Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Pfarrerin Angelika Behnke, Projektstelle „Erwachsen glauben“ in der EKBO und beim Johanniterorden (Brandenburgische Provinzial-Genossenschaft) 13. Sonntag nach Trinitatis, 30. August 2015, 18 Uhr Predigt über Markus 3,31-35 Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen Liebe Gemeinde, Familie! „Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da. Der verfrühte Optimismus rächte sich, und die Sehnsucht des Menschengeschlechtes nach dem Paradiese ist hauptsächlich als der glühende Wunsch aufzufassen, einmal, nur ein einziges Mal friedlich ohne Familie dahinleben zu dürfen. Was ist die Familie? Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie ›Verwandtschaft‹ (siehe im Wörterbuch unter M). Die Familie erscheint meist zu scheußlichen Klumpen geballt und würde bei Aufständen dauernd Gefahr laufen, erschossen zu werden, weil sie grundsätzlich nicht auseinandergeht. Die Familie ist sich in der Regel heftig zum Ekel. Die Familienzugehörigkeit befördert einen Krankheitskeim […]: alle Mitglieder der Innung nehmen dauernd übel. Jene Tante, die auf dem berühmten Sofa saß, ist eine Geschichtsfälschung: denn erstens sitzt eine Tante niemals allein, und zweitens nimmt sie immer übel – nicht nur auf dem Sofa: im Sitzen, im Stehen, im Liegen und auf der Untergrundbahn. Die Familie weiß voneinander alles: wann Karlchen die Masern gehabt hat, wie Inge mit ihrem Schneider zufrieden ist, […] und dass Jenny nach der letzten Auseinandersetzung nun endgültig mit ihrem Mann zusammenbleiben wird. Derartige Nachrichten pflanzen sich vormittags zwischen elf und eins durch das wehrlose Telefon fort. Die Familie weiß alles, missbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüßen oder rauchen eine Friedenszigarre: die Familie kann gleichzeitig beides. […]“ Liebe Gemeinde, ich kürze hier Kurt Tucholskys Gedanken zur „Gemeinen Hausfamilie“ ab – bevor es schwarzhumorig wird. Ich glaube, mehr ist auch gar nicht nötig, um das nur Allzuvertraute wiederzuerkennen, den ganz normalen Wahnsinn „Familie“. Eventuelle Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind ganz und gar nicht zufällig! Hören Sie Worte aus dem Markus-Evangelium, aufgeschrieben im 3. Kapitel: Es kamen Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. 1 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Liebe Gemeinde, das kommt in den besten Familien vor. Tja, nach diesem Bibelwort können wir sogar sagen: Das kommt in der Heiligsten Familie vor! Erinnern Sie sich noch: Der Knabe in lockigem Haar? Damals - und an seiner Strohwiege das hochheilige Paar? Alles, was in ihrer Macht stand, haben Josef und Maria für den Jungen getan, ihren Erstgeborenen. Und nun? - Erwachsen ist er geworden, der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth. Gottes Ruf ist er gefolgt. Seinen eigenen Weg hat er beschritten. Er musste es tun! Und das gibt Krach bei Familie von Nazareth! Maria hat sich das bestimmt ganz anders vorgestellt mit Jesus. Als Ältester in einer Geschwisterschar hat ein junger Mann besondere Verantwortung für das Wohlergehen der Familie. Von Josef erzählt das Markusevangelium hier nichts – vielleicht war er zu dem Zeitpunkt dieser Begebenheit schon verstorben. Umso mehr wird Jesus zuhause gebraucht. Als Ernährer, als Beschützer, Schlichter und Fürsprecher. Doch was tut er? Er bricht alle Brücken zu denen, die ihn lieben und brauchen, radikal ab. So scheint es jedenfalls beim ersten Hinhören. Freilich, dass er anders war als andere Kinder, das merkte seine Familie schon früh. Doch seit dem unglaublichen Wort des Engels vor Marias Schwangerschaft und dem Ausreißen des zwölfjährigen Jungen in Jerusalem war so viel Zeit vergangen, dass diese Begebenheiten längst im familiären Erinnerungsalbum abgelegt waren. Als Jesus ernst macht und seine Herkunftsfamilie verlässt, erklären ihn seine Mutter und seine Geschwister für verrückt. „Er ist von Sinnen“, hörte man sie rufen, als sie vergeblich versuchten, ihn wieder nach Hause zu holen. (Mk 3,20f) Hat Tucholsky Recht? Nimmt die Familie dauernd übel? Steckt sie ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen? – Vielleicht ist es in vielen Familien ja so: Die Sorge um Kinder oder Geschwister treibt Angehörige dazu, sie von riskanten Vorhaben abhalten zu wollen. Maria weiß noch nicht genau, wohin das mit Jesus führen wird. Aber die mütterliche Liebe zu ihrem Sohn lässt sie ahnen, dass der Weg, den er geht, gefährlich ist. Sie erlebt, wie Jesus sich mit den jüdischen Autoritäten anlegt, dass er - Gott weiß woher - heilende Kräfte besitzt, die Misstrauen und Neid hervorrufen und den religiösen Instanzen ein Dorn im Auge sind. Das geht nicht gut!!! Ich kann mir vorstellen, sie steht deshalb mit Jesu Geschwistern draußen vor dem Haus, und sie lassen nach ihm fragen. Eine Zeitschrift titelte kürzlich: „Lasst die Kinder los!“ (Magazin „Stern“) – Ein Appell, Kindern Regeln und Grenzen für ihr Leben mitzugeben und ihnen zugleich zu gewähren, in größtmöglicher Freiheit eigene Erfahrungen machen zu können. Tja, das sagt sich so leicht. Fragen wir mal die Eltern, die in diesen Tagen ihre fünf-, sechs-, siebenjährigen Kinder auf den ersten Schulweg schicken. Wo wir Erwachsenen doch immer mehr sehen als die Kleinen - und vorausschauend planen. Wo wir doch lebenserfahrener sind und Verantwortung tragen. Und – wir lieben! Das Geliebte soll bewahrt wer-den. Bisweilen zeigt sich diese Liebe unbeholfen-hilflos. Ich erinnere mich an eine Mutter, deren Kind an einer Ferienfahrt teilnahm. Zu uns als Betreuerinnen dieser Fahrt sagte die Mutter beim Elternabend: „Wundern Sie sich nicht: Meine Tochter spinnt!“ Wir waren irritiert, wie eine Mutter so über ihre Tochter reden konnte. Was löst das auch aus bei dem Dreizehnjährigen Mädchen!? Was ging dem schon voraus? – Das Mädchen verhielt sich auf der Reise sehr auffällig und wir mussten eine Ärztin rufen. Unser Betreuerteam war überfordert. Heute denke ich, aus der Ankündigung der Mutter sprachen eben diese Überforderung und der tiefe Wunsch nach Schutz für das Mädchen. Die Worte: „Jesus ist von Sinnen“ lese ich auf diesem Hintergrund ganz neu. Ich will nicht entschuldigen - ich möchte verstehen. Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 2 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Geistliche Familie drinnen, leibliche Familie im wahrsten Sinne „außen vor“ - Maßstäbe von „drinnen“ und „draußen“ werden außer Kraft gesetzt. Jesus muss das tun. Er muss diese radikale Trennung vornehmen, um den Bruch mit den alten Ordnungen sichtbar werden zu lassen. Es ist hartes Brot zu begreifen, dass Gott, um seine neue Herrschaft aufzurichten, zuerst alles auf Null setzt. Ein Sohn, brav und fromm, zu Hause in Nazareth als Handwerker tätig, hätte keine Zeitenwende eingeleitet. Deshalb reagiert Jesus so schroff. Wie könnte man im Bisherigen einfach so weitermachen wollen, wenn das radikal Neue anbricht? Das Abweisen seiner leiblichen Verwandten ist nicht das letzte Wort, das Jesus zu den Seinen spricht. Er ordnet die Familienverhältnisse neu, setzt alles auf Null: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Dies ist das Kriterium, um zur Familia Dei, zur Gottesfamilie zu gehören. Aber diese bunte Schar, die ihn da umgibt – sie tut doch gar nichts. Die Menschen hören doch bloß zu. Übersehen wir hier etwas? Es ist nicht einfach bloß ein Zuhören, das diese Menschen zur Familie zusammenschweißt. Sie sind herzugekommen, sie sind da, unmittelbar. Sie erhoffen etwas von Jesus. In diesem Da-Sein und Hoffen tun sie etwas: Sie bilden eine Gemeinschaft. Jesu Worte weisen sie aneinander: Gottes Willen tun ist auf lange Sicht keine Sache für Einzelkämpfer. Es braucht die Macht der Vielen, das vertrauensvolle Miteinander, es braucht die verschiedenen Begabungen, so wie sie in einer Familie geschenkt sind. Das Tun beginnt mit dem Hören des Wortes; es führt über Gehorsam zum Gehören. So hat es Jesus vorgelebt. Gottes Willen begegnet dabei nicht als fremde Forderung, sondern als etwas, das aus tiefster Sehnsucht ins Leben drängt. Das lässt Jesus in Todesnot die - unbeschreiblich starken Worte beten: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe, Vater!“ Gott hat seinen Geschöpfen die Sehnsucht nach seinem Reich in Herz und Sinn geschrieben - aus Liebe und Sorge um seine Kinder, auf dass keines verloren werde. (vgl. Jer 31,31.33; Mt 18,14; 2. Petr 3,9) Er sprach zu Jesus bei der Taufe: „Du bist mein lieber Sohn!“ (Mk1,11). Damit stellt Gott ihn in unsere Mitte und uns zur Seite: Jesus – großer Bruder, einer von uns, und eben darin: unser Herr. Hören – Gehorsam üben – Gehören. Sein Wort setzt in Bewegung. Sein Wort scheidet die Geister: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen! (Apg 5,29) Sein Wort verbindet in dem einen Heiligen Geist, der versöhnt und Gemeinschaft stiftet, der Menschen dazugehören lässt zur Gottesfamilie, sie zu „Gnadenkindern“ macht. (vgl. Predigtlied EG 251,2) Ist etwas davon in jenem Hause geschehen, in dem Jesus sich aufhielt? Beredtes Schweigen des Evangelisten! Es wird sich schon etwas zugetragen haben… Doch lag Markus in diesem Fall mehr daran zu zeigen: Jesus ist für alle Menschen da. Er verlässt alte Ordnungen und überschreitet Grenzen – um unsertwillen. Und es ist schon viel von dem Willen Gottes getan, wenn man sich von Jesus einladen lässt und seine Nähe ernstlich sucht. Und unsere leiblichen Familien? Kriegsfuß und Friedenszigarre zugleich, wie Tucholsky spottet? Wer sich zur Gottesfamilie zählt, wird aus dieser Perspektive gleichermaßen liebevoll und verantwortungsbewusst auch auf die leibliche Familie schauen. Wird sich mühen um Frieden im eigenen Haus, wird Scheitern eingestehen und neue Anfänge wagen. Ich kann nicht ausschließen, dass 3 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin manchmal auch nur noch ein Bruch mit der Familie eine Zukunft ermöglicht. Ich hörte in diesen Tagen von Muslimen, die sich heimlich taufen ließen. Für sie gibt es kein Zurück in ihre Herkunftsfamilien, sollten die Angehörigen je von der Taufe erfahren. Nein, diese Dinge sind nicht weit weg von uns! Sie geschehen mitten unter uns, jeden Tag. Besonders an solchen entscheidenden Weggabelungen ist es gut, Zwiesprache mit Gott halten zu können. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.“ Erkenne, wie ich es mit meiner leiblichen und geistlichen Familie meine. „Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ (Ps 139,23f) Liebe Schwestern und Brüder, Verwandtschaft kann man sich ja eigentlich nicht aussuchen. Jesus tut es einfach! Und das kommt in der heiligsten Familie vor. Gott sei Dank! AMEN. 4
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