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Aufstellungsarbeit in Kombination mit Physiotherapie
Schlafstörungen und übergroße Trennungsängste bei einem dreijährigen
Kind
Ich bin hauptberuflich Physiotherapeutin und komme hier mit vielerlei Menschen und deren
Schicksalen, Krankheiten und Leiden in Berührung. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen, eines
interreligiösen Theologiestudiums und meines langjährigen buddhistischen Übungswegs wurde mir
mehr und mehr die Unterstützung der hilfesuchenden Menschen auf der geistigen Ebene wichtig. In
der Aufstellungsarbeit fand ich schließlich eine sinnvolle Ergänzung meiner bisherigen
therapeutischen Möglichkeiten.
Eines Tages erzählte mir eine Patientin während der Behandlung von ihrem dreijährigen Sohn, der
aufgrund großer Ängste nachts einfach nicht schlafen konnte. Ihr persönlich machte diese Situation
auch immer mehr zu schaffen, nicht zuletzt, weil sie bereits seit Jahren nicht mehr durchschlafen
konnte. Der Junge war mittels eines Notkaiserschnittes entbunden worden. Diese bedrohliche
Geburtssituation hatte ihn und sein Bindungsverhalten tief geprägt.
Nach diesen Informationen kam mir in den Sinn, dass eine Aufstellungsarbeit beiden, dem Jungen
und seiner Mutter, helfen könnte. Da letztere allmählich ratlos war und sie darüber hinaus bereits
von der segensreichen Wirkung der Aufstellungsarbeit gehört hatte, war sie sogleich mit meinem
Vorschlag einverstanden, die Situation des Kindes in einer Aufstellung anzuschauen. Wir
vereinbarten einen Termin.
Ich persönlich repräsentierte dann in der Aufstellung stellvertretend den Jungen während seiner
Geburt und seine Mutter repräsentierte sich selbst. Ich begann mich, von den Körperbewegungen
her deutlich für mich erkennbar , bis circa zum Ende der zweiten Geburtsphase in den Geburtskanal
einzudrehen, bis ich plötzlich mit dem Kopf an der Wand im Raum anstand und nicht mehr
weiterkonnte in der Bewegung. Die Mutter meinte, hier wäre ihr Sohn auch tatsächlich bei der
Geburt steckengeblieben und durch die daraus resultierende Enge und die auf sie folgende
Sauerstoffunterversorgung in größte Not gerate. Ein Notkaiserschnitt musste erfolgen, um dem
Kind das Leben zu retten. Die Mutter hatte dabei massive Angst um ihr Kind, welches zusätzlich
augenblicklich nach der Geburt zum Zwecke intensiver medizinischer Untersuchungen von ihr
weggenommen wurde.
So konnte weder der zur Auflösung des Geburtstraumas so wichtige Körperkontakt zwischen Mutter
und Kind hergestellt werden noch sich die durch das Halten des Kindes nach der Geburt
entstehende nötige Bindung zwischen den beiden aufbauen. Beides wäre jedoch für ein
vertrauensvolles Ankommen des Babys nach dieser stressreichen und bedrohlichen
Geburtserfahrung außerordentlich wichtig gewesen. Stattdessen blieb der Schockzustand im Körper
und im Bewusstsein von Mutter und Kind gefangen und wurde beim Kind im weiteren Verlauf seines
Lebens bereits durch, wenn auch noch so kurze, völlig alltägliche "Trennungssituationen" wieder
augenblicklich reaktiviert. Das ging soweit, dass ihm bereits das Spielen im Nebenzimmer bei
geschlossener Tür nicht ohne große Ängste möglich war und auch die Mutter erlebte in diesen
Situationen große Sorge um ihn.
In meiner Aufstellungsarbeit arbeite ich manchmal zusätzlich mit Ressourcen. In diesem Fall stellte
ich einen Platzhalter, ein Gleichgewichtspad, welches in der Praxis herumlag, für „Das, was damals
gefehlt hat“ neben das Kind und die Mutter. Der kleine Junge, um den es in dieser Aufstellung ging,
flitzte bis zu diesem Augenblick während des gesamten Aufstellungsgeschehens zwischen uns im
Raum herum, warf ab und zu einen Blick auf uns und war dann wieder weg. Als ich nun besagte
Ressource in die Aufstellung mit herein nahm, kam er plötzlich mit drei weiteren Pads angelaufen
und legte diese auf den ersten Platzhalter drauf. Uns blieb die Spucke weg. Soviel hatte gefehlt,
und der Kleine wusste es ganz genau und fügte es wie selbstverständlich hinzu.
Seit dieser Aufstellung schläft der Junge durch, außer er ist mal krank. Ein ganz großer Teil jenes
Stresses in seinem Körper, entstanden durch die Todesangst währen seiner Geburt und die
zusätzliche schmerzhafte frühe Trennung von der Mutter konnte sich in der Aufstellung nachträglich
in den Armen seiner Mutter lösen. Heute weiß er und ist sich dessen sicher, dass er seine Mutter
immer wieder vorfinden wird, auch wenn er sich von ihr oder sie sich von ihm wegbewegt oder
wenn er schlafen gelegt wird. Seine übersteigerten Ängste sind vorüber.
Systemische Unterstützung bei der Behandlung eines schwerstkranken
Jungen
Ich arbeite sehr viel mit Kindern, oft auch mit schwerkranken, die ich mitunter bis zu ihrem Tod im
Hausbesuch begleite. Mir stellt sich nie die Frage, ob meine Arbeit in diesen „hoffnungslosen“ Fällen
sinnvoll ist. Für mich ist jedes Leben lebenswert. In einem Fall jedoch haderte ich immer wieder mit
mir, weil ich einfach nicht sicher war, ob ich dem Kind nicht mehr Schmerzen zufügen würde, als ich
ihm letztlich helfen konnte. Es handelte sich hier um einen zweijährigen Jungen, der an Morbus
Pompe litt, einer äußerst seltenen Stoffwechselerkrankung (5 von 100.000), bei der
Mehrfachzucker (Stärke) nicht in Einfachzucker gespalten und somit auch nicht in der Muskelzelle
verbrannt werden kann, sondern sich stattdessen in die Zellmembranen einlagert. Als Folge davon
zerreißen die Zellmembranen, was wiederum zu einer fortschreitenden Lähmung und Schwächung
der Muskulatur führt.
Außerdem führt die Erkrankung zu einer frühzeitigen, ausgeprägten Osteoporose, was bei dem
Jungen zur Folge hatte, dass ihm z.B. einmal bei einer ärztlichen Untersuchung der
Oberschenkelknochen gebrochen wurde und kurze Zeit darauf, bei der Pflege, das andere Bein.
Aufgrund der Lähmung der Atemmuskulatur wurde er bereits künstlich beatmet und hatte
zusätzlich schwere Herzrhythmusstörungen. Ich war mir, wie bereits erwähnt, nie sicher, ob ich ihm
mit meiner Arbeit eine Hilfe war oder ob er unter meiner, wenn auch noch so vorsichtig
ausgeführten, Mobilisation seiner Gelenke oder anderen von mir durchgeführten Maßnahmen nicht
zu sehr leiden musste. Andererseits war er jedoch so verschleimt, dass eine regelmäßige
Atemtherapie in seinem Fall ohnehin unumgänglich war. So oder so, er ließ mich nach jedem
Besuch bei ihm sehr nachdenklich zurück.
Nach langer Zeit, in der ich Jahre in Köln und Vorarlberg gelebt habe, entschloss ich mich wieder
einmal, an einem Aufstellungswochenende bei Frau Dr. Starflinger teilzunehmen. An besagtem
Wochenende kam ich in die Rolle eines behinderten Kindes, welches im Rahmen des
Euthanasieprogramms der Nazis getötet worden war. Ich lag, stellvertretend für dieses ermordete
Kind, in den Armen "meiner" Mutter, voller Verzweiflung, voller Schmerz darüber, nicht leben zu
dürfen. Es war unbeschreiblich. Ich kann dieses Gefühl kaum ausdrücken. Ich wollte nur leben, nur
bei meiner Mutter sein, ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Als ich nach diesem
Wochenende nach Hause kam, hatte ich plötzlich die Gewissheit: Egal, wie schwer krank mein
kleiner Patient war und welche Schmerzen er auch haben sollte, es geht nichts über das Glück zu
leben und sich von der eigenen Mutter geliebt und gehalten zu fühlen. Die ihm noch verbleibende
Zeit fuhr ich regelmäßig zu dem kranken Jungen, bis er im Alter von knapp drei Jahren starb, bis
einen Tag vor seinem Tod, jetzt in der Gewissheit, das Richtige zu tun.
Es gäbe aus meiner Praxis noch mehrere solcher Beispiele, wie für meine Patienten durch
Systemische Denkansätze zusätzliche Erleichterung in schweren Krankheitsfällen möglich wurde.
Ich behaupte nicht, dass die Aufstellungsarbeit wichtiger wäre als die Reihe anderer großartiger
Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen, um hilfesuchende Menschen durch meine Arbeit zu
unterstützen. Sie eröffnet mir jedoch einen einmaligen Zugang zum Leben und einen Einblick in
systemische Zusammenhänge, die mir und meinen PatientInnen auf andere Art und Weise nicht
zugänglich und sichtbar gemacht werden können. Und sie setzt eine spirituelle Kraft frei, weit
jenseits von Esoterik, die mich in die Tiefe führt und mich demütig macht. Demütig gegenüber der
erkennbar werdenden Größe des Lebens und demütig gegenüber der in der Aufstellungsarbeit
sichtbar und fühlbar werdenden tiefen Liebe der Menschen zu jenen, die ihnen nahe stehen und mit
denen sie tief verbunden sind.
Andrea Sturm, MAS
Physiotherapeutin, Autorin und interreligiöse Theologin
Johann-Baptist-Wichtlhuberstraße 2
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