Selbstbestimmtes Sterben. Sterben heute im Spannungsfeld von Palliativmedizin und begleitetem Suizid (Exit) Dr. Heinz Rüegger Gemeindenachmittag für Senioren Baptistengemeinde Zürich 18. August 2015 Sterben ist kulturell geprägt • Sterben ist nicht nur ein biologisches Geschehen, sondern in hohem Mass kulturell bestimmt. • Drei Entwicklungen der Neuzeit: - Langlebigkeit: Sterben rückt ans Ende eines langen Lebens - Medikalisierung des Sterbens: Sterben gerät unter die Zuständigkeit der Medizin - Sterben ist nicht mehr einfach Schicksal, sondern unterliegt zunehmend menschlicher Selbstbestimmung (sowohl im Blick auf Lebensverlängerung als auch im Blick auf Lebensbeendigung) 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 2 Sterben im Zeichen der Langlebigkeit • Früher bestand in jedem Lebensalter das Risiko zu sterben. Am höchsten war das Risiko im Kleinkindesalter oder für Frauen beim Gebären. • CH 1912 8 % aller Todesfälle im Alter von 80+ 2012 61 % aller Todesfälle im Alter von 80+ • Sterben ist zu einem Phänomen der Hochaltrigkeit geworden. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 3 Medikalisierung des Sterbens • Früher starb man zu Hause im Kreis der Familie. Beigezogener externer Fachmann war der Geistliche, nicht der Arzt. • Heute unterliegt Sterben der Zuständigkeit von Medizin (inkl. Pflege) und wird in spezialisierten Institutionen (Krankenhäuser, Pflegeheime) professionell betreut. • CH 2007 Sterbeorte der >75-Jährigen: 34 % Spital 51 % Heime 15 % zu Hause Dabei möchten 80-90 % zu Hause sterben. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 4 • Grundimpuls der Medizin und der Krankenhäuser ist aber, den Tod zu bekämpfen. • Frank Nager: „Im 20. Jh. hat sich die moderne Heiltechnik zu einer gigantischen Veranstaltung gegen Sterben und Tod entwickelt.“ Zur „Todesverdrängung moderner Heiltechniker“: „Von Berufs wegen ist der Tod unser Feind, um nicht zu sagen – unser Todfeind. Vor allem in modernen Spitalzentren, die so inbrünstig auf Heilung von Krankheit und auf Verlängerung des Lebens eingeschworen sind, ist der Tod ein Scandalon. Krankenhäuser wollen nicht Sterbehäuser sein.“ 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 5 • Angst vor - technologischer Verfremdung des Sterbens - Fremdbestimmung beim Sterben durch Profis - Leidensverlängerung - Verunmöglichung eines rechtzeitigen Sterben-Dürfens durch medizinische Interventionen Ruf nach einem «selbstbestimmtem Sterben» Einforderung des «Rechts auf den eigenen Tod» 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 6 Sterben wird dem eigenen Entscheiden zugänglich • Früher war Sterben der Inbegriff der Erfahrung eines fremdverfügten Schicksals. • Heute bestehen zahlreiche medizinische Möglichkeiten, beim Sterbeprozess zu intervenieren und den Tod hinauszuschieben. • Man stirbt heute meist nicht mehr einfach ‚natürlich‘, ‚von selbst‘, sondern erst nachdem entschieden worden ist, jemanden sterben zu lassen (CH: 51 % aller ärztlich begleiteten Todesfälle). 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 7 • Sterben wird immer mehr vom Schicksal zum ‘Machsal’ (O. Marquard). • Über unser Sterben unter den real existierenden Bedingungen unseres modernen Gesundheitswesens bestimmt nicht einfach - die Natur - das Schicksal - der Arzt - der ‘Herr über Leben und Tod’ (Gott) sondern in hohem Masse wir selbst. selbstbestimmtes Sterben wird zum Motto heutigen Sterbens. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 8 Selbstbestimmt kontrolliertes Sterben wird für viele zum Kriterium für ein ‚würdiges‘ Sterben • Autonomie (Selbstbestimmung) ist in westlichen Gesellschaften einer der höchsten Werte, ist für viele geradezu zu einer „Obsession“ geworden (D. Callahan). Der homo faber will alles unter Kontrolle haben. • USA: death control movement • Joseph Fletcher: „Die Kontrolle über den Tod ist, wie die Geburtenkontrolle, eine Frage der menschlichen Würde. Ohne sie werden Personen zu Marionetten.“ 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 9 • Für viele Zeitgenossen besteht die Würde des Sterbens gerade darin, selber bestimmen zu können, wann, wo und wie wir sterben. • Sterben wird zur abschliessenden Planungsaufgabe des Menschen, bei der möglichst nichts dem Zufall überlassen werden soll (Reimer Gronemeyer). • ‚Gut‘ und ‚würdig‘ zu sterben ist für viele zur letzten Pflichtaufgabe geworden (Monika Renz), die sie selbst vor der Gesellschaft zu verantworten haben. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 10 Würdiges Sterben • ‚Würdigen‘ Sterben beinhaltet heute für viele: - keine lange Leidenszeit, möglichst wenig Schmerzen - rasches Sterben ohne Todeskampf - keine lange Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen - Bewahrung geistiger Klarheit (keine Demenz!) - soziale und körperliche Selbstkontrolle bis zuletzt - klinisch sauber. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 11 Ambivalenz: positive Aspekte • Langlebigkeit: Chance, ein langes Leben zu geniessen und «lebenssatt» zu werden • Medikalisierung: Gute Schmerzlinderung im Sterbeprozess (Palliative Care) • Selbstbestimmung: Respekt vor Würde-/AutonomieAnspruch auch beim Sterben ist Ausdruck tiefer Humanität und erweitert den Spielraum unserer Freiheit. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 12 • Theologisch: Gott lässt uns die Freiheit, über die Länge unseres Lebens und über unser Sterben selber (mit-)zubestimmen. • Wir dürfen selber bestimmen, wann wir «lebenssatt» sind. • Wir sind aber auch mehr als früher selber verantwortlich für die Art, wie/wann wir sterben, können die Verantwortung dafür nicht einfach Gott in die Schuhe schieben! 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 13 Ambivalenz: problematische Aspekte • Erwartung, Hochaltrigkeit ohne gesundheitliche Risiken zu erleben • Die Kunst der Lebensverlängerung verdrängte die ars moriendi, die Kunst, sich auf die eigene Sterblichkeit einzulassen. • Meinung, nur selbstbestimmtes, kontrolliertes Sterben sei ‚gut‘ und ‚würdig‘ > heillose Überforderung! Dabei gilt: „Sterben ist weder gut noch schlecht. Sterben ist.“ (Monika Renz) 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 14 • Vorstellung, das Sterben zu erleiden und zu erdulden (pathische Dimension des Lebens) sei unwürdig • Auffassung, wir seien selbst verantwortlich für ein ‚gutes‘, rechtzeitiges Sterben („sozialverträgliches Frühableben“) • Überforderung vieler Sterbender und Angehöriger durch die heute nötig werdenden Entscheidungen rund um das Sterben („Multioptionsdilemma des Sterbens“ [A. Heller]) • Angst, im Sterben auf die Unterstützung anderer angewiesen zu sein und ihnen zur Last zu fallen 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 15 Doppelte Herausforderung: das Sterben gestalten und hinnehmen Erste Herausforderung: Lernen, uns so mit dem Sterben auseinanderzusetzen, dass wir uns im Blick auf anstehende Entscheidungen eine eigene (vorläufige!) Meinung bilden + Verantwortung übernehmen können (= Aspekt des Gestaltens). Zweite Herausforderung: Lernen,dass es Dinge wie das Sterben gibt, die wir nicht selber bis ins Letzte kontrollieren, verantworten und bestimmen müssen, denen wir uns einfach offen und vertrauensvoll stellen können (= Aspekt des Hinnehmens). 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 16 Das Sterben aktiv gestalten • Dass Sterben immer mehr Züge eines (mit) zu bestimmenden Machsals gewinnt, ist anzuerkennen. - Darin liegt eine Freiheit, die es dankbar anzunehmen gilt. - Darin liegt eine Verantwortung, die es wahrzunehmen gilt. • 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 17 • Zu entscheidende medizinische Fragen: - generelle Stossrichtung der Behandlung: . eher Lebensverlängerung solange möglich . oder primär gute Leidenslinderung und rechtzeitiger Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen? - lebensverlängernde Massnahmen bei Demenz? - lebensverlängernde Massnahmen bei Wachkoma? - Reanimation bei Herzkreislaufstillstand? - Lebensverlängerung bei Risiko starker Behinderung? - Wer soll ggf. stellvertretend medizinisch entscheiden? 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 18 • Hilfreich kann sein, im Blick auf die medizinischen Aspekte die Punkte einer Patientenverfügung durchzugehen. > z.B. die 4-seitige Version von FMH+SAMW (www.fmh.ch > Patientenverfügung). • Dazu brauchen wir das Gespräch mit nahestehenden Bezugspersonen, ev. mit medizinischen Fachleuten. Denn es ist nicht einfach, zu wissen, was wir im Blick auf das Sterben wirklich wollen. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 19 Palliative Care • Palliative Care bedeutet - umfassende körperliche, psychische, soziale, spirituelle Betreuung - bei fortschreitender unheilbarer Erkrankung - mit dem Ziel der Linderung belastender Symptome und der Stabilisierung von Lebensqualität (nicht mehr Heilung). - Orientierung am Patientenwillen (> Ermöglichung autonomer Selbstbestimmung) - Haltung: Akzeptanz der menschlichen Sterblichkeit: Medizin soll nicht nur den Tod bekämpfen, sondern möglichst erträgliches Sterben ermöglichen. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 20 Begleiteter Suizid als ultima ratio • Eine Form des sog. selbstbestimmten Sterbens ist der begleitete Suizid (à la EXIT). • Problematik: - viel weniger wichtig als Passive Sterbehilfe (Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen) - Begleiteter Suizid ist nicht die Idealform eines selbstbestimmten, selbstverantworteten, ‘würdigen’ Sterbens! - Alterssuizid sollte als ultima ratio eine Möglichkeit bleiben, aber nicht zu einem gängigen, möglichst leicht zugänglichen Angebot des Sterbens im Alter werden! - möglicher Druck zu «sozialverträglichem Frühableben» 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 21 Das Sterben als Widerfahrnis hinnehmen • Es gehört zum vollen Menschsein, auch offen zu sein für die passiven/pathischen Seiten des Lebens. • Auch im hinnehmenden Umgang mit diesen Aspekten kann Selbstbestimmung und Selbstverantwortung wahrgenommen werden. • Sozial, psychisch und spirituell gehört es zu menschlicher Reife, sich aus der eigenen Hand geben und anderen Händen anvertrauen zu können. • 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 22 Beide Aspekte – das aktive Gestalten und das passive Hinnehmen – gehören zu einem humanen, selbst bestimmten und verantworteten Sterben. • Es muss alles Mögliche getan werden, damit Menschen in der Spannung von Gestaltung und Hinnahme ihr eigenes Sterben als zentrales existenzielles Widerfahrnis aushalten und durchleben können, - ohne unerwünschte Lebensverlängerung - und wenn immer möglich ohne den letzten Ausweg eines Suizids nehmen zu müssen. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 23 • Es kann durchaus Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung und Reifung sein, wenn jemand sein eigenes Sterben, auch wenn es mühsam ist, erträgt. Monika Renz spricht von der „Würde des Aushaltens“. Auch darin können Menschen die Erfahrung ihres ‚eigenen Todes‘ machen. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 24 Auf der Suche nach einer tragfähigen Sterbekultur • Es gibt keine gesamtgesellschaftlich tragfähige Kultur im Umgang mit Sterben und Tod mehr. Dadurch besteht eine grosse Unsicherheit im Umgang mit Sterben und Tod. Schritte hin zu einer neuen, menschenwürdigen Sterbekultur sind darum wichtig. • Dabei geht es um den engen Zusammenhang zwischen dem Sich-Anfreunden mit der eigenen Sterblichkeit und einer Lebenskunst. Denn „wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben“ (Manfred Lütz). 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 25 • Der 90. Psalm bittet Gott: „Lehre uns unsere Tage (so) zu zählen, dass wir ein weises Herz gewinnen“ (V. 12). • Prinzip des „memento mori“ (Todesgedenken) → Weisheit → Prinzip des „carpe diem“ (die Zeit auskosten) • Die philosophische Tradition weiss „que philosopher, c‘est apprendre à mourir“ (Michel de Montaigne < Cicero). 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 26 • Zu einer Lebenskunst, die die Kunst des Umgehens mit dem Sterben einschliesst, gehört, - den Tod nicht zu verdrängen, - eine abschiedliche Lebenshaltung einzuüben (Verena Kast): loslassen lernen; ‘partir, c’est mourir un peu’ - sich über die eigenen Vorstellungen im Blick auf das Sterben Gedanken zu machen und diese mitzuteilen (z.B. durch eine Patientenverfügung), 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 27 • - im Wissen um die eigene Endlichkeit jeden Tag auszukosten und zu nutzen (> lebenssatt werden), - die Freiheit im Leben einzuüben, offen zu sein für das Unverfügbare und sich mutig darauf einzulassen. - Zu diesem Unverfügbaren gehört auch die im Glauben angenommene Verheissung eines ewigen Lebens über den irdischen Tod hinaus. 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 28 Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Heinz Rüegger Institut Neumünster Neuweg 12, 8125 Zollikerberg [email protected] 18.08.15 H. Rüegger, Selbstbestimmtes Sterben 29
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