evaluation des angestrebten Ziels (Evaluation)
Förderung (Remedial)
Ausweitung (Enrichment activities)
Die Milestones führen in dieser didaktischen Konstellation mit ihrer integrierten Evaluation
und adäquaten Förderung der Schülerschaft zu einer qualitativen Absicherung der offenen
und gleichzeitig stark strukturierten Lernformen. Durch diese Vorgehensweise werden
Lernlücken weitgehend verhindert. Ausgehend von konkreten Operationen in Mathematik,
von lebensorientierten Geschichten Situationen in ‚Sprache’ und so genannten ‚fiel studies‘
sind die Milestones nach fachdidaktischen Gesichtspunkten konzipiert. Grundsätzlich wird
ein Milestone von einem Kind erst nach vollständigem Aufbau des Verstehensprozesses
abgeschlossen. Ein Zurückfallen einzelner Schülerinnen und Schüler hinter das
vermeintlich homogene Lerntempo bzw. den Wissensstand einer Klasse wird damit
ausgeschlossen.
Der Lernerfolg zeigt sich für die Kinder offensichtlich im Voranschreiten auf der
Lernleiter. Sie erleben sich so als selbstwirksam Die Sicherung von Kenntnissen wird in
den Milestones durch Evaluationsaufgaben überprüft. Innerhalb weiterer Abstände sind
größere Evaluationsvorgänge vorgesehen. Sie geben Auskunft über die Nachhaltigkeit des
Gelernten und der Anwendbarkeit des Wissens und Verstehens. Die Lehrerinnen und
Lehrer dokumentieren den Kenntnisstand und die Lernentwicklung der Kinder. Aus diesen
Aufzeichnungen sind Dynamiken, Sprünge oder Verlangsamungen von Entwicklungen
ablesbar. Zudem können sich die Schülerinnen und Schüler durch die selbst geführte
Dokumentation in ihrem Fortschritt reflektierend wahrnehmen. Auch die Eltern erhalten so
aus beiden Perspektiven ein realistisches Bild über die Entwicklung ihres Kindes.
Verschiedenartige, wechselnde Gruppenbildungen reichern die Lernvarianten der
MGML-Methodology an. In den Satellite-Schools werden vier zusammenwirkende
Gruppierungen gebildet:
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• von Lehrerinnen und Lehrern geleitete Gruppe, vor allem bei Einführungen in
Themen
• teilweise lehrergeleitet, auch Übungsbegleitung
• durch altersübergreifendes Helfersystem in der Gruppe geleitet, auf einen
gemeinsame Aktivitätscharakter hin orientiert
• völlig selbstständig arbeitend, nur das Material und das Kind leiten den Prozess
Hinzu kommt eine Vorschulgruppe, die individuell angeleitet wird. Alle Gruppen sind
altersübergreifend konzipiert. Die Gruppenzusammensetzung wechselt mit den
Aktivitätscharakteren, die über die Symbole der Materialien signalisiert werden. In den
Gruppierungen ergeben sich durch die Alters- und Kompetenzunterschiede Helfersysteme,
die die beschriebene Form der fachspezifischen Arbeitsphasen zusätzlich stärken. Das
grundsätzliche Zeitmaß für die Methode ist die individuelle Lernzeit, die jedes Kind benötigt.
Die Güte einer Schule, die nach der MGML-Methodology arbeitet, besteht darin, dass
Lernen nicht im Gleichschritt, sondern im Ungleichschritt stattfinden kann.
Die Lernleitern bilden einen Jahresrahmen ab, der je nach Kind und
Lerngeschwindigkeit ganz unterschiedlich durchschritten wird, womit Schülerinnen und
Schüler die ‚Klasse‘ fachweise wechseln – zu genau jenem Zeitpunkt, an dem sie den
Lernstoff der jeweiligen Klasse erfüllt haben. Der Klassenwechsel erfolgt also demnach
nicht pauschal und in allen Fächern gleich und auch nicht gebunden an das Kalenderjahr.
Die Tages- und Wochenstrukturen finden in rhythmisierten Lernzeiten in Fachblöcken von
je zwei Stunden statt.
3. Güteanforderungen an die Lernmaterialien
Wie müssen Lernmaterialien aussehen, die Kinder dazu veranlassen, sich mit ihnen zu
auseinanderzusetzen und mit ihnen lernen zu wollen? Die Antwort darauf folgt zunächst der
Überzeugung, dass Lernen immer eigenverantwortlich stattfindet und deshalb von der
lernenden Person abhängig ist. Lernen ist ein Prozess, in dem der Lerner aktiv wird, sich
mit einem Phänomen auseinandersetzt, Fragen stellen und Antworten suchen lernt. „The
Child is in the Driver’s Seat“, so die Erfinder der MGML-Methodology, soll umfassende
Gültigkeit für die schulischen Lerngelegenheiten haben. D.h. es sollen Lernanlässe
bereitgestellt werden, die die Kinder so ansprechen, dass sie sich eigenständig und aktiv
damit auseinandersetzen. Gleichzeitig werden sie aus einem holistischen Grundverständnis
heraus bereitgestellt, sodass die Verwobenheit einzelner Themen- und Arbeitsfelder mit
anderen aufscheint und von den Schülerinnen und Schülern immer wieder erspürt werden
kann. Lernen soll – auch im schulischen Kontext – im Lebensfluss des Kindes einen
bedeutsamen Platz haben dürfen. Der schulische Lernprozess findet idealerweise an
konkreten Materialien statt, die bedeutsame Kriterien im Sinne von Güteanforderungen
erfüllen:
Small. Klein bedeutet hier, dass den Kindern durch die MGML-Methodology Materialien
angeboten werden, die sie in zeitlich überschaubare eigenaktive Prozesse entlassen. Sie
entwickeln dabei das Gefühl, dass sie die Aufgabe im Blick haben und in der Lage sind, sie
in einem akzeptablen Zeitraum lösen zu können. Für Grundschulkinder in den ersten
Jahren sind Lernphasen über fünf Minuten ideal. Dann sollte die Aufgabe gelöst sein und
das Kind zur nächsten übergehen können. Mit zunehmendem Alter werden die Kinder an
komplexere Herausforderungen herangeführt, die einen langfristigeren Zeitrahmen
umfassen, dennoch aber den Eindruck des Kleinen nicht missen lassen. Die Kinder sollen
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immer das Gefühl haben, dass sie gefordert sind und dabei aber auch spüren, dass die
Aufgabe ihrem Entwicklungsstand und ihrer Größe angemessen klein ist.
Manageable. Kleine Aufgaben sind in der Regel auch Aufgaben, die machbar sind. Für
das Charakteristikum des Machbaren spielen allerdings weitere Aspekte eine Rolle. Hier
geht es zum einen darum, dass die Kinder an Aufgaben arbeiten, die sie – je nach Vorgabe
– allein oder mit einem Partner oder der Lehrkraft lösen können. Daher ist die
Aufgabenstellung so zu formulieren, dass den Schülerinnen und Schülern klar ist, was sie
tun müssen, ohne sie mit komplexen Aufgabenstellungen zu überfordern. Durch die vielen
kleinen bewältigbaren Aufgaben kann sich in den Kindern das Gefühl festigen, das Leben
in kleinen überschaubaren Einheiten, Schritt für Schritt bewältigen zu können. „So wie sie –
ganz nach Montessoris Wahlspruch – in die Lage versetzt werden, viele kleine Dinge
täglich, Tag für Tag und über Jahre hinweg selbst zu tun, so werden sie sich selbst auch in
die Lage versetzt fühlen, ihr Leben selbst in der Hand zu haben und zu gestalten. Das
Leben ist machbar, ist lebbar, ist voller positiver Erfolgserlebnisse“ (Girg / Lichtinger / Müller
2012, 46).
Joyful. Geradezu radikal wirkt auch die Forderung, dass das Lernen freudvoll sein soll.
Dies widerspricht zunächst dem über die Jahrhunderte hinweg in Europa tradierten
Paradigma, dass Lernen Anstrengung bedeutet, mühsam ist und deshalb kaum Freude
machen kann oder darf. Besonders seit den Veröffentlichungen aus den
Neurowissenschaften ist hinreichend bekannt, dass im Hippocampus das
Kontextgedächtnis angesiedelt ist, der Ort, an dem der Lerner sich z.B. das Aussehen einer
Aufgabe merkt. Gleichzeitig steuert die Amygdala zu diesem Vorgang eine emotionale
Bewertung bei – unabhängig davon, ob er das will oder nicht (Kaltwasser 2010, 30). Lernt
also ein Kind mit Freude, so entwickelt es dabei eine positive emotionale Erinnerung mit,
die sich sowohl positiv auf das Wissen zum Inhalt als auch auf die Lerngelegenheit und den
Lernvorgang als solchen auswirken kann. Einfach gesagt: Lernt ein Kind gerne, so ist die
Wahrscheinlichkeit, dass es wieder lernen will, sehr groß und es wird sich gerne an die
nächste Aufgabe machen. Lerngelegenheiten für Kinder sind demnach mit Spielen und
spielerischen Elementen anzureichern und beinhalten Lernanlässe, bei denen auch gelacht
werden darf und soll – was performativ positiv auf den ganzen Menschen wirkt. Eine Schule
der Freude wird auch zu einem Ort der Freude, an dem Kinder und Lehrende gerne sind,
gerne arbeiten und lernen.
Meaningful. Steht die Lernaktivität im unmittelbaren Lebenszusammenhang des Kindes
oder Jugendlichen, kann sie zur Sinnstiftung beitragen und gleichzeitig dem eigenen Leben
Sinn verleihen. Idealerweise kommen die Lerninhalte deshalb aus dem direkten Umfeld des
Kindes und orientieren sich an seinen individuellen Interessen sowie regionalen und
kulturellen Kontexten. Je stärker die Kinder im Lernen den Eindruck gewinnen, dass sie
darüber befähigt werden, ihr Leben selbst zu gestalten bzw. ihnen die Erfahrung gewährt
wird, dass sie im schulischen Lernen ihr Leben gerade selbst gestalten, desto intensiver
werden sie im Prozess bleiben und von einer Lernerfahrung zur nächsten gehen.
Die Aufgaben haben deshalb mit dem Lebensumfeld des Kindes zu tun, die
Geschichten, an denen es lernt, stammen aus der Region und sind tief in der sozialen
Gruppe verwurzelt. Damit werden die Kinder zum einen Träger der eigenen regionalen
Kultur, sie überliefern die Traditionen weiter und spüren dadurch die kollektive Identität der
Gemeinschaft, zu der sie gehören. Zum anderen erkennen sie die unmittelbare
Bedeutsamkeit des schulischen Lernens für ihr Leben auch außerhalb der Schule, wenn sie
an regionalen Fragen arbeiten und so einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten lernen.
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Über den sinnstiftenden Charakter der Lernaufgaben wird Kindern und Eltern die
Bedeutung von Schule bewusst, gleichzeitig legitimiert sich die Schule über die reichen
Bezüge zum Leben in der Gesellschaft.
Das bis heute sehr lebendige Beispiel der MGML-Methodology aus Indien enthält
zahlreiche Anregungen auf verschiedenen Ebenen, um eine gute Schule zu schaffen und
täglich neu mit allen Beteiligten zu gestalten. Dort, wo strukturierende Rahmungen in die
Freiheit führen und Achtsamkeit die Begegnung mit Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen leitet, verändern sich Lernatmosphären und Lernen, wird Schule gut.
Literatur
Boller, S./Rosowski, E./Stroot, Th. (2007): Heterogenität in Schule und Unterricht.
Weinheim.
Girg, R./Lichtinger, U./Müller, T. (2012): Lernen mit Lernleitern. Unterrichten mit der
MultiGradeMultiLevel-Methodology. Immenhausen bei Kassel
Hof, Ch. (2009): Lebenslanges Lernen. Stuttgart.
Kaltwasser V. (2010): Persönlichkeit und Präsenz. Über die Achtsamkeit im Lehrerberuf.
Weinheim, Basel.
Krishnamurti, J. (1974, 2006): On Education. Chennai.
Krishnamurti, J./McCoy, R. (2006). The whole movement of life is learning: J.
Krishnamurti’s letters to his schools. Chennai.
Müller, T./Lichtinger U./Girg, R. (2015): The MultiGradeMultiLevel-Methodology and its
Global Significance. Ladders of Learning - Scientific Horizons - Teacher Education.
Immenhausen near Kassel.
Rishi Valley Education Centre (2003): A Multigrade Trainer’s Resource Pack. Background
Document I. Rishi Valley.
Rishi Valley Education Centre (2003): A Multigrade Trainer’s Resource Pack. Background
Document II. Rishi Valley.
Unesco (2005): Guidelines for Inclusion: Ensuring Access to Education for All.
Dr. phil. Thomas Müller
Dozent am Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen der
Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte sind Vertrauen und
soziale Benachteiligung als Themen der Heil- und Sonderpädagogik
sowie Unterricht und Erziehung bei Verhaltensstörungen.
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