Vom Pauker zum Coach? Bemerkungen zum Wandel der Rolle der Lehrerinnen und Lehrer Prof. Dr. Roland Reichenbach Universität Zürich Max Ernst (1926: Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen Traditionelle Konzeptionen des pädagogisches Verhältnisses •Pädagogischer Bezug (Nohl 1963) •Erzieherisches Verhältnis (Nohl 1963, Kron 1970) •Generationenverhältnis (Schleiermacher 1826, Mollenhauer 1976) •Dialogisches Verhältnis (Buber 1956) •Bildungsgemeinsacht (Spranger 1928) Intention und Bildsamkeit: (nach H. Nohl): • • • • • • die die die die die die zweifache Intentionalität explizite Anthropologie Doppelfunktion des Erziehers „pädagogische Liebe“ „pädagogische Autorität“ „Aufhebung des pädagogischen Bezugs“ 1. die zweifache Intentionalität zwei Ziele: – bestimmte Ziele (z.B. Tischsitten) – allgemeine Ziele (z.B. Kräftebildung) 2. die explizite Anthropologie zwei Merkmale: – das Kind ist defizitär – das Kind ist bildsam 3. die Doppelfunktion des Erziehers zwei Aufgaben Erziehungsperson ist Anwältin der Kultur / Gesellschaft Erziehungsperson ist Anwältin des Kindes 4. die „pädagogische Liebe“ bezieht sich auf das „Geistige im Zögling“ ist allein „geistige, d.h. erhebende Liebe“ 5. die „pädagogische Autorität“ Autorität und Gehorsam „spontane Unterordnung als Ausdruck eines inneren Willensverhältnisses...“ „Ausdruck der Zustimmung des Zöglings“ 6. die „Aufhebung des pädagogischen Bezugs“ Ursprünge der empirischen Erziehungsstilforschung • Kurt Lewin et al. Zu „demokratischer Erziehungsstil“ (1939) • Diskrete Kategorien / Typologien / Dimensionale Konzepte • Lenkung und Achtung – Lenkung: hoch-mittel-tief – Achtung: hoch-mittel-tief Begriffliche Unterscheidungen • Autoritäres Verhalten (= Eigenschaft einer beobachtbaren Interaktionssequenz) • Autorität als (zeitlich und inhaltlich limitiertes) Anerkennungsverhältnis (= Eigenschaft einer Beziehung) • Autoritäre Persönlichkeit (= Verhaltensdisposition und Eigenschaft und Resultat einer problematischen Persönlichkeitsentwicklung) • Pädagogisches Problem: Mangelnde Differenzierung des Gemeinten (= Hinweis auf die Bedeutung der auch sprachlichen pädagogischen Bildung) Zwischenfrage: Was ist eigentlich mit den Franzosen los? Über das Wertesystem der Grundschule in Deutschland und Frankreich Ein Sketch nach Anne Sussap-Köhler (OFAJ/DFJW 2002) Das französische Grundschulkind (aus der Sicht der deutschen Lehrer/innen): - Es verbringt sein Leben in der Schule (spätestens ab 3 Jahren)..., jeweils 8.30-16.30 Uhr... Es zeigt keine Eigeninitiative (wenig Zeit zum Spielen, wenig Selbstentfaltungsmöglichkeiten)... Es hat lange Sommerferien, sonst ist sein Lernen allein von der Lehrerin gelenkt und geplant... Es ist sehr diszipliniert, hat großen Respekt vor der Lehrerin, es unterwirft sich breitwillig Es ist ängstlich und muss gute Noten nach Hause bringen... Das deutsche Grundschulkind (aus der Sicht der französischen Lehrer/innen) - Es ist König, d.h. laut und undiszipliniert, autonom, spontan und respektlos... Es hat Mühe, aufmerksam zu sein... Es rauft gerne, und wenn die Lehrerin ins Klassenzimmer kommt, rauft es weiter... Es muss eingestimmt werden, hingeführt werden, motiviert werden... Wenn ihm etwas nicht passt, so gibt es seine Meinung spontan kund... Es will dann diskutieren und die Lehrerin sucht eine Einigung Der französische Lehrer (aus deutscher Perspektive) - Er ist Staatsdiener... Er ist streng und weiß, wie man die Kinder diszipliniert... Er „bemuttert“ die Kinder nicht, auch die ganz Kleinen nicht... Er ist freundlich und distanziert... Er redet nicht über Pädagogik und er tauscht sich nicht über Lehrmethoden aus... Die deutsche Lehrerin (aus französischer Perspektive) - Sie steht ständig unter Zeitdruck („Stoffmenge“)... Sie ist sehr geduldig und muss ständig mit Kindern und Eltern (und Kolleginnen) über alles verhandeln... Sie hat immer ein offenes Ohr (eines, das auch „aktiv zuhören“ kann...) Will sie respektiert werden, so muss sie motivieren können, Interessen erwecken können... Sie versteht sich als Begleiterin von Lernprozessen, ist kindzentriert und hinterfragt ihr pädagogisches Können... Die französische Grundschulpädagogik - Es gibt sie eigentlich nicht; der Unterricht ist auf bloße Wissensvermittlung ausgerichtet... („Frontalunterricht“)... Wenig Autonomie, viele Noten... Man scheint sich keine Gedanken zu machen über - die Entwicklung des Kindes und - seine Kreativität, Eigeninitiative, Autonomie Die deutsche Grundschulpädagogik - gleicht eher einem Animationsprogramm in einem Ferienlager (Spiel, Spaß und Basteln)... lässt einen Lärmpegel zu, in welchem die Kinder nicht lernen können... Lernziele sind meist unklar... Erste Klasse ist noch Kindergarten... Was ist Autorität? Hannah Arendt 1994/1955 „Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form von Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt. Andererseits ist Autorität unvereinbar mit Überzeugen, welches Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet. Argumentieren setzt Autorität immer außer Kraft. Der egalitären Ordnung des Überzeugens steht die autoritäre Ordnung gegenüber, die ihrem Wesen nach hierarchisch ist. Will man also Autorität überhaupt definieren, so würde es sich vor allem darum handeln, sie klar sowohl gegen Zwang durch Gewalt wie gegen Überzeugen durch Argumentieren abzugrenzen“ (S. 159f.). Situative Führung Schule als vielfältige und problematische Anstalt • • • • • • • • Eingliederungsanstalt (Sozialisationsinstanz) Legitimationsanstalt (Instanz politischer Integration) Bildungsanstalt (Personalisationsinstanz) Ausbildungsanstalt (Qualifikationsinstanz) Ausleseanstalt (Selektionsinstanz / soziale Reproduktionsinstanz) Wirtschaftliche Anstalt (ökonomische Institution) Verwaltungseinrichtung (administrative Institution) Verselbständigte und selbständige Anstalt (autozentrische und autonome Institution) • Schule als Zwangsanstalt • Schule als Aufbewahrungsanstalt Pädagogische Führung und pädagogische Professionalität • Über ein Repertoire von pädagogischen Strategien verfügen • Pädagogische Urteilskraft: Situationsklugheit (früher: „pädagogischer Takt“) • Pädagogische Verantwortung als Selbstzumutung • Theorie und Empirie / Praxis und Poiesis Wandel: Humanisierung des Erziehungsbetriebes als eine Symmetrisierung der Kommunikation? Von körperlichen Strafen (Prügelpädagogik)... ... zur autoritären Lehrerpersönlichkeit... ... zu demokratischen Erziehungsstilen... ... zur herrschaftsfrei-kommunizierenden Pädagogik... ... zur „Beziehung statt Erziehung“... ... zur „Amication“ als „Postpädagogik“... ... zu „Vereinbaren statt Anordnen“ („educational contracts“) …? Geschwächte „Gratiskräfte“ • „Gratiskraft“ Bildungskanon • „Gratiskraft“ Generationenverhältnis • „Gratiskraft“ Selbstdisziplin Ziehe & Stubenrauch (1982) Die „ent-auratisierte“ Schule 1. 2. 3. Ent-Kanonisierung des Wissens und des Bildungserbes Relativierung von Regeln & Normen: verstärkte Begründungspflichtigkeit Hinterfragung der Lehrperson auch in didaktisch-methodischer und pädagogischer Hinsicht (Helsper et al. 2007). Albert Camus’ Lehrer Bernard „Das Kind musste seinen Kopf zwischen die Knie des Lehrers stecken, der ihn mit zusammengepressten Oberschenkeln festhielt. Und auf den so dargebotenen Hintern versetzte Monsieur Bernard eine je nach Sünde variable Zahl von gleichmäßig auf jede Hinterbacke verteilten tüchtigen Schlägen mit dem Lineal“ (S. 173). „Insgesamt jedoch wurde diese Strafe ohne Bitterkeit hingenommen, zum einen, weil fast alle Kinder zu Hause geschlagen wurden und Züchtigung ihnen als normale Erziehungsmethode erschien, zum anderem, weil die Unparteilichkeit des Lehrers absolut war, weil man vorher wusste, welche Übertretungen – immer die gleichen – die Sühnezeremonie nach sich zogen, und all jene, die die Grenzen der Taten überschritten, die dem Minuspunkt unterlagen, wussten, was sie riskierten, und dass der Urteilsspruch mit herzhafter Gleichheit die Besten wie die Schlechtesten traf“ (ebd.). Forts. Für Jacques ist der Lehrer Bernard die Möglichkeit, als erster in der Familie würdig „wie ein Mensch“ zu leben (daher der Titel Der erste Mensch). Die Bindung des Knaben, der keinen Vater hat, ist elementar und exklusiv. Bernard hilft Jacques und anderen Schülern mit großem Einsatz, die Prüfung ins Gymnasium zu bestehen. Der Preis für diesen Erfolg ist die Trennung von Bernard, der Jacques zu trösten versucht: „’Du brauchst mich nicht mehr’, sagte er, ’du wirst gelehrtere Lehrer haben. Aber du weißt ja, wo ich bin, besuch mich, wenn du meine Hilfe brauchst’“ (S. 199). Forts. „Er ging, und Jaques blieb allein, verloren inmitten dieser Frauen, dann stürzte er zum Fenster und sah seinem Lehrer nach, der ihn ein letztes Mal grüsste und ihn von nun an allein ließ, und statt der Freude über den Erfolg zerriss ein grenzenloser Kinderkummer sein Herz, so als wüsste er im voraus, dass er soeben durch diesen Erfolg aus der unschuldigen, warmherzigen Welt der Armen herausgerissen worden war, einer wie eine Insel innerhalb der Gesellschaft in sich abgeschlossenen Welt, in der das Elend als Familie und Solidarität dient, um in eine unbekannte Welt geworfen zu werden, die nicht mehr seine war, von der er nicht glauben konnte, dass die Lehrer gelehrter waren als dieser, dessen Herz alles wusste, und er würde in Zukunft ohne Hilfe lernen und verstehen müssen, ohne den Beistand des einzigen Menschen, der ihm geholfen hatte, schliesslich ganz auf seine Kosten sich allein erziehen und erwachsen werden müssen“ (S. 199f.). These: Die zentralen Akteure der Schule sind die Lehrerinnen und Lehrer, die über eine artikulierte pädagogische Identität verfügen. Während „professionelle Kompetenzen“ für die Lehrberufe unabdingbar sind, ist das Lehren im Kern eine personale Angelegenheit. Zwei schleichende Entwicklungen unterhöhlen in letzter Zeit tendenziell die gesellschaftliche Anerkennung der Institution Schule und damit auch der Lehrperson: - das „sinnfreie“ Lernen und - das „Verschwinden der Person“ Pädagogische Bildung ist auch Sprachpflege… Pädagogisches Vokabular: • Definitionen • Slogans • Metaphern Israel Scheffler: Die Sprache der Erziehung (1971) Pädagogische Rhetorik Beispiel «Wandel der Leitbilder in Schulen» (zit. nach Seeger 2003 in Anlehnung an Miller 1993 und Voß u.a. 1998). • • • • • • • • • Lebendiges Lernen statt Stoffvermittlung Subjektive Wirklichkeiten statt objektive Wahrheiten Wissenskonstruktion statt Wissensreproduktion Vernetzung statt Linearität Beziehung statt Erziehung Vereinbarungen statt Durchsetzung Kompetenz- statt Defizitorientierung Unterstützung statt Belehrung Team statt Einzelkämpfertum. «aktives Lernen» • «Kinder (...) dann mit der größten Wahrscheinlichkeit produktiv sind, wenn sie aktiv an ihrem eigenen Lernprozess beteiligt sind» • «der Lernende im Mittelpunkt des Lernprozesses» • Lernen «ohne Beteiligung des Selbst nicht vorstellbar» (vgl. Heid 2002, S.103) «Gelungenes Trinken setzt voraus, dass der Trinkende sich an seinem Trinken beteiligt» (Heid 2002, S. 103) Achtung (Leer-) Formeln (?) • • • • • • • Von X zu Y X statt Y Zwischen X und Y «Alles ist im Wandel» «Das Kind bildet sich seine eigene Welt» Neu ist progressiv, besser «Die Hirnforschung hat gezeigt, dass…» Oberflächen und Elementarien • Personalität des Lehrens (und Lernens): – Dieser Gegenstand ist wichtig / bedeutsam! (Sach- & Weltbezug) – Ich will / erwarte, dass Du ihn lernst! (Sichtbar machen der Erwartung) – Ich weiss, dass Du das kannst! (Unterstellungshaltung) – Ich zeige Dir wie! (Zeigen der Hilfe / Unterrichtung) • Diese vierfache Zeigehaltung (vgl. operative Pädagogik, Prange 1998) und deren Sichtbarmachung muss glaubwürdig sein (Dies kann nicht garantiert / hergestellt werden, sondern muss sich als Faktum / Erfahrung in der Praxis bewähren). Schlussbetrachtung 1 Hannah Arendt: Die Krise in der Erziehung (1958) «In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustossen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgaben der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten» . Schlussbetrachtung 2 Der „Hans A. Traber-Effekt“
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