Stadt Ulm Stadthaus „Cross Dressing“ Rede von Wiebke Ratzeburg, Kuratorin der Ausstellung, zur Eröffnung am 20.3.2016 Der Titel der Ausstellung lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen: der englische Begriff Cross Dressing – das Tragen der Kleidung des jeweils anderen Geschlechts – beinhaltet mit dem „Crossing“ die Grenzüberschreitung, die eine zentrale Rolle spielt und den „Kleiderrollenwechsel“ bis heute spannend und relevant macht. Mich beschäftigt das Thema der Geschlechterrollen, des Rollenwechsels, der Grenzüberschreitung zwischen männlich und weiblich, schon seit vielen Jahren – schon seit meinem Studium der Kunstgeschichte in den 1990er Jahre in Berlin. Damals war die Theorie, dass es einen Unterschied zwischen dem biologischen und dem kulturellen Geschlecht gibt, neu und aufregend – die amerikanische Philosophin Judith Butler verbreitete mit ihrem Buch GENDER TROUBLE diese Gedanken unter den deutschen Intellektuellen und speziell bei den Feministinnen, zu denen ich mich bis heute zähle – auch wenn sich der Begriff heute schon etwas altertümlich anhört. Aber nicht nur intellektuell, sondern auch ganz persönlich war diese Theorie des „Unbehagens der Geschlechter“ (dt. Übersetzung des Buchtitels) für mich ein Befreiungsschlag. Endlich gab es eine philosophische Erklärung dafür, warum ich mich nicht eins fühlte mit vielen Aspekten der mir als Frau zugeschriebenen Rollenmuster. Das biologische Geschlecht ist, mehr oder weniger stark ausgeprägt, angeboren Geschlechterrollen sind es nicht. Sie sind erlernt, sie werden durch Nachahmung, gesellschaftliche Regeln und Tabus in einem langen Prozess eingeübt. Und zu diesen eingeübten Kulturen gehören auch die Regeln der Kleidung. Die Tatsache, dass in unterschiedlichen Ländern, Kulturen und vor allem Epochen jeweils andere Verhaltens- und Rollenmuster und auch Kleider als männlich oder weiblich gelten, beweist wie sehr die jeweiligen Gesellschaftsordnungen diese Rollen prägen. Irgendwann sind bei den meisten Menschen diese Regeln dann so verinnerlicht, dass der Einzelne sie nur noch selten spürt – oder wenn er sie spürt, dann nur noch als persönliches Problem. Denn sicherlich jeder hier im Raum kennt das Gefühl des persönlichen Ungenügens oder gar Scheiterns - doch kein „richtiger Mann“ oder keine „richtige Frau“ zu sein. Die Verknüpfung der Geschlechterrollen mit sexuellem Begehren und sexueller Orientierung, gesellschaftlichen Tabus und nicht zuletzt mit Fragen der Macht und der gesellschaftlichen Stellung machen diesen Bereich zu einer umkämpften und heiklen Zone. -2- Deshalb ist das Cross Dressing auch keine karnevaleske Spielerei – obwohl es natürlich im Karneval als der Zeit der erlaubten Grenzüberschreitung seinen festen Platz hat – sondern vielmehr oft ein provozierender Akt, vor allem wenn er in der Öffentlichkeit vollzogen wird. Auf Cross Dressing wird in unserer Gesellschaft ganz unterschiedlich reagiert und es gibt vielfältige Motivationen, warum eine Person zum/r Cross Dresser*in wird. Dieser, insbesondere heute existierenden, Vielfalt der Strategien und Wirkungen von Cross Dressing nachzuspüren, versuchen wir mit dieser Ausstellung. Was sind die Motivationen bzw. die künstlerischen Strategien der Cross Dresser*Innen bzw. der sie darstellenden Fotograf*innen? Diese sind je nach Geschlecht, sexueller Orientierung oder Fragestellung der Fotograf*innen sehr unterschiedlich. Eine sehr alte Tradition hat das Cross Dressing als eine vollständige Annahme einer Männerrolle durch eine Frau. Da die Männerrolle in traditionell patriarchalen Gesellschaften viel größere Handlungsspielräume ermöglicht – oder auch vor Männergewalt gegen Frauen schützt, sind schon für das Mittelalter Fälle von Frauen dokumentiert, die als Männer lebten und agierten – allerdings als komplette Verwandlungen, die nicht entdeckt werden durften: sie kennen sicherlich die Seeräubergeschichten oder auch die von Soldatinnen Jean D’Arc sei hier als literarische Figur genannt. Solch eine vollständige Rollenübernahme durch Frauen dokumentiert die Fotografin Pepa Hristova in ihrer Arbeit Sworn Virgins. In einer entlegenen Region Albaniens hat sie Frauen getroffen, die als Männer mit allen Rechten und Pflichten leben, wenn sie sich an dafür vorgesehene Traditionen halten. Eine dieser Vorschriften ist, dass sie Jungfräulichkeit schwören müssen und dass dieser Schwur sie bis an ihr Lebensende bindet. Dieser Rollenwechsel wird dann notwendig, wenn der Familie ein männliches Oberhaupt fehlt. Die Frauen übernehmen diese Rolle zu sehr unterschiedlichen Zeiten in ihrem Leben, teilweise schon ab ihrer Geburt, teilweise erst später. Auch der Rollenwechsel durch Cross Dressing von Mann zu Frau hat eine lange Tradition. Angedeutet wird diese in der Ausstellung mit einigen historischen Fotografien von Damenimitatoren (2. OG und Vitrine“), die uns das Schwule Museum* Berlin freundlicher Weise zur Verfügung gestellt hat. Sie hatten ihre Auftritte auf Theaterbühnen und in Varietés und waren um 1900 sehr beliebt. In dieser Tradition bewegt sich auch die DRAG QUEEN Kultur, die in enger Beziehung zur Emanzipationsbewegung schwuler Männer seit den 1950er Jahren steht. Eine wichtige Figur dieser Bewegung in den USA war der Schauspieler, Transvestit und Schwulenaktivist Mario Montez, den die Berliner Fotografin Annette Frick kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 in Berlin porträtierte – die Bilder sehen Sie im 2. Stock – hier ist das Cross Dressing weniger Travestie und Show, als vielmehr eine Form des Ausdrucks der eigenen Identität. In den Fotografien von Annette Frick geht es nicht um die perfekte Inszenierung, sondern um das Sichtbarmachen des Prozesses der Inszenierung und Verwandlung - und vor allem um die Persönlichkeiten hinter diesen Inszenierungen. Conchita Wurst – in unserer Ausstellung von dem Wiener Fotografen Reiner Riedler porträtiert – steht an einem Wendepunkt, was das Cross Dressing angeht – denn Sie vollzieht diese Wandlung nicht mehr vollständig. Sie bleibt durch ihren Bart immer als Mann erkennbar. -3- Diese Brechung vollzieht der Fotograf auch in seiner Inszenierung nach: Conchita Wurst ist in perfekter Aufmachung zu sehen – aber das Setting in einem Bürogebäude widerspricht diesem Glamour (und schauen Sie sich bei Gelegenheit einmal das Mikrofon genauer an). Mit Conchita Wurst wird deutlich, dass beim Cross Dressing heute Brüche und Zwischenzustände in der Öffentlichkeit zeigbar sind. Damit heben sie sich deutlich ab von Travestie-Künstlern wie „Mary“, die eine perfekte, glatte Weiblichkeit feierten, die sich in ihrer Übertreibung jenseits der realen Weiblichkeit bewegte. Feministinnen kritisierten diese lange als affirmativ, weil sie die hergebrachten Rollenclichees nicht in Frage stellte, sondern sie vielmehr in „Reinform“ zeigte und zu zementierten schien. Annette Frickes Fotografien der beiden Berliner Drag Queens JUWELIA UND ZSAZSA zeigen die moderne Gebrochenheit und den Schwebezustand zwischen den Geschlechtern. JUWELIA wird in einer Serie im Prozess ihrer Verwandlung von Mann zu Frau gezeigt, aber es entsteht kein Gegensatz zwischen den Rollen, es bleibt immer die gleiche Person. Und auch bei der androgynen ZSAZSA ist es so: sie wirkt, nur mit femininen Strümpfen bekleidet und sonst nackt und dadurch sichtbar als biologischer Mann erkennbar, sehr feminin. Annette Frick steht in engem Kontakt zu den Porträtierten, lässt sie in einem kurzen Film über sich sprechen und zeigt sehr respektvoll, wie die beiden Cross Dressing nutzen, um ihr Lebensgefühl jenseits festgelegter Geschlechterrollen auszudrücken. Auch die von Klaus G. Kohn porträtierten Menschen bewegen sich jenseits der konventionellen Geschlechterrollen. Einerseits isoliert der Fotograf sie, in dem er sie in seine Box stellt, andererseits wirken sie in ihrer alltäglichen Erscheinung ganz eng mit ihrem realen Leben verbunden. Sie stehen Mittendrin – so nennt der Fotograf diese Serie – aber der Betrachter weiß, dass sie in seinen Augen und in den Augen der Gesellschaft eher am Rand stehen - weil sie so sind, wie sie sind. Dass der Rollenwechsel Spaß machen kann, zeigt Annette Frick in ihren Bildern von liebevoll inszenierten Drag Kings – den Kings of Berlin, die sie in den Nuller Jahren in Berlin auf ihren Partys und in ihre Clubs begleitete. (2. OG) En detail lässt sich die Verwandlung in einen "king_" beziehungsweise die Erinnerung an die Ausgangssituation in dem Kunstfilm von Iris Segundo beobachten (2.OG, am Anfang der Ausstellung). Die aus Madrid stammende, heute in Berlin lebende Filmemacherin und Sozialpädagogin hat fünf Jahre lang in Ulm gearbeitet. Der Spanische Fotograf Jon Uriarte (3. OG) und die Kanadische Bloggerin und Fotografin Hana Pesut experimentieren mit der Inszenierung von Cross Dressing mit ganz anderen Fragestellungen: Hana Pesut fordert Hetero-Paare, die sie bei Ihren Reisen auf der ganzen Welt einfach auf der Straße anspricht, auf – für ihr Projekt Switcheroo die Kleider zu tauschen (2. OG). Was beim Betrachten der Bilder dann in unseren Köpfen passiert ist interessant: die Frauen wirken wenig spektakulär, die Männer jedoch geben Anlass zum Lachen – ein Mann in Frauenkleidung ist auch heute noch komisch – oder sogar lächerlich? Hier zeigt sich eine immer noch existierende Hierarchie: Männerkleidung erscheint seriös und neutral, das Tragen von Frauenkleidung stellt eine Degradierung der Männlichkeit war. -4- Jon Uriarte lässt in seiner Inszenierung nur die Männer auftreten – allerdings auch in der Kleidung ihrer Frau oder Freundin und in der jeweils gemeinsamen Wohnung. Er nennt diese Serie „Men under the influence“ Also: „Männer unter dem Einfluss“. Der Künstler stellt in diesen –wie ich finde wenig lustigen – sondern eher melancholischen Inszenierungen, die Frage nach der zeitgenössischen Identität von heterosexuellen Männern in Paarbeziehungen. Um Beziehungsarbeit und Aufarbeitung geht es bei der letzten Arbeit, die ich ihnen auch noch kurz vorstellen möchte: Ingo Taubhorn, der als Fotograf startete und mittlerweile das Haus der Fotografie in den Deichtorhallen leitet, setzt sich in der Arbeit „Die Kleidung meiner Mutter“ mit seiner kleinbürgerlichen Herkunft auseinander. Es ist aber auch eine Befragung seiner Geschlechtsidentität, der Mutter-Sohn Beziehung und seines Verhältnisses zu seiner Mutter, die er erreicht, in dem er sich ihr – durch das Tragen ihrer Kleidung – anverwandelt. Er schlüpft - ganz wörtlich gesprochen – in ihre Kleider und in ihre Rolle. Cross Dressing: eine Grenzüberschreitung, die beim Betrachten der hier ausgestellten Fotografien hoffentlich viele Denkanstöße gibt. In diesem Sinne viel Spaß beim Anschauen der Bilder!
© Copyright 2024 ExpyDoc