Nachrichten Ausgabe 3 September 2015 d i e n e u e a u t o r i tät „Stärke statt Macht” oder die „Neue Autorität” nach Haim Omer D er zwölfjährige Max ist ein schwieriger Schüler. Sobald er die Klasse betritt, gibt es Ärger mit seinen Mitschülern, nicht nur in den Pausen sondern auch während des Unterrichts. Er hält sich an keine Anweisung, ist laut und unbeherrscht, kann sich bei einer Gruppenarbeit nicht positiv einbringen und ärgert seinen Banknachbarn. Wenn der Lehrer vorträgt, passt er nicht auf oder kann sich nur kurze Zeit konzentrieren. Max ist aber auch intelligent, kontert, wenn ihn der Lehrer zurechtweist, kennt die Schwächen seiner Mitschüler und nutzt jede Situation, um zu provozieren. Er kennt aber auch die Schwächen seiner Lehrer, bringt manche zur Weißglut. Besonders in den kreativen Fächern wie Musik, Werken, Bildnerische Erziehung oder Sport ist er kaum zu bändigen. Dann muss er die Klasse verlassen, sitzt beim Direktor und will nicht verstehen, warum er dort gelandet ist. Strafen nützen wenig oder nur für kurze Zeit. Gutes Zureden scheint sinnlos. Auch die Eltern von Max sind verzweifelt. Wir Lehrer kennen solche und ähnliche Situationen. Das pädagogische Konzept der „Neuen Autorität“ von Haim Omer wurde entwickelt, um solchen Kinder und deren Familien zu helfen, im Besonderen aber auch die Lehrer in ihrer Arbeit zu stärken. Im folgenden Artikel werden wichtige Grundideen für ein achtsames und respektvolles Miteinander vorgestellt. Der Begriff der neuen Autorität ist eigentlich nicht neu. 2002 veröffentlichte Haim Omer, Professor und Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie an der Universität Tel-Aviv, gemeinsam mit seinem Koautor Arist von Schlippe sein Buch „Autorität ohne Gewalt“. Damals war der Begriff der Autorität in der Öffentlichkeit und in der therapeutischen Praxis nahezu verpönt und stieß bei Eltern auf Unverständnis und Ärger, aber 16 Mag. Sylvia Bäck Vorsitzende der AHS-Gewerkschaft Oberösterreich mit der Zeit wurde klar, dass elterliche Autorität durchaus positiv und legitim ist, und so richteten viel Eltern und Beratungsstellen ihr Handeln nach den Grundsätzen diese Buches aus. Das zweite Buch „Autorität durch Beziehung“, das 2004 erschien, beschäftigt sich mit Eskalationsdynamiken zwischen Eltern und Kind. „Im Mittelpunkt stehen das Leid und die Schwierig keiten der Eltern im Umgang mit der Situation, während praktische Wege zur Bewältigung und Vorbeugung solcher Probleme aufgezeigt werden.“ 1 Wenn diese beiden Bücher die Unterstützung der Eltern und das Verständnis für deren Notlage in den Mittelpunkt stellen, ohne die Eltern ständig für das Fehlverhalten der Kinder verantwortlich zu machen, so geht es in „Stärke statt Macht“, das 2010 erstmals erschien, um die Unterstützung von Lehrern und Erziehungspersonen. Es wird der Aufbau eines Interventionsprogramms vorgestellt, „das die Stärkung der Lehrerpräsenz und -autorität zum Ziel hat.“2 Haim Omer sieht in dem Einmischen der Eltern in den Schulalltag einerseits eine der belastendsten Faktoren des Lehrberufs, andererseits aber auch die Bedeutung des Mitwirkens der Eltern bei der Wiederherstellung von Autorität. Haim Omer erklärt die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern als wesentlich ste Basis für das Gelingen von Autorität. Das hier vorgestellte Interventionsprogramm lebt aber auch davon, dass jeder Einzelne eine Veränderung in einem ihm gemäßen Tempo und auf eine ihm angemessene Art und Weise bewirken kann. In diesem Sinne können Eltern oder Lehrer beginnen, ihre Autorität „im Kleinen“ wieder herzustellen. Fazit: Wichtig ist die Bereitschaft, etwas zu tun und dabei Erfahrungen zu sammeln. Arist von Schlippe betont in seinem Vorwort zur zweiten, 2015 erschienenen Auflage von „Stärke statt Macht“ auch, dass es oft äußerst schwierig sei, mit Jugendlichen zu arbeiten, und es Bereiche gebe, wo Eltern und Lehrer immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Das Buch bietet aber viele Fallbeispiele, die auf oft ungewöhnliche und provozierende Art gelöst werden. „Es dient als Handwerkzeug für gewaltlosen Widerstand – eine Praxis der neuen Autorität.“ 3 In acht Kapiteln spricht Haim Omer alle notwendigen Bereiche an, um aktiv mit schwierigen Schülern zu arbeiten, besonders Kapitel IV-VII sind für Lehrer relevant und werden hier genauer betrachtet. Zum besseren Verständnis sei hier der alte Autoritätsbegriff dem neuen, wie ihn Omer verwendet, gegenübergestellt. Alte Autorität • Rangordnung/Machtkämpfe • Kinderwillen brechen und Kinder formen • Sofortige Reaktion nötig • Viel reden, diskutieren, erklären, drohen, schreien • Konsequenzen vergessen • Sich selbst und sein gegenüber „vergessen“ • Hineingezogen werden Eskalation Neue Autorität: • Gegenseitig wahrnehmen und respektieren • Sich selbst bzw. seine Einstellung verändern • Aufschub (auch Schweigen ist möglich): „Dieses Verhalten werde ich nicht tolerieren, ich komme darauf zurück“ >>> nüchtern, ohne Diskussion • Dran bleiben • Präsenz zeigen • Einladung zu Konfrontation nicht annehmen De-eskaltion4 d i e n e u e a u t o r i tät Kapitel IV von „Stärke statt Macht“ beschäftigt sich mit den Merkmalen einer „sicheren Schule, die Schülern Schutz und Unterstützung biete, gegen Gewalt und Mobbing ankämpfe und eine Atmosphäre der Ordnung schaffe. Weiters vermittle sie ein Gefühl der Zugehörigkeit und erhalte Unterstützung von Eltern, Gemeinde und einer ausschlaggebenden Mehrheit der Schüler.“ 5 In Kapitel V geht es um die Präsenz des Lehrers und sein verantwortungsvolles Handeln. Haim Omer unterteilt in vier Wirkungsbereiche: • Die körperliche Präsenz: Ich bin da mit allen Sinnen. • Die emotional-moralische Präsenz: Ich gebe dir nicht nach, ich gebe dich nicht auf! • Die Präsenz im Verhalten: Ich bin ruhig und lasse mich nicht provozieren, ich bestimme darüber, was und wann ich etwas tue! • Die zwischenmenschliche Präsenz: Präsenz als Netzwerk in Form von Unterstützung: Wenn du Hilfe suchst, ist das kein Beweis von Schwäche! 6 Bild lizenziert von BigStockPhoto.com Öffentlichkeit und Wiedergutmachung, so die Überschrift zu Kapitel VI, behandelt die Rolle der Gesellschaft, der besonders bei Gewalttaten und Vandalismus von Schülern eine besondere Bedeutung zukommt. So müssten sich in diesem Zusammenhang Führungspersönlichkeiten (Schulleiter) besonders bewähren. Ebenso müsse gegenseitige Verantwortung wiederhergestellt werden, denn wenn folgender „Dominoeffekt auftritt, Ausgabe 3 wo Autoritätspersonen, sprich Lehrer und Eltern resignieren oder zynisch werden, die Opfer lernen nachzugeben, um weiteres Leid zu vermeiden, und die anderen Kinder in zustimmendem Schweigen versinken, fühlen sich Erwachsene in ihrer Stellung bedroht und Kinder erleben Enttäuschungen und fühlen sich alleine gelassen.“ 7 Ein weiter wichtiger Grundgedanke der „Neuen Autorität“ wird auch in diesem Kapitel angesprochen: Der Täter muss die Möglichkeit der Wiedergutmachung haben (u.a. Wiedergutmachung als Reintegrationsmodell, Zeit für Scham, Entlastung von Schulgefühlen, Wiedergutmachung anstelle von Sanktionen), was eine wirkungsvolle Alternative zum Ausschluss des Täters (Schulverweis) darstelle. Anhand vieler Fallbeispiele wird die Anwendung der Theorie in der Praxis verdeutlicht. In Kapitel VII geht es schließlich um die Möglichkeiten der Schüler, sich am Kampf gegen psychische und physische Gewalt in der Schule zu beteiligen. Auch hier dienen viele Fallbeispiele einem besseren Verständnis. Das Buch kann für jeden Lehrer eine Hilfe sein, es macht Mut zur Autori tät, aber nicht im althergebrachten Sinn, sondern auf eine aufbauende und respektvolle Art, die Lehrkräfte entlastet. Allerdings bietet sich das Konzept von Haim Omer wohl am besten für ganze Schulen an, die sich dazu ent- September 2015 Nachrichten schließen, schwierigen Schülern auf eine andere Art zu begegnen. Auch die notwendige Zusammenarbeit mit den Eltern wird nicht immer in der gewünschten Art und Weise erfolgen. Wer Haim Omer persönlich erleben möchte, hat von 21. – 22. September 2015 im Bildungshaus St. Virgil/Salzburg Gelegenheit dazu. Außerdem bietet das Beratungszentrum für LehrerInnen und Schulen der privaten pädagogischen Hochschule der Diözese Linz entsprechende Fortbildungen für Schulen in Form von Einführung, Prozessbegleitung und Gruppencoaching an. Über Prof. Dr. Haim Omer: Haim Omer wurde 1949 in Brasilien geboren. Seine Eltern, deren Familien in Treblinka umgebracht wurden, waren Überlebende des Holocaust. Er wanderte 1967 nach Israel aus. Omer hat sieben Bücher und über siebzig Artikel verfasst. Seine Bücher über Gewaltlosen Widerstand wurden in acht Sprachen übersetzt. Er promovierte in Psychologie an der Hebrew University in Jerusalem (Ph.D.). Seit 1998 ist er Professor und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel- Aviv. Er ist Gründer und Direktor des Zentrums für Eltern-Coaching im Schneider-Kinder- Krankenhaus und des New-Authority-Centers in Israel. Haim Omer hat 5 Kinder und 10 Enkelkinder. Arbeitsschwerpunkte: • Eltern-Kind-Beziehung • Elterncoaching • Arbeit mit Schul- und Gemeindesystemen • Supervision • Systemische Fort- und Ausbildung • Interventionen zur Deeskalation im Konflikt zwischen Israel und Palästina 1 Haim Omer, Arist von Schlippe: Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen 2015, S.15 2 Ebenda, S.15 3 Ebenda, S.20 4 Martin Kramm: Stärke statt Macht. Grundhaltungen nach Haim Omer. Fachforum der AGkE Aachen am 27./28.11.2013, S.5 (zugegriffen am 20.08.2015) 5 Ebenda, S.173 6 Ebenda, S.205 7 Ebenda, S.253 Personenbezogene Bezeichnungen umfassen gleicher maßen Personen männlichen und weiblichen Geschlechts. 17
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