leben 17 F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TA G S Z E I T U N G , 1 4 . F E B R U A R 2 0 1 6 , N R . 6 Die Ruhe selbst: Andrea Kuttenkeuler (links) dirigiert die Kellner. Bei Sternekoch Tim Raue (rechts) kann es schon mal etwas lauter werden. Wie an einem Fließband richten die Mitarbeiter vom Schloss Bensberg die Teller an, welche die Kellner anschließend in den Saal tragen. Und zwar auf keinen Fall schräg, damit die liebevoll angerichteten Speisen nicht verrutschen. Fotos Wonge Bergmann Anrichten, auftischen, Dampf ablassen Hinter den Kulissen der Gala „Unsere Lieblinge“: Wie man 140 Gästen ein edles Menü aus fünf Gängen serviert. Von Timo Steppat V orne, am Kücheneingang, steht Andrea Kuttenkeuler. Sie trägt eine schwarze Kellner-Montur, die dunklen Haare halblang, sehr akkurat geschnitten. „Nicht quatschen. Absolute Konzentration, wenn’s später losgeht“, sagt sie. Dabei mustert Frau Kuttenkeuler die Kellner, die vor ihr stehen. „Wenn ein warmer Gang kommt, zieht euch doppelte Handschuhe an.“ Der Porzellanwert an diesem Abend liege bei 80 000 Euro. „Es kann immer etwas kaputtgehen, passt aber bitte besonders auf“, sagt Frau Kuttenkeuler. Die Kellner nicken. Sie schaut jeden einzelnen streng an. Ihr Telefon klingelt. „Kutti“, meldet sie sich. „Ja, die Köche können den hinteren Eingang nehmen.“ Frau Kuttenkeuler dirigiert an diesem Abend jeden einzelnen Teller von der Küche zum Gast. Das an sich ist noch keine große Aufgabe. Frau Kuttenkeuler hat heute aber 140 Gäste, die fünf Gänge plus Nachspeisen zu sich nehmen werden, zubereitet von fünf hochdekorierten Köchen, die aus ganz Deutschland und den Niederlanden nach Schloss Bensberg in der Nähe von Köln gereist sind; zusammen mit renommierten Winzern werden sie an diesem Abend als „Lieblinge des Jahres“ 2015 dieser Zeitung gekürt. Bei so viel Aufmerksamkeit muss alles perfekt sein, sagt Frau Kuttenkeuler, der Kopf hinter der Logistik der Veranstaltung. Und damit das auch keiner vergisst, hat irgendwer, wahrscheinlich im Spaß, ein Schild aufgehängt. „Kuttistraße“ steht auf einem Stück Pappe über dem Pass, dem Bereich zwischen Küche und Gastraum. 18 Uhr, mehr als eine Stunde bis zum ersten Gang. Ein junger Koch, der mit Tim Raue angereist ist, legt vorgegarte Schweinshaxen auf Bleche, 150 Stück insgesamt. Raue, dessen Berliner Restaurant zwei Michelin-Sterne trägt, begrüßt einen Kollegen, Andree Köthe aus Nürnberg. Auch zwei Sterne. Die beiden wir- ken entspannt. Keine Aufregung? „Wir kochen heute ja nicht“, sagt Köthe. „Was wir machen, ist etwas rein Handwerkliches.“ Garpunkte anpassen, anrichten. Raue meint: „Eigentlich wärmen wir das Essen nur auf.“ Raue lacht. Klar ist das Koketterie. Es ist nicht wie in der Schulmensa, wo der Caterer das Essen fertig anliefert und über Stunden warm hält. Nach Bensberg kommen die Köche mit den fertigen Komponenten, den vorgegarten Langusten und vakuumierten Soßen. Vorbereiten würde man das auch alles vor einer Menüfolge im eigenen Restaurant. Der Unterschied ist, dass die Köche ihre Waren in eisgekühlte Boxen verpackt und durchs halbe Land geschafft haben. ConvenienceKost auf Sterneniveau. Marcus Graun steht ein Stück abseits, er ist der Küchendirektor von Schloss Bensberg. Er hat vor der Veranstaltung mit den Köchen gesprochen, hat ihre Wünsche für die Tellergröße vermerkt, Lebensmittel bestellt und Ablaufpläne für den Abend erstellt. Wer richtet wo an? Wie viel Hilfe vom Personal brauchen die Gastköche? Eigentlich ist Graun ein gelassener Mann. Einer, der zwar ständig für andere geradestehen muss – sollte etwa einem seiner Mitarbeiter ein Missgeschick unterlaufen oder zwei Gastköche zanken –, der aber immer freundlich und ruhig bleibt, „Ja, war mein Fehler. Tut mir leid“, sagt er später einmal. Nur einmal fährt er doch kurz aus der Haut: Ein Gast möchte an diesem Abend, anders als angekündigt, weder Fleisch noch Fisch essen. „Wieso muss der ausgerechnet heute zum Vegetarier werden?“, raunzt Graun. Keiner der Köche hat ein vegetarisches Menü vorbereitet. Graun und Frau Kuttenkeuler schimpfen kurz. Dampf ablassen, anders geht es nicht. Dann telefonieren die beiden, beschließen, dass das hauseigene Restaurant eine vegetarische Menüfolge zubereiten soll. Graun wird zu jedem Gang aus der Hotelküche mit großer Wärmehaube ein fertiges Gericht holen und es mit dem regulären Menü am Platz servieren lassen. Am Ende, sagt Grauen, hat der Gast immer Recht. Spielt keine Rolle, wer gepatzt hat. Frau Kuttenkeuler steht inzwischen in einem Saal auf der anderen Seite des Gebäudes. Ein schwerer Teppich und dicke Gardinen saugen alle Geräusche auf. Über ein Dutzend langer Tische sind im Halbrund aufgebaut, bedeckt mit weißen Tischtüchern. Darauf stehen 140 Teller, zweireihig. In der Küche reicht der Platz nicht, deshalb werden zwei der fünf Gän- Vorspeise: Rote Bete mit Salat von Andree Köthe & Yves Ollech vom „Essigbrätlein“ in Nürnberg. Lüneburger Saibling mit Essig-Schokoladen-Rahm, Dill, gerösteter Senfsaat und Kalbskopf von Sebastian Frank. Hauptgericht: Eisbein, Dashi und Ingwer von Tim Raue aus dem gleichnamigen Restaurant in Berlin. Amuse-Gueule: Hummerbisque, Bergamotte-Olivenöl, Auster und Curryschaum von Marcus Graun. Langoustine, Kombucha, Bumbu von Jonnie Boer aus dem Restaurant „De Librije“ in Zwolle (Niederlande). Amuse-Gueule: Miso-gebeizte Gelbflossenmakrele, Avocado und Rettich von Marcus Graun. Unsere Lieblinge: Weinkritiker Stuart Pigott, umringt von den Winzern des Jahres. ge im Goethe-Saal ein Stück entfernt angerichtet. Zuständig für die Vorspeise ist Sebastian Frank, zwei Sterne, aus Berlin. Wie an einem Fließband richten drei Mitarbeiter von Schloss Bensberg die Teller an. Zwei nehmen jeweils zwei Stücke einer gefrorenen Masse, die aus weißer Schokolade, Butter und Essig besteht. Sie tunken die Teile in eine Flüssigkeit und dann in Dill. Dazu ein paar Tropfen „Schmutz“, wie Frank sein Dressing aus Senfsaat nennt, und später noch ein Stück frischer Saibling. Während Frank den letzten Saiblingsstücken mit dem Bunsenbrenner eine leichte Bräunung verpasst und sie mit geronnener Butter und Salz bestreicht, steht Frau Kuttenkeuler am Ausgang zum Ballsaal. „Gleich geht’s ans Schicken“, ruft sie den Kellnern zu. Konzentriert fährt sie mit dem Finger über einen Plan des Saals. Rote Kreise sind die Tische, Pfeile zeigen die Wege auf, die die Kellner laufen sollen. Welche Tische werden zuerst, welche im zweiten Durchgang bedient? Auf kleinen Notizzetteln, an einzelne Plätze gepappt, stehen die Unverträglichkeiten. Einmal keine Nüsse, kein Kernobst, keine Bohnen – und eben einmal kein Fleisch. Um 19.18 Uhr, präzise dem Zeitplan folgend, stellen sich die Kellner auf. Frau Kuttenkeuler geht noch einmal die Teams durch, die für die Tische zuständig sind. In schnellem Schritt gehen die Kellner in den Saal, kehren zurück, gehen wieder. Nach fünf Minuten sagt Frau Kuttenkeuler: „Fertig!“ Erster Gang geglückt. Wenige Augenblicke lang kehrt Ruhe ein. Frau Kuttenkeuler probiert mit einem Löffel das Essen von Sebastian Frank. „Geil“, entfährt es ihr. Auf der anderen Seite des Ballsaals wird bereits der nächste Gang angerichtet. Die Kellner stehen unterdessen in einer Ecke, mampfen Weißbrot, das auch den Gästen zum Essen gereicht wird, und füllen sich Gläser aus dem Wasserspender ab. Wieder aufstellen. Nächster Gang. Anspannung. „Können wir schon schicken?“, fragt Kuttenkeuler. Kurz warten. Erst in fünf Minuten. Dann raus. Schnell. Zurück. Wieder raus und fertig. Fertig, Pause. Das Schwierige am Service sei nicht die Anstrengung, sagt Frau Kuttenkeuler. Die Kellner müssen nicht wie Wiesn-Bedienungen über zwölf Stunden dutzende kiloschwere Maßkrüge schleppen. Wenn die Kellner aber im Ballsaal an den Gast herantreten, so erklärt es eine von ihnen, muss alles perfekt sein. Sie müssen auf freundliche Weise runter- spulen können, woher das „Bongo“-Gewürz in der Sauce des niederländischen Kochs kommt. Das Wichtigste aber ist: Die Anspannung aufrechterhalten während der langen Pausen. Zu jedem Gericht hält der Gastrokritiker Jürgen Dollase einen Vortrag, diesmal gerät er etwas zu lang. Der Ablaufplan, der an der Küchenwand hängt, der Taktgeber des Abends, gerät ins Wanken. „Wann schicken wir?“, fragt Tim Raue, seine Schweinehaxen sind dran. Etwas später, entscheidet Marcus Graun. Raue läuft nervös auf und ab. Er sticht mit der blauen Kochkleidung und seinen pinken Schuhen hervor. Das Eisbein soll auf dem Fischsud liegen, so demonstriert es Raue beim Anrichten, damit das Fleisch nicht verrutscht. Es geschieht trotzdem, auf manchen Tellern, die beim Servieren offenbar leicht schräg gehalten wurden. Raue ruft leicht zornig: „Ist beim Anrichten geschlampt worden?“ Er nimmt zwei Bleche in die Hand und lässt sie auf die metallene Abstellfläche fallen. „Konzentration, Eigeninitiative!“, ruft er den Köchen zu, die noch die übrigen Teller anrichten. Raue weiß genau, was er möchte – und setzt es durch. In der Küche lässt das Personal sich die übriggebliebenen Haxen schmecken. Kross ist die Hülle, ein wohlig saftiger Geschmack breitet sich aus. Zufriedenes Kauen. Sebastian Frank und Andree Köthe unterhalten sich über Minimalismus. Eigentlich, erzählt Frank, habe er es gar nicht so mit der Reduzierung auf wenige Zutaten gehabt. Aber nachdem sein Restaurant, das „Horváth“ in Berlin, von den Kritikern gelobt worden war, seien weit mehr Gäste gekommen, in der Küche standen mit ihm aber nur vier Leute. „Wir hatten einfach keine Zeit für Chichi“, sagt Frank. Minimalismus aus der Not heraus. Drüben im Goethe-Saal scherzt Frau Kuttenkeuler mit Marcus Graun. „Kannst du dich noch an den Koch erinnern, der zweieinhalb Stunden fürs Anrichten brauchte?“ Was für ein Chaos das vor ein paar Jahren war, meint Graun. Damals geriet der Zeitplan völlig aus dem Ruder, bis zwei Uhr nachts saßen die Gäste im Saal und warteten auf den letzten Gang. Heute ist das anders. Fertig. Die Kellner klatschen sich nach neun Stunden Service gegenseitig in die Hände. Frau Kuttenkeuler schaut ziemlich zufrieden. „Das war ein guter Abend“, sagt sie. „Es passiert ja immer Unvorhergesehenes, aber wir haben Lösungen gefunden.“ Und, fast noch wichtiger: Der Zeitplan wurde eingehalten.
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