Touristen auf der Strasse werden zur Gefahr für Buspassagiere

Kantone
Sonntag, 21. Juni 2015 / Nr. 25 Zentralschweiz am Sonntag
Mich knutscht
ein Bus
S
e non è vero, è ben trovato, heisst
ein italienisches Sprichwort,
«wenn es auch nicht wahr ist, so ist
es doch gut erfunden». Mit dieser
wahren Anekdote, zwar Jahrzehnte
her, aber nicht minder amüsant,
möchte ich zu Ihrer Sonntagslektüre beitragen: «Faliraki Beach» (Rhodos), den ganzen Tag genossen
meine damalige Flamme und ich
türkisblaues Meer, samtweichen
Sand und natürlich – das beste
aller Antidepressiva – strahlenden
Sonnenschein.
Touristen auf der Strasse werden
zur Gefahr für Buspassagiere
LUZERN In der Stadt kommt
es zwischen Touristengruppen
und Bussen immer häufiger zu
brenzligen Situationen. Die VBL
wollen jetzt handeln – und nehmen Reiseleiter in die Pflicht.
LENA BERGER
[email protected]
Werner Keiser,
Übersetzer und
Inhaber des
Sprachateliers
Sempach
EINBLICKE
So gegen Abend wollten wir mit
dem Bus zurück zum Hotel. Doch
weit und breit keiner auszumachen.
Die Zahl der Passagiere an der Haltestelle schwoll bedenklich und kontinuierlich an, zusammen mit der Gewissheit, dass wohl kaum alle Touris
in den fahrplanmässig letzten Linienbus reinpassen würden. Dann endlich
zuckelte ein klappriges, verstaubtes
Gefährt mit angebrochener Heckscheibe gemächlich heran, zog noch
eine unerwartete Extraschleife, vielleicht um die Spannung zu erhöhen.
Das Schubsen und Quengeln begann schon vor dem Öffnen der
Türen, und als diese endlich aufsprangen, waren wir zivilisierte Mitteleuropäer nicht mehr zu halten.
Nicht ein Nanogramm Vertrauen in
das griechische Transportwesen?
Bewaffnet mit Ellbogen, Fusstritten,
Grasmatten, Strandtaschen und anderen Accessoires wurde zu einem
wüsten Sturm auf die Räderfestung
angesetzt. Zu meiner Schande entglitt auch mir die Selbstkontrolle,
dass heisst, ich griff selber in die
turbulenten Kampfhandlungen ein.
Wie konnte ich nur? «Ein Mensch,
der nur an sich denkt und in allem
seinen Vorteil sucht, kann nicht
glücklich sein.» (Seneca, römischer
Philosoph)
Der Chauffeur, ein solch allabendliches Szenario offenbar gewohnt, gönnte sich in stoischer Gelassenheit eine Zigarette und schaute dem Spektakel genüsslich zu. Das
Vehikel war schliesslich so proppenvoll, dass ein paar unbedingt Mitfahrende richtiggehend hineingequetscht wurden. Man kennt solche
Szenen sonst nur von japanischen
U-Bahnhöfen, an denen Angestellte
nichts anderes tun, als Pendlern den
«Rücken zu stärken». Und welches
Schicksal beschied den Zurückgebliebenen? «Ja, wer zu spät kommt,
den bestraft das Leben.» Teures Taxi
zurück ins Hotel oder ein längerer
Fussmarsch in Badelatschen?
Kaum war unser Bus, jetzt eine
überdimensionale Sardinendose mit
vielen eingeölten Touri-Sardinen,
angefahren, kreuzte ein klimatisierter, vor Platz strotzender, einladender Bus auf, um die am Strand
Gestrandeten zu evakuieren. Der
Clou: Die halbvolle Extrafahrt schob
sich später auf der Schnellstrasse
auch noch an uns Bekloppten vorbei. Wer zu spät kommt, den kann
das Leben schon mal belohnen. Sie
können sich bestimmt vorstellen,
wie wir auf der Rückfahrt leicht beschämt und belämmert zu den
Überholenden «rüberzännten» und
diese uns mit einer Mischung aus
Schadenfreude und Mitleid entgegengrinsten. Diese Szenerie löste
bei mir ein überfälliges, befreiendes
Lachen über die eigene Dummheit
aus, und ich könnte mich heute
noch ohrfeigen. Wie hiess er schon
wieder, der Spruch? Ach ja ... «Die
Letzten werden die Ersten sein.»
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Dienstagmorgen, kurz vor 9 Uhr, Pilatusstrasse: Eine Touristengruppe rennt
wie aus dem Nichts auf die offene Strasse. Im letzten Moment steht der Fahrer
des 12er-Busses der Verkehrsbetriebe
Luzern (VBL) bei voller Fahrt auf die
Bremse. Viele Passagiere, die keinen
Sitzplatz haben – einer davon ein Leser
dieser Zeitung –, werden umgeworfen.
«Der Bus bremste so abrupt, dass ich
hingefallen bin und mir den Kopf angeschlagen habe», erzählt der Betroffene.
Eine der Touristinnen hält einen SelfieStick in der Hand. Es sieht so aus, als
wolle sie sich und ihren Mann mitten
auf der Luzerner Hauptverkehrsachse vor
dem Bus fotografieren. «Das Verhalten
dieser Touristen finde ich das Letzte. Ich
bin oft mit dem ÖV unterwegs – und
solche Situationen passieren immer wieder. Es ist ein Wunder, dass es nicht
häufiger zu Unfällen kommt.»
Tragischer Todesfall im März
Stopp-Unfälle kommen in Luzern häufig vor. Pro Jahr werden rund 50 Passagiere verletzt, weil Busse wegen eines
Zwischenfalls auf der Strasse notfallmässig abbremsen müssen. «Wenn die Chauffeure einen Notstopp machen müssen,
melden sie dies der Leitstelle», sagt VBLSprecher Christian Bertschi. Meist bleibt
es bei Blutergüssen oder Prellungen –
aber leider nicht immer. Erst im März
verstarb eine Passagierin nach einer Vollbremsung. Der Bus musste einen Notstopp einlegen, weil eine Reisegruppe die
Pilatusstrasse bei Rot überquerte.
Etwas weniger tragisch endete ein Vorfall im August 2013, als ein Bus bei der
Haltestelle Maihof abrupt abbremsen
musste. Eine Fussgängerin war plötzlich
vom Trottoir auf die Strasse gestürzt. Die
Frau hatte Glück, im Bus wurden allerdings acht Passagiere verletzt, zwei davon
mussten zur Kontrolle ins Spital.
VBL warnen die Fahrgäste
Seit dem schweren Unfall im März
mahnen die VBL ihre Passagiere über die
Screens in den Bussen und teilweise auch
über Durchsagen, dass sie sich während
der Fahrt festhalten sollen. Bertschi:
«Dass abgebremst werden muss, kann
immer vorkommen. Viele Verletzungen
könnten verhindert werden, wenn sich
die Fahrgäste festhalten würden und nicht
abgelenkt wären – zum Beispiel durch
ihr Handy.»
Gemäss VBL-Sprecher Christian Bertschi nimmt die in den Tagesjournalen
verzeichnete Zahl der brenzligen Situationen zwischen Bussen und Fussgängern zu. «Wir stellen das Problem besonders bei asiatischen Reisegruppen
fest. Gerade auf der Seebrücke, am
Schwanenplatz und beim Schweizerhofquai kommt es immer wieder vor, dass
sie nicht den Fussgängerstreifen benutzen oder sich mit ihren Kameras mitten
auf die Strasse stellen, um ihre Begleiter
mitsamt dem See und dem Bergpanorama auf ein Bild zu bekommen.» Auch
am Löwenplatz würden oft ganze Grup-
pen die Strasse bei Rot überqueren. «Dort schränken. «Ist die Gruppe zu gross, ist
ist die Situation für die Busfahrer aber es schwieriger, alles im Auge zu behalten.»
Auch die «Friendly Hosts», die mobilen
etwas übersichtlicher.»
Bei der VBL ist man aufgrund der ver- Gästebetreuer, werden sensibilisiert und
zeichneten Zunahme von Stopp-Unfällen weisen auf die Gefahr hin. In Luzern
besorgt – und will nun handeln. «Dass seien aber auch viele Tagesausflügler und
Gruppenreisende sich nicht unbedingt weitere Anbieter von Führungen unterüber die Gepflogenheiten eines Landes wegs. «Die von Luzern Tourismus beinformieren, finde ich nachvollziehbar. treuten Gruppen machen einen sehr
Deshalb müsste man die Reiseleiter in geringen Anteil aus. Es ist wichtig, dass
die Pflicht nehmen. Sie sollen ihre Gäs- alle Beteiligten, also auch Hotels, Gete sensibilisieren»,
schäfte, sonstige Anfindet Bertschi. Man
bieter und die Verstehe mit Luzerner
kehrspolizei,
hier
Tourismusorganisaunterstützen.»
tionen in Kontakt und
China: Ein organiwerde das Thema mit
siertes Chaos
ihnen besprechen.
«Wir wollen nicht zuDoch woran liegt
erst einen weiteren
es, dass gerade chineschweren Unfall mit
sische Touristen häuToten erleben müsfig einfach loslaufen?
«Wir wollen nicht
sen.»
Die in Peking geborene Schweizer Untereinen weiteren
Auch Hotels sollen
nehmerin Yunsong
schweren
Unfall
informieren
Xing Sutter erklärt
mit Toten
Bei Luzern Tourisden kulturellen Untermus rennen die VBL
schied: «In China sind
erleben müssen.»
es die Leute gewohnt,
offene Türen ein. «Es
C H R I ST I A N B E RT S C H I ,
die Strasse irgendwo
ist auch für uns sehr
V B L-S P R E C H E R
zu überqueren. Fusswichtig, alles zu tun,
gängerstreifen werwas möglich ist, um
Unfälle zu vermeiden weder von ihnen
den», sagt Sprecherin Sibylle Gerardi. noch von den Autofahrern besonders
Die Sache mit den Selfie-Sticks, das beachtet.» Entsprechend seien Letztere
Fotografieren und SMS-Schreiben auf darauf gefasst, dass im Strassenverkehr
der Strasse sei leider heute allgemein alles passieren könne. «Es ist ein orgaein Problem im Alltag und sehr gefähr- nisiertes Chaos, das irgendwie funktiolich. «Wir werden Stadtführerinnen, die niert. In der Schweiz ist das anders.»
mit Gruppen in der Stadt unterwegs Sutter findet, die Reiseleiter sollten Aufsind, nochmals explizit darauf aufmerk- klärungsarbeit leisten. «Die Touristen
sam machen.»
müssen wissen, dass die Autos hier nicht
Weiter versuche man, die Gruppen bei automatisch anhalten – sonst sind sie
Stadtführungen auf 25 Personen zu be- sich der Gefahr gar nicht bewusst.»
Besucher im ‹Anker›: «Das sieht imposant aus»
LUZERN Noch befindet sich
das Restaurant und Hotel
Anker im Bau. Gestern haben
die Betreiber aber erstmals die
Türen geöffnet. Und versetzten
die Besucher ins Staunen.
Wer die Räumlichkeiten des Restaurants und Hotels Anker am Pilatusplatz
gestern betrat, musste eine rege Fantasie
haben. Das ehemalige Gewerkschaftshaus befindet sich mitten im Umbau.
Das heisst: Unter den Füssen der Besucher knirschten die Betonbrösel, aus
der Decke ragte der Stahl, und an den
Mauern fehlte teils der Verputz. Sogar
einige Regentropfen fanden den Weg ins
Innere des Gebäudes. Schnell wird klar,
dass der «Anker» nie mehr so sein wird,
wie ihn die Bevölkerung in Erinnerung
hat. Gleich im ersten Raum, wo sich das
Restaurant befand und auch in Zukunft
befinden wird, legten die Besucher den
Kopf tief in den Nacken. Nur so konnte
das riesige Lokal mit einer über vier
Meter hohen Decke richtig begutachtet
werden. «Man hat versucht, den ursprünglichen Charme beizubehalten»,
sagt Besucher Karl Bühlmann aus Hergiswil im Kanton Nidwalden zufrieden.
«Das wird etwas Gutes.» Und auch
Martin Gübeli aus Luzern findet: «Das
sieht alles imposant aus.»
Besichtigung des grossen Saals des Restaurants Anker – hier
entstehen in den nächsten Monaten Hotelzimmer.
Heruntergewirtschaftetes Gebäude
Tatsächlich wird beim Umbau eng mit
der Denkmalpflege zusammengearbeitet.
Die Fenster und die Fassade sollen dem
ursprünglichen Erscheinungsbild des
über 100-jährigen ehemaligen Gewerkschaftshauses entsprechen. «Das Haus
wird aber viel durchlässiger, das Erscheinungsbild filigraner», so Architekt Hans
Kunz, der den «Anker» zusammen mit
dem Innenarchitekten Martin Polzer gestaltet. Nicht alles lief nach Plan. «Hinter
der Verkleidung kamen einige Überraschungen zum Vorschein. Zum Beispiel
asbesthaltiger Kleber», sagt Kunz. Um
diesen rauszubekommen, habe man zwei
Bild Nadia Schärli
bis drei Monate gebraucht. «Es war aber
von Anfang klar, dass ein Umbau nicht
so schnell vorangeht wie ein Neubau.»
Auch Peter Eltschinger, Eigentümer
und künftiger Betreiber des «Ankers»,
war am Tag der offenen Baustelle vor
Ort und stand den Besuchern Rede und
Antwort. «Viele freuen sich, dass jemand
das Haus wieder in Stand stellt.» Er
könne fast nicht glauben, wie sehr das
Gebäude in den vergangenen Jahren
heruntergewirtschaftet wurde. Zumal bei
früheren Umbauten vieles – zum Beispiel die Fenster – nicht nach Vorschriften der Denkmalpflege eingebaut wurde.
Gemäss Eltschinger soll der «Anker»
für das ganze Volk offenstehen. «Bei uns
sind alle willkommen. Von Arm bis Reich,
von Klein bis Gross.» Was genau die
Besucher nach der Eröffnung im Frühsommer 2016 erwartet, daraus macht
Eltschinger nach wie vor ein Geheimnis.
«Es wird etwas sein, das es in Luzern so
noch nicht gegeben hat. Hier soll Neu
mit Alt auf verspielte Weise verbunden
werden.» Dabei setze man auf Nachhaltigkeit. Damit der Anker noch für die
nächsten 100 Jahre Bestand hat.
ANDREAS BÄTTIG
[email protected]
www...
Weitere Bilder vom Umbau im Hotel Anker finden
Sie unter www.luzernerzeitung.ch/bilder