Schwieriger Weg zu günstigen Wohnungen BT

M o n t a g , 8. Fe b r u a r 2 0 1 6
BT-STAMMTISCH
B T- STA M M T I S C H (2/2)
Für mehr «bezahlbare» Wohnungen sind alle zu haben, nur der Weg dorthin ist nicht so einfach. Ob Initiative,
Gegenvorschlag oder bestehendes Gesetz, das Churer Stimmvolk stellt im gemeinnützigen Wohnungsbau die Weichen.
▸ ▸N O R B E RT WA S E R ( T E X T )
YA N I K B Ü R K L I ( F O T O S )
D
Bestehendes Gesetz anwenden
Aus Sicht von FDP-Gemeinderat
Dominik Infanger braucht es gar
kein neues Gesetz, weil es seit 1994
das vom Volk angenommene Gesetz
über den sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau gibt. Dieses ermögliche die Verbilligung von Wohnungen genau für Familien und Personen, die sich aus finanziellen
Gründen eine Wohnung nicht leisBT-Stammtisch
ten könnten. In den letzten 20 Jahren, in denen die Sozialen Dienste
der Stadt in Sozialdemokratischer
Hand sind, sei vom Stadtrat aber
noch nie eine Vorlage in diese Richtung in den Gemeinderat gekommen. Infanger stört sich auch daran,
dass in der Initiative einerseits
günstige Wohnungen gefordert
würden, diese aber auch noch von
hochwertiger, also überdurchschnittlicher Qualität sein sollen.
Besonders störend sei, dass dies
auch für Gewerberäume gelten soll,
was zwangsläufig zu einer Wettbewerbsverzerrung führe.
Lukas Horrer stellt fest, dass die
Mieten in den letzten Jahren gestiegen sind, der Referenzzinssatz aber
gesunken ist. Diese Differenz lande
in den Taschen der Immobilienwirtschaft, weil kaum Mietpreissenkungen erfolgt seien.
Streitpunkt Kostenmiete
Für hitzige Diskussionen sorgte am
Stammtisch der Begriff Kostenmiete. CVP-Gemeinderat Romano Cahannes stört sich daran, dass der
Anschein erweckt wird, dass alle
Genossenschaftswohnungen nach
Kostenmiete abgegeben würden.
Das stimme überhaupt nicht. Das
sieht auch BDP-Gemeinderat Oliver
Hohl so. Wenn man von den in der
Statistik aufgeführten 1500 Genos-
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WORTWÖRTLICH
Schwieriger Weg zu günstigen Wohnungen
Die aus Sicht des Nein-Lagers fehlende gesicherte Datenbasis hat am
BT-Stammtisch zur Initiative «Für
mehr bezahlbaren Wohnraum»,
über die in Chur am 28. Februar abgestimmt wird, viel zu reden gegeben. Dominik Infanger weist darauf
hin, dass beispielsweise Wohnungen der Evangelischen Kirchgemeinde oder vom Hof, aber auch
günstige Wohnungen privater Anbieter in den Statistiken gar nicht
berücksichtigt worden seien. Dem
hält Brigitta Bhend-Küng entgegen,
dass sie schon laufend Telefonanrufe von älteren Leuten bekomme, die
sich nach Wohnungen erkundigten,
obwohl die Genossenschaft Bainviver noch gar keine anbieten könne.
Es bestehe also offensichtlich ein
Mangel an solchen Wohnungen,
Statistik hin oder her. Lukas Horrer,
als Präsident des Mieterverbandes
nahe am Markt, verweist auf die
Aussage von Architekturprofessor
Daniel Walser, der von einem Bestand von acht bis neun Prozent gemeinnütziger Wohnungen ausgeht.
B ü n d n e r Ta g b l a tt
«Wenn Genossenschafter Anteilscheine zeichnen,
mieten sie nicht einfach eine Wohnung, sondern
sind Teil eines Projekts.» BRIGITTA BHEND-KÜNG
«In 20 Jahren SP-Sozialpolitik kam noch nie eine
Vorlage des Stadtrates zur Abgabe günstiger Baurechte in den Gemeinderat.» DOMINIK INFANGER
«Die aufgrund ihres Portemonnaies schwächeren
Marktteilnehmer müssen unterstützt werden.»
GUIDO DECURTINS
«Es wird mit unbestimmten Begriffen wie zahlbar,
hochwertig, Kostenmiete und gemeinnützig
operiert.»
ROMANO CAHANNES
«In Chur West gehört ein Drittel des Bodens der
Stadt, mit der Initiative muss sie dieses an gemeinLUKAS HORRER
nützige Bauträger abgeben.»
«Der Begriff Kostenmiete ist weder für Private
noch für Genossenschaften ein geeignetes
Instrument.»
LUZI WILLI
«Wegen fehlender Wohnungen mit attraktiven
Wohnformen verlassen viele junge Familien die
BRIGITTA BHEND-KÜNG
Stadt.»
«Wohnungen sollen preisgünstig, aber zugleich
qualitativ hochstehend sein, das beisst sich.»
DOMINIK INFANGER
Engagierte Diskussion am BT-STammtisch im Café «Gwerder» in der neuen Genossenschaftsüberbauung Fortuna:
Für Dominik Infanger (r.) braucht es weder die Initiative noch den Gegenvorschlag.
senschaftswohnungen jene nach
seiner Ansicht mindestens 500
Wohnungen herausnehme, die
nachweislich nicht nach Kostenmiete abgegeben würden, darunter
auch solche der Wohnbaugenossenschaft der Stadt Chur, so sei man
vielleicht noch bei zwei bis drei Prozent. Deshalb wolle der Gegenvorschlag bewusst keine feste Quote
von zwölf Prozent. Hohl verweist
auf eine Aussage von Stadtpräsident Urs Marti, der im Gemeinderat
sagte, das könne dazu führen, dass
in den nächsten 20 Jahren 70 Prozent der Neubauwohnungen nach
dem Prinzip der Kostenmiete erstellt werden müssten, also dem
Markt entzogen würden. Das hätte
zur Folge, dass weniger investiert
und damit weniger gebaut würde
und die erstellten Wohnungen aufgrund der steigenden Nachfrage sogar teurer werden würden. Dieser
Effekt sei beispielsweise in Genf
eingetreten. Hohl zweifelt auch daran, dass nach dem Prinzip der Kostenmiete Investoren in der Hochhauszone in Chur West gefunden
würden. Das wirkliche Potenzial für
den genossenschaftlichen Wohnungsbau sei dort gering. Er sehe
keine Genossenschaft, die Hunderte von Wohnungen erstellen könne,
diese aber in Kostenmiete abgebe.
Er befürchtet, dass dann auswärtige
Genossenschaften, beispielsweise
aus Zürich, nach Chur kommen.
Lukas Horrer bezeichnet diese
Sichtweise als provinziell und verteidigt den Begriff der Kostenmiete.
Zürich und Davos seien zwei Städte,
die Kostenmiete hätten. Es wäre
doch gelacht, wenn das in Chur
nicht möglich wäre. Die Erfahrung
«Es geht doch
nicht um rot oder
schwarz, sondern
um ein Problem»
P A B L O H O R VÁT H
habe gezeigt, dass zum Beispiel in
Zürich Genossenschaften jährlich
Millionen in Sanierungen und Neubauten investierten. Er verweist darauf, dass in der Initiative der offene
Rechtsbegriff «zahlbar» vorkomme,
bei der Präzisierung aber auf die Gemeinnützigkeit abgestellt werde,
weil dies ordnungspolitisch der effektivste und korrekteste Hebel sei.
Es sei auch nicht so, dass Private da-
von ausgeschlossen seien. Auch solche Wohnungen würden zum Gesamtbestand an gemeinnützigen
Wohnungen zählen, wenn sie das
Prinzip der Kostenmiete befolgten.
Zahlbar und hochwertig
Ein weiterer umstrittener Punkt ist
die sowohl in der Initiative als auch
im Gegenvorschlag vorkommende
Kombination von «zahlbarem» und
«qualitativ hochwertigem» Wohnraum. Als Architekt kennt Pablo
Horváth die Ausbaustandards aus
nächster Nähe. Es bestünden heute
allgemein überschwängliche Ansprüche, die auch grosse Kostentreiber seien. Nebenbei bemerkt
seien beim Bauen nicht selten auch
Einsprachen von Nachbarn ein Kostenfaktor. Als nicht in der Politik aktiver Churer stört sich Horváth daran, dass man den Wunsch nach
«Bei dieser
Initiative geht es
um nichts anderes
als Klassenkampf»
ROMANO CAHANNES
mehr bezahlbaren Wohnungen als
ein Element des politischen Klassenkampfes betrachtet. Die zu hohen Mieten seien eine Tatsache, und
der Mann und die Frau von der
Strasse erwarteten, dass man dagegen etwas unternehme. Da interessiere doch niemanden, aus welcher politischen Ecke diese Initiative komme. Wichtig sei, dass man
nach Lösungen suche.
Romano Cahannes verweist in
diesem Zusammenhang darauf,
dass der mehrheitlich bürgerliche
Gemeinderat bei der Überbauung
auf dem Areal der alten KEB zwei
von sechs, mithin ein Drittel, der
Häuser für kostengünstigen Wohnraum zur Verfügung gestellt habe.
Steuerzahler und Mittelstand
Ein Argument der Initianten ist der
Einsatz für den Mittelstand. Unter
der jetzigen Situation leide nämlich
auch die Stadt, indem sie wertvolle
Steuerzahler an umliegende Gemeinden verliere und dadurch auch
die Zersiedlung zunehme, argumentiert Lukas Horrer. Dem widerspricht Dominik Infanger und führt
an, dass die Hälfte der Churerinnen
und Churer keine direkte Bundessteuer bezahlen müssten und ein
Viertel der Bevölkerung in Chur gar
keine Steuern ablieferten.
Auch Romano Cahannes stört
sich daran, dass die Initianten einerseits davon sprechen, dass gute
Steuerzahler wegziehen würden,
andererseits aber von kostengünstigen Wohnungen, die sich die Leute noch leisten könnten. Wenn man
der Argumentation folge, gehe es
doch eigentlich um sozialen Wohnungsbau, der staatlich gefördert
werden soll. Da stelle sich zum Beispiel die Frage, ob die der Stadt gehörende Wohnbaugenossenschaft
WSC künftig kein Geld mehr aus
Mieteinnahmen an die Stadtkasse
abliefern dürfe, wenn die Initiative
angenommen würde. Guido Decurtins widerspricht und führt an, dass
das Kapital bei der Anwendung der
Kostenmiete angemessen verzinst
werden dürfe. Er könne nicht verstehen, weshalb die WSC nicht wenigstens einen Teil der Wohnungen
in Kostenmiete abgeben könne.
Luzi Willi warnt vor falschen Erwartungen an das von der Initiative
geforderte Prinzip der Kostenmiete.
Die Kostenmiete werde pro Objekt
berechnet, eine Quersubvention
von älteren Objekten für Neubauten
oder zu sanierende Objekte sei nicht
vorgesehen. Wenn keine Rendite erzielt werden dürfe, könne auch
nicht mehr investiert werden. Deshalb zweifelt er auch daran, dass in
Chur West nach Annahme der Initiative wirklich «bezahlbare» Wohnungen nach dem Prinzip der Kostenmiete entstehen. Es gebe auch in
Chur private Wohnungsvermieter,
die günstige und damit auch zahlbare Wohnungen anbieten würden.
«Der grösste Pferdefuss dieser Initiative ist die
Quote von zwölf Prozent.» ROMANO CAHANNES
«Genossenschaftlicher, gemeinnütziger Wohnungsbau bringt dank der Kostenmiete 15 bis 20
Prozent günstigere Wohnungen.» LUKAS HORRER
«Es braucht die Verbindlichkeit eines klar definierten
Ziels gemeinnütziger Wohnungen»: Lukas Horrer.
Wenn jemand dank dieser Wohnform nur ein Jahr
später in ein Pflegeheim eintritt, könnte die Stadt
BRIGITTA BHEND-KÜNG
viel Geld sparen.»
«Wenn immer mehr Geld für Mieten ausgegeben
werden muss, spürt das auch das Gewerbe, weil
weniger für den Konsum bleibt.» LUKAS HORRER
«Ich möchte klar festhalten, dass es hier nicht um
sozialen Wohnungsbau geht.» GUIDO DECURTINS
«Diese Initiative ist ein politisches Instrument, das
in anderen Städten Erfolg hatte und nun nach dem
SP-Programm der Umverteilung auch in Chur
umgesetzt werden soll.»
DOMINIK INFANGER
Die Stammtischteilnehmenden
Für die Initiative «Für mehr bezahlbaren Wohnraum» argumentierten
Brigitta Bhend-Küng, Präsidentin
Genossenschaft Bainviver, Lukas
Horrer, Präsident Mieterverband
Graubünden, SP-Gemeinderat
Guido Decurtins und Architekt
Pablo Horváth. Für den Gegenvorschlag traten die Gemeinderäte
Oliver Hohl (BDP) und Romano
Cahannes (CVP) ein und für ein
doppeltes Nein plädieren Dominik
Infanger, Gemeinderat FDP, und
Unternehmer Luzi Willi. Die Gesprächsleitung im Café «Gwerder»
in der Genossenschaftsüberbauung
Fortuna hatte Norbert Waser,
stv. BT-Chefredaktor. (NW)
«Es gibt auch günstige Wohnungen, die nicht in
Kostenmiete abgegeben werden»: Oliver Hohl.
«Das Bauchgefühl ist in dieser Sache nicht so
schlecht, das haben die Reaktionen beim Unterschriftensammeln gezeigt.» GUIDO DECURTINS
«Die Formulierung ‘Verzicht auf Gewinnstreben’
wäre viel näher am Ziel als der Begriff ‘Kostenmiete’.»
OLIVER HOHL
«Zahlbar bedeutet für mich immer im Verhältnis
BRIGITTA BHEND-KÜNG
zum Einkommen.»
«Der Zeitpunkt kommt, an dem die Lebensdauer
alter Gebäude erreicht ist, dann kann man aber
nur dann etwas Neues bauen, wenn das Geld dafür
LUZI WILLI
auch vorhanden ist.»