- Lernhelfer

Gerrit Engelke
Texte
Kriegstagebuch Somme (1916)
Oktober 1916
1
Qualmschwarze Nacht. Stolpernd, fallend, wieder aufstehend keuchen
wir schweißwarm und apathisch nach vorn. Erschöpft von fünf Stunden
Marsch. Gepäck für die neue, außerordentliche Stellung schwerer, wenn
auch praktischer verstaut, als sonst. Fettigkeiten, Mineralwasser, Tabak
und Extraportionen von Patronen haben wir mit. Wir gehen im
Gänsemarsch. Vorsichtig geht ein Geländekundiger führend voran.
Durch Granatlöcher, Granatlöchern ausbiegend, hin und wieder über
Tote. Den Löchern nach scheint's eine böse Gegend hier zu sein. Wie
mag der erste Graben aussehen? Die Allwissenden sprachen nur von
Trichtern. immer wieder Rufe von hinten: Kurztreten! Sie können nicht
mehr. Soll die Linie nicht abreißen, muß die Spitze schon verhalten.
Abirren einzelner wäre fast so gut wie tödlich. Denn die Zone hinterm
Graben ist, wie wir wissen, immer die am meisten von Geschossen
bestreute. Heute ist's wohl ausnahmsweise ruhig.
Da, ist endlich der Graben. Schwarze, kaum wahrnehmbare Flüsterndes
Anrufen, ebenso von uns die Antwort. Wir kauern uns Mann neben
Mann, denn Unterstände scheinen nicht da zu sein. Käme erst der
Morgen! Fahle Helligkeit schwillt zögernd. Deutlicher tauchen
Herbstfarben, Geländewellen, und dann halblinks vor uns die
angefressenen Häuser des verlorengegangenen Le Sar aus den
Schwälen der englischen Gräben, etwa neunhundert Meter entfernt,
kaum zu erkennen; zwischen ihnen und dem unseren eine sanfte Mulde.
Grau begrast. Es regnet. Erst Tropfen, dann stetiges Gießen ohne
Aufhören. jeder hockt für sich, Zeltbahn über den Kopf gezogen,
wortlos. Nach fünf Stunden sind Zeltbahn, Mantel, Rock, Hemd
durchweicht. Weiterhin liegt im Schlamm unser Spielmann Becker,
vollkommen betrunken und klappernd vor Frost. Doch er schnarcht. Die
Grabenwände kommen ins Rutschen. Immer öfter fällt klatschend ein
Lehmbrocken in die Pfütze Neben mir sehe ich ein dunkles Loch, eine
hinabführende Treppe mit anschließendem Bunker. Schwarz, feucht
und jedenfalls verlaust Platz für drei Mann nur. Die Sanitäter, die darin
liegen, wollen mich nicht hineinlassen. Ich setze mich wieder, breche
1
eine Fleischbüchse auf, die vor mir im Schlamm lag, und fange an zu
kauen. Einen halben Tag noch regnet's; dann ruft man mich aus dem
Stollenloch. Da der Eingang schon ganz zugeschlammt, krieche ich auf
dem Bauche hinein. Ich schlief wie ein Tier.
2
»Alles raus! Feind greift an!« brüllt einer in unseren Keller. Schon wieder
fort. Es mußte gegen Mittag sein. Helm aufgestürzt, Gewehr gegriffen;
beim Hinaufstolpern das ekelhafte Gefühl‐. wenn sie dir nur nicht schon
auf den Nacken springen. Beim Herauskommen plötzlich auf mich
einbrechend: Trommelbrandung, Paukenchaos, tausend Sturmorgeln,
tausend polternde Wagen – eine einzige Brandung von Wirbeln;
aufwölkende Rauchfontänen bis weithin. Mitten in allem: wir. Wir fühlen
nicht mehr, daß wir frieren daß wir läusevoll, daß wir naß bis auf die
Knochen, fühlen nur dies wahnsinnige Unverständliche um uns brüllen.
Zittern springt mir in die Knie und Handgelenke.
Nur kurze Zeit. Ich habe meine Mütze mit einem Haufen Zigarren darin
neben mich gelegt. Ich stecke mir eine an. Wunder (kraft dieser
Ablenkung), das innere Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Fünf Meter
links von mir einer der kleinsten und frechmäuligsten Berliner Rekruten
ohrfeigte ihn einmal gründlich an der Yser, es nicht lassen konnte, mich
dauernd anzustänkern,sehe ich, er zittert. Ich schichte Handgranaten
vor mir auf. Für jeden Fall. Der Berliner schielt herüber; und siehe da, er
folgt meinem Beispiel: legt Handgranaten zurecht steckt eine Zigarre an.
(Das Beruhigungsmittel.) Dauert nicht lange, so rauchen sie alle, die
Behelmten, soweit ich sehe: fünf Mann links, zehn Mann rechts von mir.
Ein neuer Klang wird in dem Brausen hörbar – da: fünf, fünfzehn,
zwanzig von den großen Vickers‐Doppeldeckern über unsere Linie.
Erkundend und Artilleriefeuer lenkend. »Fliegerdeckung.« Alles preßt
sich reglos gegen die Lehmwand. Ein Flieger flankiert mit seinem
Maschinengewehr aus hundert Meter Höhe unseren Graben. Ebenso
kämmt ein MG vom feindlichen Graben her unsere Brustwehr ab, um
uns am Ausguck zu hindern. ich gibt einer aus dem Fliegerschwarm
Hupensignale, genau wie wenn ein Auto durch die Stadt saust. Das war
das Signal für die Kanadier. überall rücken sie in Gänsemarschlinien über
das Zwischengelände. An unsere Kompanie kommen sie jedoch nicht
ganz heran, sie halten weiter rechts.
»Mensch, sind Sie verrückt?« schreit mich der Kompanieführer an, »das
sind ja unsere Leute!« Wir stutzen.
2
»Nee, nee, dat sind de Tommys!« meint einer, dann mehrere. Wir
schießen weiter nach halbrechts, Visier 750. Da seht, der alte Peter
Carsten, Spielmann, Holsteiner: Handgranaten in den Fäusten, springt
wie besessen oben auf Deckung und ruft: »Nu man fix op to!«
Mit einem Beckenschuß kugelt er wieder in den Graben, kreidebleich.
Leider sind unsere beiden MG versandet, sonst könnten sie die nächsten
Schützenlinien bequem wegrasseln.
Nun kommt auch von unserer II. Kompanie rechts eine Handvoll
Verwundete und Geflüchtete herbeigestürzt. Die drei anderen
Kompanien unseres Bataillons sind zusammengeschossen, die Reste
gefangen. Weithin im rauchenden Gelände sehen wir Trupps mit
erhobenen Armen auf die englische Stellung zulaufen. Es sind die
gefangenen Unseren. Sie geraten in unser eigenes Sperrfeuer, das vor
dem feindlichen Graben hämmert. Am rechten Flügel unserer Kompanie
ist der Angriff abgefangen. Zwei Gruppen liegen im rechten Winkel zu
unserem Graben ausgeschwärmt in Granatlöchern des Hintergeländes.
Abgeriegelt! An ein Wiedernehmen des verlorenen Grabens ist nicht zu
denken. Das Artilleriefeuer ist zu stark massiert und verflucht gut
geleitet.
Außerdem
haben
die
Kanadier
einen
Haufen
Maschinengewehre in unsere Flanke eingebaut. Da heißt es: Kopf
wegstecken!
Ich drehe mich zufällig um sehe von hinten Leute auf uns zulaufen. Ich
hebe den Arm: Hier ist Verstärkung nötig! Ich sehe einige vor
heranheulenden Granaten in die Löcher plumpsen. Mancher kommt
nicht wieder hoch. Jetzt springen mehrere Männer, ein Leutnant, zu mir
in den Graben. Sie keuchen furchtbar. Die erste Frage des Leutnants:
»Sind sie denn nicht wieder rauszuschmeißen?« Ich schüttelte den Kopf.
Er stürmt nach rechts weiter. Den Nis Surballe (von der dänischen
Grenze) ziehe ich neben mich, er hat einen Schuß durch den
Oberschenkel. Den Schmerz verbeißend, sagt er keinen Mucks.
Gemach schwillt das Feuer ab. Es dunkelt. Nun es stiller geworden,
hören wir vor und hinter uns das herzquälende Hilfeschreien der
Verwundeten. Es ist keine Hilfe möglich. Man würde sich verirren im
Gelände und von den immer wieder tackenden Maschinengewehren
aufs Korn genommen. Dazu sind unsere Krankenträger sämtlich
verwundet. Wir sind alle müde zum Umfallen, aber an Schlaf ist nicht zu
denken. Die ganze Nacht quellen die Schreie aus den Granatlöchern.
Gegen Morgen verstummen sie mehr und mehr. Wir nicken im Stehen
ein wenig.
3
Merkwürdig ruhiger Morgen nach der Schlächterei. Wie
selbstverständlich gehen, nur etwa zweihundert Meter von mir
entfernt, sehnige, lange kanadische Sanitäter in Mantel und Stahlhelm
im Vorfeld und buddeln ihre Toten an Ort und Stelle ein. Sie haben eine
große Rote‐Kreuz‐Flagge neben sich in den Boden gepflanzt. Es fällt
kein Schuß. Wieder und wieder tragen die Kanadier Verwundete
huckepack in ihre Gräben. Unsere Krankenträger suchen ebenfalls das
Feld ab. Jakob Lorenzen, Hannes Meier, Müller, Julius Bendixen und
zwei andere, die wir schon vermißten, wurden gefunden, alle von einer
Granate zerschlagen. Sie wurden in einem Granatloche beerdigt.
Den Tag über ist lange, lange Ruhepause.
3
Wir hatten ihn nur ein‐ oder zweimal im Reservegraben gesehen. Das
hatte genügt, ihm den Namen »Zieten« bei uns zu verschaffen. Das
heißt, er hatte mit dem alten Zieten nur den Reiterberuf gemein. Sonst
war er wohl in allem sein Gegenteil. Blasiert, etwas morsch in den
Knochen, Monokel eingeklemmt, die Stimme näselnd, monoton: der
richtige Husarenrittmeister aus Friedenszeit. Er imponierte mir mit
seiner aristokratischen Weltgelassenheit. Denn so wie er sich hier in
unserem urweltlichen Graben zeigte, hätte er sich kaum besser in einem
Salon bewegen können. Nur daß er den Stahlhelm trug: Er müßte nach
vorn, denn die meisten Kompanieführer seien gefallen, er müßte vorn
das Bataillon übernehmen, hatte er zum Regimentskommandeur
telefoniert. So war er denn zu uns gekommen. Alle Achtung! wo sich die
Bataillonsführer doch sonst nicht in vorderster Linie aufzuhalten haben.
Eines Morgens mußte ich als Gefechtsordonnanz ihn mit seinem
Adjutanten wieder zum Bataillonsgefechtsstand zurückbringen. Nun
hatte ich den Weg bei Nacht und dickstem Nebel schon dutzendmal
gemacht; die Nase wie ein Spürhund auf den naßblankernden,
getretenen Pfad geheftet, hier an einem Blindgänger, einem
besonderen Granatloch, dort an dem auf der Seite liegenden
schwarzlockigen Hochländer mich orientierend – aber nun:
lichtfressende, zertrichterte gelbe Lehmwüste vor mir. Kein Gras, kein
Pfad zu sehen. Da kannte ich mich nicht aus. Nur keine Schwäche
zeigen, dachte ich, die Sache wird schon gut gehen. Also turnten wir
drauflos. Immer an Granatlöchern vorbei, die mit blutigem Regenwasser
gefüllt waren.
4
»Wir müssen uns mehr rechts halten«, sage ich, einem unbestimmten
Gefühl nachgebend. Doch bald standen wir ratlos da. Wohin nun? Ein
Glück nur, daß der Engländer nicht schoß.
»Sie Ochse! Sie Esel!« bricht da unser Zieten los. »Führen uns hier in die
Irre!« Ich stolpere unentwegt weiter, dauernd »Esel« und »Rind!« hinter
mir hörend.
»Sehen Sie nun, wo sie uns hingeführt haben?« – »Sehen Sie nun ein,
was Sie für ein Ochse sind?«
Ich, schuldbewußt: »Jawoll, Herr Rittmeister!«
»Ach, sein Sie ruhig«, versetzt er wieder näselnd, »ich mag gar nichts
von ihnen hören!«
Er wiederholte den Ochsen noch etlichemal. Da tauchten endlich in der
Ferne die Häusertrümmer von Pys auf! Und wir schlugen unsere
Richtung nach dort.
5
Tagebuchblätter aus dem Kriege
O heilige Notwendigkeit, Notwendigkeit auch dieser Schlachten
neunzehnhundertvierzehn. Wir waren in Gefahr, unsern innersten
Menschen zu verlieren; wir waren in Gefahr, im Materialismus zu
erstarren. Feuer und Metalle waren uns nichts, gewaltige Maschinen
wurden uns Spielzeuge in unseren Händen. Aber auch unsere Nerven
wurden Drähte, unser Blut eine chemische Flüssigkeit, unser ganzer
Körper eine exakt arbeitende Maschine und unser Herz ein wunderbar
komplizierter Mechanismus in dieser. Wir waren in Gefahr, unsere Seele
zu verlieren.
Wir haben kraft unserer Tüchtigkeit einen Aufschwung genommen wie
kein anderes Volk; wir haben mit unseren Konstruktionen den
Weltmarkt erobert. Doch was hülfe es dem Menschen, wenn er die
ganze Welt gewönne und er nähme Schaden an seiner Seele!
Und dann kam der Krieg, der unser aller Blut zusammengoß, der uns alle
zusammenwarf in Eines! Da schäumte unser Blutsaft wieder rot,
feuerflüssig, und unser Herz wurde heiß in Rotglut! Wir fühlten: Wir
haben wieder Seele. Und dann dieses: daß Einer für den Andern steht;
dies Eine, Größte: Einigkeit! Und Einigkeit ist Liebe. Liebe aber ist beides:
Leben und Seele!
Wir verloren die Welt und die Seele. Aber in diesem segnenden Kampf
wollen wir wiedergewinnen die Welt und ganz unsere Seele! Schicksal,
heilige Notwendigkeit, Dank!
24.12.14
Das breite Volk ohne Führer ist ein Körper ohne Kopf. Instinktmäßig
fühlt das Volk dies und klammert sich daher an überlegene Hirne. Gut ist
es, wenn das Volk den weisen Führern und nicht den Verführern folgt.
Die ganz Großen aber ragen zu hoch aus der Erdsphäre in den
Sonnenäther, als daß das Volk sie ungeblendet und beizeiten erkennen
könnte. Es folgt ihnen immer zu spät. Nur durch die eingeborene
gesunde Stärke des Wachstums und der Lebendigkeit wird dieser
Mangel bis zu einem gewissen Grade nicht als solcher und notwendiger
fühlbar. Immer schweben die Großen ein Jahrhundert oder ein halbes im
Ungreifbaren der Zukunft, ehe das Volk sie erreicht und erkennt. Wohl
dem Volke, wenn es ihnen dann folgt, so gut es kann.
16.7.15
6
Alles in der Welt erhält sich aus Gegensätzlichkeit. Wir Deutschen haben
für alle Zukunft die unbedingte Aufgabe, gegen den Materialismus der
übrigen Völker unsere universale Geistigkeit in die Waagschale zu
werfen und so das kulturelle Gleichgewicht des höchsten Lebens zu
wahren.
3.10.15
Nach diesen vielen Monaten des Feldlebens empfindet der Dichter im
Heere den Krieg nicht mehr als Ausnahmezustand, sondern als den
gewöhnlichen. Durch die fortwährende Häufung und Folge von
militärtechnischen, strategischen, politischen, kulturellen, ethisch‐
moralischen Reizen stärkster und gröbster Art ist das
Gefühlsthermometer beharrend, unempfindsamer (unsentimen‐taler!)
geworden. Die Gefühlsüberstürzungen, die den gesteigerten Ausdruck
der Poetik hervorrufen, bleiben aus.
Die dichterische Zusammenfassung wird dann erst wieder eintreten,
wenn nach der Heimkehr in die Gleichgewichtsruhe des
Friedensrückwirkend der Krieg durch tiefst gefühlte Reflexion wieder
als das furchtbar Außergewöhnliche hinterherfällt.
4.11.15
Die Gestalter, von denen wir die wirkliche Zukunft deutscher Kunst
erhoffen, die Gestalter, über die wir uns, in ungeduldiger Verkennung
der Gegebenheiten, wundern, daß sie nicht gerade jetzt (in diesen
größten menschlichen und staatlichen Augenblicken) mit mächtig
redenden Dingen auf den öffentlichen Platz treten – die werden erst mit
dem Stoff (dem durch die Kriegsumwälzungen werden Neustoff des
Lebens) geboren. Ihre Jugend heißt: dieser Krieg.
10.11.15
Im großen und ganzen: das Volk bleibt, was es ist. Auch in diesem
Kriege. Doch das Große ist: daß es in den entscheidenden Momenten, zu
Hause in der Beschränkung vor dem Feinde im Angriff und im
selbstverständlichen Ertragen der Strapazen eine Weile riesig über sich
selbst hinauswächst!
Möge die Erinnerung daran ihm immer in den Fußsohlen bleiben.
13.11.15
Noch niemals haben sich die Männer des ganzen deutschen Volkes so
untereinander erkennen lernen können wie jetzt während des Krieges
draußen im Felde, alle in derselben Uniform. Und für die Kulturpolitiker,
für die schöpferischen Gestalter und Seelenforscher, die auch Soldaten
unter ihnen sind, gilt dies im höchsten und wichtigsten Sinne.
7
15.11.15
Unsere größte menschliche Aufgabe nach dem Kriege wird heißen:
Vergib deinem Feinde, der doch von der Schöpfung des Menschen her
dein Nächster auf Erden ist. Hat der Weltkrieg nicht uns alle so groß und
furchtbar getroffen, daß es uns aus gegenseitiger Schmerzerkenntnis
menschlich leicht sein müßte, zu neuem Verstehen die Hände zu
reichen?
2.1.16
Mit unserem jetzt kriegsmäßig uniformierten äußern hat sich auch unser
innerer Mensch (und wahrscheinlich nicht nur vorübergehend) unter
der Gewaltsamkeit der Zeitereignisse verändert. Unter anderem hat
auch unser Urteil in Dingen der Kunst, durch die Einwirkung des
äußersten Kampfes um Sein oder Nichtsein, eine Reinigung, eine
Höhung im Anspruch, eine richterliche Schärfung erfahren. Nicht mehr
wie früher duldet der kritische Geist in objektivster, scheidungsfreier
Gastfreundschaft alles mögliche künstliche Geschwätz und Gebild in der
Kunst, das sich fälschlich als solche ausgab. Es steht jetzt nur die eine
prüfende Frage den Werken der Künste gegenüber: Ja – oder nein,
Notwendigkeit oder Überflüssigkeit, und danach Liebgewinnung oder
Abstoßung. So wird, weil es Phrase oder Spielerei, das Kleine kleiner,
das Große aber größer wirken; denn wie sie das Kleine als nichtssagend
unbeachtet läßt, verlangt nur nach diesem die Sehnsucht (gerade in
diesen und durch diese kampfgroßen Zeiten des stürmenden Todes
wachgerufen und gefördert – nicht betäubt) – als nach einem
unwandelbar beruhenden Trost und Ausgleich und lenkenden Ziel zur
inneren Selbstbesinnung auf das Ideelle, das uns unsern Krieg
menschlich gestalten und ertragen helfen soll.
19.1.16
Weil auch die ergreifendste Dichtung immer begrifflicher, tatsächlicher,
mehr oder weniger vom Verstande mit zu erfassen ist, kann sie nie so
leicht und unmittelbar die tiefste Rührung, die Führung bis zu Tränen
auslösen wie die, aus dem dunkelsten, unbewußten Gefühl des
Schöpfers (Mittlers) heraufströmende und wieder zum Gefühl des
Hörers geheimnisvoll dringende Musik. –
Die Musik trifft ohne besondere Umstände sofort unser heiligstes
Wesen – unser Gefühlszentrum und ruft daher bei den Empfänglichen
die umfassendste innre, in gewissem Sinne religiöse Bewegtheit hervor.
15.2.16
8
Um wie viel mehr bestimmt doch das Weib die Lebensabschnitte, das
fortlaufende Dasein des Mannes. Die (scheinbar unterwürfige,
untergeordnete) Hingabe, Anschmiegsamkeit, Akklimatisation des
Weibes dem aus sich selbst schöpferischen Manne gegenüber sind doch
nur physisch bedingt (denn das Weib ist der Leib!): Eigenschaften,
Stadien. Des Mannes Leben aber ist der Weg von Schoß zu Schoß. Vom
rätselvollsten, heiligsten Schoß der Mutter zu dem Schoß des Weibes,
das alle seine Fülle, Sehnsucht, treibende Kraft und erkennenden Geist
geeignet unter der höchsten Lebensform Liebe empfängt – des Weibes,
das wieder Mutter, ihm Mutter seiner Kinder werden soll, in denen er
sich als in einem Ideal fortzuleben wünscht, denn sie sollen (in neuem
Körper, Fleisch von seinem Fleisch) seinen höchsten Wert erreichen und
darstellen.
27.2.16
Der Deutsche ist der Universalmensch. Sein Leben heißt: Kampf und
Arbeit und Verschmelzung idealen, naturalistischen, apollinischen und
dionysischen Geistes. In beiden erreicht er größte Wirkungen. Wird es
ihm gelingen (nachdem er den Höhepunkt seiner staatlichen und
geistigen Entwicklung überschritten), in einem letzten großen Klange
seine und seiner Wirkung Einheit, nämlich: vollkommene Mischung
konkreten und abstrakten Geistes, die gleicherweise national wie
weltlich ist, zu erreichen?
9.3.17
Das Lächeln aber ist göttlich. Kaninchen, Hund, Katze, Pferd: die Tiere
können nur auf unbeholfene und unvollkommene Art ein Wohlbefinden
ausdrücken. Uns aber, den Menschen ist es gegeben, gleich dem großen
Urvater, der sich unser erfreut, froh zu erstaunen über ihn, uns selbst
und die Welt mit glücklich geprägtem Gesicht. Wie das Lachen aus dem
Übermut oder der Dummheit des Fleisches ersteht, so das Lächeln allein
aus der Feinheit und Einfalt des Herzens – und es ist deshalb so
menschlich wie göttlich und schönster Ausdruck des dem Menschen
verliehenen Adels.
21.2.18
Eine Dichtung habe nicht nur redende Stimme, Gedanken, Idee –
sondern auch tragenden Körper, Fleisch und Bein, wodurch jenes erst in
plastische Wirksamkeit gesetzt wird. Je restloser sich beides
durchdringt, um so vollkommener ist die Dichtung als Kunstwerk an
sich. Erst nach dem Erfüllen dieser Grundbedingung kommt der
9
innewohnende Gehalt, Größe und Eigentümlichkeit der Idee oder
zusammenfassenden Anschauung zur Bedeutung.
Das Geheimnis dichterischen Schaffens besteht in dem, daß der Dichter
vermöge seiner Einfühlungsfähigkeit mehr unbewußt denn absichtlich
denselben Grad der rhythmischen Schwingungen erreicht, den die
dargestellten Dinge, also etwas eine Lokomotive, ein Baum, ein
menschliches Herz innehaben. So könnte es denn bei vollkommener
Übereinstimmung nicht möglich sein, daß um die Dinge geredet wird,
sondern daß sie aus sich selbst nach ihren eigenen Gesetzen gestaltet
werden.
Was dem gewöhnlichen Menschen hinter der auseinander‐strebenden
Vielgestaltigkeit des Seienden verborgen, in Wahrheit aber da ist, von
Anfang zu Anfang – bewirkt sich in jedem neuen Dichter immer wieder
neu: Die Einheit aus der Zusammenfassung der Dinge.
Soll der lebende und erlebende Dichter mensch welthingegeben der
vollkommene Idealist sein, so ist doch der Künstler und Könner in ihm
der reine Egoist, der alles, was er brauchen kann, in sich saugt und dem
dies Brauchbare, ob er will oder nicht, unter der Hand zu Form und
Gebild wird.
Je stärker in dem einzelnen die Lust und der Wille zum Leben herrschen,
je mehr, je liebevoller zieht ihn die Welt an sich, hält und erhält ihn; je
schwächer der Lebensimpuls im einzelnen ist, je wertloser ist er der
Erde, je gleichgültiger läßt die Erde ihn aus seiner Bahn fallen in das
Nichts.
Wirklich gut, stark und gerecht wird dieser unser Krieg nur vom besten
Teil des Volkes geführt; von dem Teil, der zu Friedenszeiten die
kulturelle Höhe unseres Volkes bedeutet. Das übrige Volk bleibt, wie es
ist; nur werden einige, die an den Grenzen schwankten, durch die
Begeisterung mit hinübergerissen in die gemeinsame Einordnung unter
ein höchstes Ziel. Aber das hoffen und glauben wir doch, daß jeder
wenigstens einen Augenblick über sich selbst hinauswuchs!
Auch die größten, politische Gebilde umstürzenden und erneuernden
Kriege, mögen sie auch für die teilhabenden Menschen noch so grausig,
ergreifend und heroisch bewegend sein, können keine Veränderung
oder Beeinflussung der Kunst bewirken. Dem unerschüttert zentralen
Quell‐ und Triebgeist alle Denk‐ und Bildkunst ist der Krieg nicht mehr
und nicht weniger Stoff wie jedes Ereignis der Natur, des einzelnen oder
der Tausenden von Menschen; sei es nun Weltuntergang,
Frühlingsblühen, Sturzflut, Mondaufgang oder Mord, Liebesnacht,
10
Hungersnot, Kuß, Revolution und umwälzende Erfindung im
Technischen. Alles dies zieht der Kunst‐, Vater‐ und Muttergeist mit stets
gleichem heißem Bemühen und regsamer beherrschender und
ordnender Würde an sich und in sich. So kann es sein, daß die durch den
vermittelnden dichter besungene Liebe zweier Menschen (die eigentlich
nur diese selbst angeht) den späteren Geschlechtern wertvoller und
herzerfassender ist als eine noch so große Historie vom Bruderkriege,
vom Weltkriege europäischer Völker.
Ist es eins, was der Kunstgeist bevorzugt, leidenschaftlich vor allem
andern zu halten sucht, so ist es allein nur, gebunden im Stoff oder frei
schwebend in eigener Glorie – das Göttliche.
Hast du schon Tote betrachtet? Nicht die, die friedlich und sauber in den
Betten den "zivilen" Tod gestorben sind, sondern die von Stahlsplittern
getroffenen, zerfetzten Leiber der jüngeren und älteren Männer, die in
dem Schützengraben der Verteidigung den barbarischsten Märtyrertod
erlitten; den Tod, vor allem der Worte vom "Heldentum" wie eine
theatralische Phrase verblassen. Ich meine auch nicht jene ersten Male,
da du erschüttert und aufgewühlt die toten Körper deiner Kameraden,
der jungen Männer, die aus dem Tor ihres aufgehenden Lebens, aus
bräutlichen oder Kindesarmen gerissen, mit flüchtigem Blicke streiftest,
ängstlich und schnell vorbeigehend, denn du fürchtetest dich vor
diesem Grausigen (und waren doch nicht mehr nicht weniger Menschen
gewesen als du, waren doch nur, was auch du sein wirst). Nein, wenn du
dich einigemal gezwungen hast, bei ihnen stehn zu bleiben, ihnen
gegenüber Verstörtheit verloren, und Festigkeit, so von einem in sich
selbst gleichgewichtigen Charakter kommt, gewonnen hast, mit
ruhigem, gleichsam vertraulichem Gefühl sie betrachtest – dann wirst du
dastehen und erkennen, daß in diesem wächsernen Gesicht, in diesen
steifen Fingergliedern, die die in Todeskrampf herausgerissenen
Grasbüschel noch umklammern, daß in diesem grün und lila verfärbten
und mit schwarzroten trockenen Blutkrusten überrieselten Brustkorb,
daß in diesem ganzen Leibe die Seele alles war. Die Seele, die das Leben
mit sich nahm.
Sinnend wirst du dastehn und nach einer Weile ernst und verwundert
lächeln über dies erstarrte, farbmüde und schmutzige Fleisch, über
diese große, grotesk verrenkte Puppe, über diese hölzern steife
Marionette (darin auch das herz nur ein toter fauler Klumpen ist), die
einst ein so glänzend konstruierter und tausendfältig funktionierender
Organismus war, der Mensch hieß.
11
An die Soldaten des großen Krieges
In Memoriam August Deppe
Herauf! aus Gräben, Lehmhöhlen, Betonkellern, Steinbrüchen!
Heraus aus Schlamm und Glut, Kalkstaub und Aasgerüchen!
Herbei! Kameraden! Denn von Front zu Front, von Feld zu Feld
Komme euch allen der neue Feiertag der Welt!
Stahlhelme ab, Mützen, Käppis! und fort die Gewehre!
Genug der blutbadenden Feindschaft und Mordehre!
Euch alle beschwör' ich bei eurer Heimat Weilern und Städten,
Den furchtbaren Samen des Hasses auszutreten, zu jäten,
Beschwöre euch bei eurer Liebe zur Schwester, zur Mutter, zum Kind,
Die allein euer narbiges Herz noch zum Singen stimmt.
Bei eurer Liebe zur Gattin – auch ich liebe ein Weib!
Bei eurer Liebe zur Mutter – auch mich trug ein Mutterleib!
Bei eurer Liebe zum Kinde – denn ich liebe die Kleinen!
Und die Häuser sind voll von Fluchen, Beten, Weinen!
Lagst du bei Ypern, dem zertrümmerten? Auch ich lag dort.
Bei Mihiel, dem verkümmerten? Ich war an diesem Ort.
Dixmuide, dem umschwemmten? Ich lag vor deiner Stirn,
In Höllenschluchten Verduns, wie du in Rauch und Klirrn,
Mit dir im Schnee vor Dünaburg, frierend, immer trüber,
An der leichenfressenden Somme lag ich dir gegenüber.
Ich lag dir gegenüber überall, doch wußtest du es nicht!
Feind an Feind, Mensch an Mensch und Leib an Leib, warm und dicht.
Ich war Soldat und Mann und Pflichterfüller, so wie du,
Dürstend, schlaflos, krank – auf Marsch und Posten immerzu.
Stündlich vom Tode umstürzt, umschrien, umdampft,
Stündlich an Heimat, Geliebte, Geburtsstadt gekrampft
Wie du und du und ihr alle. –
Reiß auf deinen Rock! Entblöße die Wölbung der Brust!
Ich sehe den Streifschuß von fünfzehn, die schorfige Krust,
Und da an der Stirn vernähten Schlitz vom Sturm bei Tahüre –
Doch daß du nicht denkst, ich heuchle, vergelt' ich mit gleicher Gebühr:
Ich öffne mein Hemd: hier ist noch die vielfarbige Narbe am Arm!
Der Brandstempel der Schlacht! von Sprung und Alarm,
Ein zärtliches Andenken lang nach dem Kriege.
12
Wie sind wir doch stolz unsrer Wunden! Stolz du der deinigen,
Doch nicht stolzer als ich auch der meinigen.
Du gabst nicht besseres Blut, und nicht rötere Kraft,
Und der gleiche zerhackte Sand trank unsern Saft! –
Zerschlug deinen Bruder der gräßliche Krach der Granate?
Fiel nicht dein Onkel, dein Vetter, dein Pate?
Liegt nicht der bärtige Vater verscharrt in der Kuhle?
Und dein Freund, dein lustiger Freund aus der Schule? –
Hermann und Fritz, meine Vettern, verströmten im Blute,
Und der hilfreiche Freund, der Jüngling, der blonde und gute.
Und zu Hause wartet sein Bett, und im ärmlichen Zimmer
Seit sechzehn, seit siebzehn die gramgraue Mutter noch immer.
Wo ist uns sein Kreuz und sein Grab! –
Franzose du, von Brest, Bordeaux, Garonne,
Ukrainer du, Kosak vom Ural, Dnjestr und Don,
Österreicher, Bulgare, Osmanen und Serben,
Ihr alle im rasenden Strudel von Tat und von Sterben –
Du Brite aus London, York, Manchester,
Soldat, Kamerad, in Wahrheit Mitmensch und Bester –
Amerikaner, aus den volkreichen Staaten der Freiheit:
Wirf ab: Sonderinteresse, Nationaldünkel und Zweiheit!
Warst du ein ehrlicher Feind, wirst du ein ehrlicher Freund.
Hier meine Hand, daß sich nun Hand in Hand zum Kreise binde
Und unser neuer Tag uns echt und menschlich finde.
Die Welt ist für euch alle groß und schön und schön!
Geht her! staunt auf! nach Schlacht und Blutgestöhn:
Wie grüne Meere frei in Horizonte fluten,
Wie Morgen, Abende in reiner Klarheit gluten,
Wie aus den Tälern sich Gebirge heben,
Wie Milliarden Wesen uns umbeben!
O, unser allerhöchstes Glück heißt: Leben! –
O, daß sich Bruder wirklich Bruder wieder nenne!
Daß Ost und West den gleichen Wert erkenne:
Daß wieder Freude in die Völker blitzt:
Und Mensch an Mensch zur Güte sich erhitzt!
13
Von Front zu Front und Feld zu Feld,
Laßt singen uns den Feiertag der neuen Welt!
Aus aller Brüsten dröhne eine Bebung:
Der Psalm des Friedens, der Versöhnung, der Erhebung!
Und das meerrauschende, dampfende Lied,
Das hinreißende, brüderumarmende,
Das wilde und heilig erbarmende
Der tausendfachen Liebe laut um alle Erden!
14
Sonne
Allmächtig prächtig Glutgestirn,
Überwältigend emporwirbelnd, aufdonnernd vor Licht über Wolkenfirn
In flutblau schäumende Himmelshallen,
Die aus unendlichem ewig herniederfallen:
Unter dir sind: Waldmeere, der Flüsse Geäder, Felsballen,
Und der grenzenlos hindunstende Tag
Von Anfang zu Anfang.
Erster Tag der Farnwälder und Saurier; ersten Blutes, Pulses Schlag,
Da aus der Mutter gewölbtem Leib ein Kind den Erdenodem trank!
Oh! wie da aus aller Runde orgelnd: Leben! Leben! sang –
Mächtig aufrauschten die Vaterstimmen der Fluten dem Gebärten,
Die grauen Ur‐Steingebirge schauerten in ihren Bärten,
Und Blüten, Blüten fielen tausendfroh aus Blumenhainen
Und ein kindlich Lallen und erhaben Weinen. – – –
Und regten sich tief unter deinem Feuerangesicht:
Der Heerscharen Gewimmel, Aufruhr und Kampfgericht,
Gelage bei Leichen, Sturzwassernot, Meucheltod –
Schwarzqualmender Städtemord, wild und funkenrot, –
Vom Haß, vom Leid zerpflügtes und zerfleischtes Land. – –
Und wieder bricht dein Feuerknäul durch Nacht und Wetterwand:
Seht da: London! Tower‐Bridge, Dom, Westminster,
Palastfronten von grauem Nebel triefend, morgenfinster –
Auf einmal: brennend, auflodernd, Türme glühen,
Park, Alleestraßen, Fußgänger, Volk, Volk sprühen,
Aufquirlend, hingerissen im gleißenden Mittagsgold!
Und Wagen‐Strom schiebt, knattert unendlich – rollt, rollt –
Und wieder, seht: Berlin! Häusergevierte, Warenhausblöcke,
Straßen‐Netze, Kaufmannschaft, Damen, Uniformröcke,
Paraden‐Märsche, Lärm von Autos, Omnibussen, Gäulen
Um Reichstagsgebäude, Museen, Bahnhöfe, Denksäulen –
Und abermals! Da: Peking! Papierlaternen um Pagoden,
Gong‐Musik, Zithergeklimper; gelbe, blumige Seidenmoden
Der zierlich trippelnden Frauen und Holzschuhgeklopf –
Rassig magere Kulis, Mandarinen mit Schirm und Zopf
Huschen vor Konfutses Tempel, dastehend aus Teak, Glasurziegeln.
Und fern: Pei‐Ho! Jangt‐se‐kiang! Fließender Spiegel:
Darin: Dschunken mit Mattensegeln, Haus‐ und Blumenboote,
15
Von Flußpiraten erstochene, rundbäuchige, treibende Tote. –
Und endlich: gigantisch, olympgroß: New‐York!
Rauch – Rauch – Ahnung von Arbeit, Tosen und Grenzlosem
Über fensterquadrierten Steinbergen, Hauskathedralen,
Beton‐Türmen, Kuppeln, Menschheit‐Arsenalen –
Breit walzende Avenuen, Squares; Würfeleinschnittgefüge –
Kletternd: elektrische Untergrund‐ und Hochbahnzüge –
Plötzlich: brandend, blendend gewaltig Licht über Licht!
Unten: anbrechend die Nachmittagsschicht:
Gefauch, Geklirr, Sirenen‐Heulen, zischender Dampf, Gehämmer,
Ozean‐Riesen, Mammut‐Schiffe wühlen aus dem Dunstdämmer,
Rhode‐Island‐Dampfer, Hudson‐Pinassen an Mole und Pier:
Stündliche Schlacht, Lebenseroberung, Gold‐Wut, Brot‐Gier.
Darüber, bogenspringend, tragend Bahnen, Männer, ohne Lücke:
Fein schütternde, kilometerlange Brookliner Hängebrücke!
Alles, alles: brausend, stoßend in tausendfach spielendem Licht,
Das aus der Eisensäulen Wolkenkronen bricht!
Allmächtig, prächtig Glutgestirn,
Emporwirbelnd, aufdonnernd vor Helle über Wolkenfirn:
Es ist kein Tag, der nicht von dir zerglüht, versengt, erbleicht
In Meere, Prärieen, Städte sich abendmüde, leblos neigt und schweigt.
Und keine Sterne – Nacht, die sich in blindem Durste schnell verblüht,
Bis wieder Morgen! Morgen! Wolken, Wellen Menschenhäupter
übersprüht.
Du Gottgestirn, flammensausender Blick und Auge ungeheuer:
Du hältst, umwärmst und brennst mit deiner Güte Feuer:
Gewölk, Getier, Gezeiten, Menschheit aller Zonen,
Erdniedersingend, himmelüberschwingend in Aeonen,
Äquator, Pol – Europa und auch Asien?
O, unser aller, meine deine lebenheiße Welt
Von unaufhörlich gutem, ewig großem Tage überhellt,
Von Sonne! Sonne, Sonne!
16
Buch des Krieges
Mein Freund du, gebrochenes Auge nun,
Gebrochener Blick wie der des erschossenen Hasen
Oder verächtlichen, kalten Verräters –
Zwölf Jahre gemeinsam sprang uns der Zeitwind entgegen,
Schweigsam teilten wir Bücher und Brot,
Teilten im Schulhaus die Bänke,
Des Lebenshindranges rauschende Not,
Einigen Sinnes Erkennung und Lehre,
Freund, dein Auge ist tot.
Darum deine Mutter im Kummer nun geht,
Harmvoll, seufzend, doch schlicht in der Menge,
Darum Klein‐Schwester, Klein‐Brüder zu frühe schon spüren
Verfinsternd qualmendes Schicksalgewitter
Und mächtiges Mähen des Todes.
Leer ist dein Bett in der ärmlichen Kammer
Und dein Platz am Tische des Mittags.
Und darum, daß niemand mehr wartet auf dich,
Geht grau deine Mutter im Kummer.
Du wärst eine Wurzel, ein Saatkorn,
Ein trotzender Keim in den Furchen des Lebens,
Ein bärtiger Vater von freundlichen Kindern geworden.
Ein schmerzenzerpflügtes Ackerland fraß dich,
Ein blutbedüngter Acker verdarb dich,
Der weise und ewige Säer zertrat dich.
Wer hadert und redet von Schuld?
Doch wärst du ein Saatkorn und wärest ein Vater!
Du wärest das Saatkorn – und wurdest doch Opfer;
Ein tausendstel Gramm nur, ein blutendes Fleisch
Fielst du auf blutleerer Leichen unendlich Gebirge.
Ist auch dein Tod nicht mehr denn ein anderer Tod.
Marschierten doch Tausend und Tausende rhythmischen Schrittes
Hinweg in das qualschwarze Nichts,
Regiment und Brigade, Armee und Armeen
Ins blutigbefleckte Ruhm‐Reich des toten Soldaten.
Du wurdest ein Opfer.
17
Der Brimont ist kahl und sein Wald ist zerschroten,
Keine Fichte verschont, dir daraus ein Grabkreuz zu schlagen.
So liegst du stumm in zertrümmertem Boden,
In brustbedrückendem, traumlosen Schlummer.
Nicht Held, noch Führer – Soldat nur, unbekannt.
Gebein im Wind der Verwesung.
Doch des gewaltigen Friedens unzählbare, selige Glanzlegionen,
Wenn ehern und klirrend sie über dein Grabfeld marschieren,
Wirst du erschauernd einst hören,
So horche und harre darauf.
18
Nach schwerem Traum
Ich bin Soldat und steh im Feld
Und weiß von niemand in der Welt.
Drum kann ich diesen Regentag nicht feiern,
So kummerzärtlich, feucht und bleiern,
Da mir dein Bild zur Nacht den Schlaf zerschlug
Und mich in deine Nähe trug.
Ich bin Soldat und steh im Feld,
Gewehr im Arm, und fern der Welt.
Wär ich zu Haus, ich schlösse Tür und Scheiben
Und wollte lange einsam bleiben;
Im Sofawinkel sitzend mich versenken,
Geschlossnen Auges deiner denken.
Ich bin Soldat im trüben Feld.
Hier endet alte Menschenwelt.
Der Regen singt, die nassen Strähnen fließen.
Ich kann nichts tun – nur Blei verschießen.
Weiß nicht warum, tu's doch als ob ich's muß:
Ins graue Wetter kracht ein Schuß!
19
Saaten säen
Saaten säen,
Halme quellen,
Ernten mähen
Scheuern schwellen
Überall.
Wälder färben
Wandern, fallen –
Mütter sterben,
Kinder lallen
Überall.
Heere stampfen
Schlachten morden,
Blute dampfen –
Sieg im Norden!
Überall.
Sehnsucht peinigt
Leib zu Leibern,
Liebe einigt
Leib in Leibern
Überall.
Tod ist Leben
Leben – Schweben,
Angstvoll schön –
Immer blühen Wolken in den Höh'n
Überall – –
20
Die Festung
1
Alles war still. Dunkel zog sich der Wall des Laufgrabens, der wie ein
langgestreckter Hügelrücken aussah, in die Nacht und verschwand
darin. Der niedrigstehende, dunstigrote Neumond warf schwache
Helligkeit auf die im Graben schlafenden Soldaten; einige Gewehrläufe
blinkten.
Marks lag mit dem Rücken gegen den Wall, blinzelte in den mächtigen
Lichtkreis und mühte sich dann, die ferne Bergkette der Vogesen zu
erkennen; je länger er hinsah, desto mehr flimmerte es vor seinen
Augen; und glaubte er, etwas zu unterscheiden, so zerfloß es schon
wieder, und die Nacht stand wie eine grenzenlose schwarze Wand vor
ihm. Er lag so seit neun Uhr und konnte nicht schlafen; die Gewißheit,
daß es um zwei Uhr nachts zum Hauptangriff gehen sollte, hatte ihn, der
sonst immer gleichmütig war, doch etwas unruhig gemacht. Er hatte ja
auch außer einigen unbedeutenden Plänkeleien nichts mitgemacht –
aber diesmal galt es den ersten großen Kampf im Kriege. Ungerufen
bohrte Nachdenken in seinem Hirn, und es sauste vor seinen Ohren.
Er hatte erst vor einem halben Jahre seine einjährige Dienstpflicht
abgeleistet und hatte dann gleich wieder sein Medizin‐Studium in
Göttingen aufgenommen. Da brach der Krieg aus. Um nicht vorläufig
untätig bei seinem Truppenteil stehen zu müssen, hatte er sich mit
einigen anderen Studenten sofort als Freiwilliger an die Grenze
gemeldet. Man hatte sie in diese Kompanie gesteckt, um den
Mannschaftsbestand, der bei dem ersten, blutig zurückgeschlagenen
Ansturm auf die Südforts der Festung sehr gelichtet war, zu ergänzen.
Die Infanterie hatte sich nach dem verfehlten Angriff rings um die
Festung eingegraben, schweres Haubitzenmaterial war herbeigeschafft
worden, und seit fünf Tagen hatte ununterbrochen das Bombardement
gedröhnt. Die Belagerungstruppen waren durch das unaufhörliche
Donnern schon apathisch geworden; verwundert hatten alle
aufgehorcht, als in den letzten zwei Nächten die rauchen Eisenmäuler
verstummten und auch der eingeschlossene Feind nichts erwiderte. Das
Nordfort hatte seit vorgestern lange Pausen geschwiegen und
zwischendurch unregelmäßig und schwach gefeuert. Man vermutete
hier den wunden Punkt und hatte daher, nachdem noch bayrische
Verstärkung eingetroffen war, heute, den ganzen Tag über, fast
sämtliche Kräfte vor dies Fort konzentriert. In den verlassenen
21
Verschanzungen waren nur Reservetrupps und die Artillerie
zurückgelassen, die durch fleißiges Schießen den Feind zu täuschen
hatten. Die Pioniere mußten nachmittags, trotz unangenehmen
Kleingeschützfeuers des Forts, neue Schanzrillen vorgraben, um den
gefährlichen, dem schlimmsten Kugelgeprassel ausgesetzten Weg in der
aufsteigenden Ebene für den nächtlichen Sturmmarsch abzukürzen. Alle
Truppen wurden nach und nach in die neuen Stellungen vorgeschoben.
Dann wurde um neun Uhr abends zum Schlafen geblasen, und endlich
trat Ruhe ein. Dort, in den ersten Verschanzungen, schliefen nur die
Pioniere, die müden Burschen, ihre paar Stunden. Dahinter lag die
Infanterie.
Plötzlich fährt Marks erschrocken zusammen und faßt krampfhaft nach
dem Gewehr – ein dumpfes Rutschen und Metallklingen hört er nicht
weit von sich – er sieht scharf hin – es war nur ein Soldat, der sich zu
hoch an den Wall gelegt hatte und in unruhigem Schlaf
heruntergesunken war. Der Helm war über Seitenkoppel und Gewehr
gekollert – der Mann aber wachte nicht auf. Marks zog die Uhr hervor
und hielt sie gegen den Mond: genau zehn! Langsam drehte er sich
herum und schob sich hinauf – er sah eine verschwommene, dunkel
ausgebreitet Silhouette: die Bodenerhebung, auf der die Festung lag –
er hörte von irgendwo den Tritt des Wachpostens, aber er sah
niemanden – leise kroch er wieder hinab, zwischen den Schläfern
hindurch, legte sich dann auf die Seite, schloß die Augen und versuchte
einzuschlafen. Aber es ging nicht; sein Gehör überschärfte sich, und es
sauste erregt dahin. – Tiefe Atemzüge und hier und da eine
unwillkürliche Bewegung oder wirres, aus gequältem Träumen
kommendes Gestammel – und wieder tiefes, todmüdes Atmen weithin!
Scharrendes unbestimmtes Geräusch dringt her, und ein Klirren –
wahrscheinlich sind es die Pferde von den Proviantwagen oder leichten
Geschützen, dachte er. Neben ihm schnarchte jemand immer röchelnder
und unheimlicher. Marks gähnte, ohne jedoch müde zu sein; es zuckte
und hämmerte in seinen Schläfen. Der Nachbar schnarchte furchtbar,
und irgendwoher begann noch ein Mann stoßweise zu glucksen. Er
richtete sich auf und blickte ärgerlich zur Seite, doch er hätte fast
gelacht über dies dumme, hilflos verzerrte Gesicht des Schlafenden, aus
dessen Mund, der wie eine dunkle Höhle gähnte, fortwährend
Eruptionen wie große Luftblasen herausplatzten; es hörte sich an, als ob
ihm eine Faust den Hals zusammendrückte und er dicht vor dem
Ersticken wäre. Dann wälzte Marks sich auf seine rechte Seite, und –
22
erblickte ein paar wache Augen, die auf ihn gerichtet waren. »Sieh«,
dachte er, »kann der auch nicht schlafen?«
Nachdem sie sich eine Weile angesehen und Marks allmählich erkannt
hatte, daß es der pessimistische junge Lehrer war, der auch als
Ersatzsoldat, einen Tag später als er selbst, dich neben ihm eingereiht
worden – rief er ihn gedämpft an:
»Heh!« –
Der andre kroch näher, stieg über den Nächstliegenden, setzte sich
dann neben Marks und drückte ihm die Hand. Sie sahen sich an – und
jeder wußte vom anderen, daß ihn Gedanken quälten.
»Na, Gott sei Dank, morgen geht es endlich ins Gefecht.« Als der Lehrer
nichts hierauf erwiderte, sah Marks ihn von der Seite an – er glaubte
Wasser in seinen Augen zu sehen.
»Ja –«, seufzte dieser schließlich, »es ist entsetzlich.«
»Entsetzlich?« fragte der Student. – »Haben Sie Angst?«
»Ach nein, das ist es nicht«, lächelte der junge Lehrer wehmütig. –
»Haben Sie noch an Ihre Eltern und Verwandten geschrieben?«
»Ach was«, meinte Marks gleichmütig, »die werden schon früh genug
erfahren, ob ich unter ihnen oder über der Erde bin.«
»Ich habe auch nicht geschrieben – es ist so vielleicht besser.«
Sie schwiegen.
Marks sah sich um – der Schnarcher war verstummt und lag mit
friedlichem, mondbeglänztem Gesicht da; die Knie hatte er
heraufgezogen; die beiden obersten, blankgeputzten Messingköpfe am
Rock flimmerten im Licht.
Weiter oben schlug einer mit dem Arm um sich, der getroffene
Nebenmann ächzte dumpf auf.
Tiefe Atemzüge.
Der Mond stand jetzt hoch und sah silbergelb aus.
»Ja ‐«, fing der Jüngere wieder an, »das Blut wird zu dick und satt im
schläfrigen Frieden – wir hatten auch schon zu viel Kraft in den
Friedensjahren seit achtzehnhundertsiebzig aufgespeichert, jetzt will
und muß es mal wieder explodieren.« Er hatte die Hand empathisch
erhoben und schlug, während er weitersprach, immer bei den
Kraftpunkten in die Luft. »Was sind wir für graue Menschen geworden,
wir sind Krämer und Gewerbetreibende, Industrieleute und sonst alles
mögliche – aber wir haben nicht mehr den großen Sinn in die Ferne, die
wilde Lust nach Abenteuern, Besitzergreifungen, wie sie unsere
Vorväter hatten.
23
Wir wollen nicht wissen, daß unser Blut immer Kampf will, immer! Freie
Faust und Kampf!«
Der Lehrer hatte ihm einige Male auf den Arm geklopft, während er so
laut sprach, aber er hatte es nicht gemerkt; er stieß nun mehrmals den
Atem prustend heraus, als ob er schwitzte.
»Wir dürfen nicht so laut reden«, sagte der Lehrer. Marks sah etwas
verwirrt nach beiden Seiten – aber nichts rührte sich.
»Das ist alles ganz gut, wie Sie es sagen«, meinte ruhig der Ältere »Aber
warum nicht ein friedlicher Kampf: Klugheit gegen Klugheit – statt
dieser barbarischen, von den niedrigsten Urinstinkten des Menschen
genährten Kriege? Das ist ja nun gar kein Kampf mehr: Kraft gegen Kraft
des anderen, Faust gegen Faust wie früher – das ist eine
maschinenmäßige
Schlächterei;
Maschinengewehre,
Schnellfeuergeschütze, gepanzerte Luftschiffe, Minen wüten
gegeneinander. Der Kampf ist unpersönlich, riesiger und entsetzlich
geworden – und das Ende ist: grenzenlose Zerstörung alles Lebens.
Bedenken Sie, daß der Sieger – das ist der, der die jungen Männer des
feindlichen Staates am kunstgerechtesten niedermäht – durch seine
erfolgreiche Schlachten dessen ganze Zukunft für hundert oder viele
hundert Jahre vernichtet?«
Der Student schwieg sinnend; seine Finger trommelten mechanisch auf
dem Seitengewehrkoppel.
»Ich kenne kein rührseliges Bedauern mit einem Unterliegenden, nur der
Stärkere hat das Recht zum Leben; Sie sehen das überall in der Natur
und unter den Menschen. Und wer hier der Kräftigste, der Sieger und
Zukunftserbauer ist, das wird sich von morgen ab schon zeigen.«
Der Lehrer zog die Knie an und legte die Ellbogen darum und
antwortete dann vor sich hin: »Wir müssen ja diesen Krieg noch
austragen; aber später soll alles besser werden. Keine Heere, keine
wahnsinnig gesteigerten Rüstungen.«
»Aber es kommt dadurch doch Geld unter das Volk«, warf Marks ein.
»Gewiß kommt dadurch Geld unter das Volk, aber das Geld könnte für
humanere Zwecke angewandt werden. – Ja, später – da soll es nur
Polizeitruppen und Gerichte geben, die Recht und Sitte aufrecht halten,
und ein großes Schiedsgericht für die ganze Welt, das alle aufkeimenden
Streitigkeiten unter den Ländern schlichtet und die Kriege von der Erde
schafft. Jeder Krieg ist zu vermeiden – auch dieser wäre beizeiten zu
verhindern gewesen, jetzt ist es zu spät.« Der Lehrer unterdrückte einen
Seufzer.
24
»Und wenn Ihr schöner Traum in Erfüllung geht«, sagte Marks, »dann
kann die ganze Menschheit ruhig schlafen gehen ‐«, er bereute jedoch
gleich seine Ironie und sagte: »Doch – Ernst: Sie wissen doch auch, daß
die großen Ideale nie reale Wirklichkeit werden, wenigstens nicht
vollkommen.«
»Ja – leider, aber die Sehnsucht hofft doch immer, und wir glauben doch
noch immer, am Anfang zu stehen und...«
Da riß Marks ihn am Arm: »Der Posten!«
Sie warfen sich beide nieder. Marks lag auf dem Bauch und schielte nach
oben – er sah, wie die schwarze Silhouette des Soldaten reglos
stehenblieb; das Gewehr lag über seiner Schulter, und das aufgesteckte
Seitengewehr blinkte. Jetzt nahm er seinen Gang wieder auf; seine
schweren Schritte verhallten weich – ‐ vorbei. Eine Weile stierten die
beiden ins Dunkel.
»Na«, flüsterte der Lehrer vorsichtig, »ich glaube, wir schlafen noch ein
paar Stunden.«
»Ja«, sagt Marks und hält die Uhr in die Höhe, »es ist zehn Minuten nach
elf, wir haben nun noch drei Stunden.« Einen schweren Augen
schwiegen beide.
»Gute Nacht«, sagte Marks.
»Auf Wiedersehen«, antwortete der andere bedeutungsvoll, drückt ihm
die Hand – und kriecht leise zur Seite auf seinen Platz.
Tiefe Atemzüge weiterhin; hier und da Schnarchen; der Mond ist ganz
hinaufgerückt und glänzt merkwürdig und friedestill.
2
Marks spürte eine sonderbare dunkle Erschütterung – jetzt wieder – er
riß die Augen auf: man hatte ihn an der Schulter gerüttelt, der Wecker
war schon weitergegangen – um ihn her sprangen und krochen die
Soldaten hoch – es wimmelte überall. Marks blickte auf und besann
sich – der Mond war ganz tief zur Seite gerutscht – weiter hinauf hörte
er eine Stimme: »Vorwärts hoch!« – Nun mußte er wohl. Er stand auf,
seine Beine waren steif, er fror. Er rollte der grauen Feldmantel, auf dem
er gelegen hatte, zusammen, schürte ihn um den Tornister und warf
dann diesen schweren Rucksack über den Rücken. Mantel, Rock,
Tornister – alles war feucht und klamm. Er schüttelte sich und schlug die
Arme mehrmals überkreuz um den Rumpf. »Einrücken! ausrichten!«
brüllte hinter ihm jemand; er faßte schnell sein Gewehr, stieg über den
25
Wall und sprang nach vorn, wo schon eine dunkle Masse stand. Knöpfe
und Waffen blitzten auf – rundher gedämpftes, schwirrendes
Gemurmel – und weit in die Nacht schrille Kommandorufe. Er suchte
sich in dem kribbelnden, dicken Schwarm zurechtzufinden. Da kam einer
auf ihn zu – es war der Lehrer – doch nein, er erkannte seinen Gefreiten
Möller: »Verflucht duster«, sagte der; Marks hatte nichts verstanden und
stellte sich neben ihn. Mann an Mann schob sich langsam zum langen
Glied zusammen. Jemand prahlte roh und laut. Marks sah sich um – er
konnte aber keinen erkennen in der unruhig trappelnden
Soldatenmenge; bis tief hin schielten helle Gesichter, und darüber
blinkerten Helmspitzen.
»Ruhe!« dröhnte es von vorn – wie abgeschnitten verstummte alles.
»Stillgestanden!« – ein dumpfer gliedlang zuckender Ruck ging durch die
Reihen. Nichts rührte sich.
»Ge – wehr über!« ein klirrend aufgeschlagener Krach, einige Gewehre
klapperten nach.
Offiziere liefen aufgeregt vor die Front und riefen abgerissen; Marks
verstand es nicht.
Tief vor sich, dicht über dem schwarzdahingedehnten Boden sah er in
der Ferne kleine, sich bewegende Lichter: die Pioniere – dachte er.
»Mit losem Schritt, vorwärts Marsch!«
(Links und rechts schrie man den gleichen Befehl.) Schwer,
dumpfdunkel, stampfend schob sich die unübersehbare Truppenmasse
in die Finsternis.
Tritt vor Tritt, vorwärts – Tritt vor Tritt, vorwärts ab und zu stolperte
Marks.
Weiter: Tritt vor Tritt vorwärts. – Er hörte, wie der Gefreite neben ihm
stark gähnte und hinterher schimpfte.
Der Boden stieg in unregelmäßigen Wellen an. Vor der Linie tanzten ein
paar Schatten – es waren die Unteroffiziere und Leutnants; die grauen
Uniformen machten sie fast unerkennbar in der Nachtdämmerung.
Brrr – tönte etwas – Marks horchte; er glaubte, es käme vom Fort her –
Barrrr kam es näher – von hinten aber – über die Marschierenden weg,
ein starkes metallisches Brummen, nach vorn; ein schwarzes Etwas sah
Marks wie eine große Fledermaus dahinschatten. Der Äroplan mußte
ziemlich hoch sein; die einzelnen, sonst scharf knatternden
Motorzündungen waren zu einem schwachen Surren verwischt. Man
hörte schon nichts mehr.
26
Jetzt ging es durch einen Weinberg; halbmannshohe Stöcke brachen
unter den strauchelnden schweren Stiefeln, sie wurden niedergeknickt
und zerstampft. Weiter!
Marks hatte das Gefühl, als müßten sie so in alle Ewigkeit marschieren;
Tritt vor Tritt, Tritt vor Tritt, vorwärts. ‐
Vom linken Flügel kam eine Bewegung her, ein »Weiter«‐Ruf sprang von
Mann zu Mann, einer nach dem anderen nahm im Gehen den
drückenden Helm ab. – »Helm bedecken!« rief Marks’ linker Nebenmann
ihm zu, er gab es rechts weiter und nahm den Helm ab, zog den grauen
Stoffbezug aus der Hosentasche und streifte ihn über den verräterisch
blinkenden Helm.
Es war einige Unordnung entstanden; nachdem aber alle Helme wieder
fest auf den Köpfen saßen, fielen alle Füße wieder in den gewohnten
schweren Schritt.
Der Anmarsch wurde mühsamer, der taunasse, schlüpfrige Grasboden
setzte in kurzen Sprüngen zu Wällen und Blöcken an, die hier und da
von Löchern unterbrochen wurden: es hieß aufpassen. Diese kleinen
Anstrengungen, das beklemmende Dunkel und das Ungewisse, das vor
ihnen stand, hatte die Truppen warm gemacht; schweißiger Dunst
strömte von einem zum anderen – und aus der ganzen bewegten
schwerbepackten Menschenmasse stieg es wie warmer Rauch in die
naßkalte Nachtluft.
Marks fror nicht mehr; sein Rock, überhaupt die ganze Kleidung roch
muffig, wie sonst Zeug im Regen riecht. Er zerrte den Tornister, der
allmählich drückte, nach der rechten Schulter hin, denn die Packung in
ihm hatte sich verschoben, so daß er bei jedem Ruck des Körpers nach
links rutschte. Dies monotone Dahinmarschieren wurde Marks
langweilig, er fing an »Auf in den Kampf, Torero« halblaut vor sich hin zu
flöten; er hörte aber gleich wieder auf, weshalb wußte er selber nicht.
Der Atem ging kurz und stoßend: das Gelände wurde steil. Die Reihen
lockerten sich: man sprang, ging, kroch, zog ein Bein nach – marschierte
wieder einige Schritte und so fort: vorwärts.
Was war das? – ein langer Lichtstreifen ging in die Nachtwolken – sank
tiefer und kam tastend über die Erde hinstreichend näher – »Nieder!«
brüllte Marks’ Nebenmann, er schrie es nach rechts weiter. Regungslos
lag alles keuchend mit dem Bauch auf dem nassen Felde. »Das muß wohl
Kohl sein«, dachte Marks nervös, als er große dicke Blätter zwischen den
Fingern fühlte. Gespenstisch huschte der Scheinwerferstrahl, schärfer
leuchtend von der Seite her – jetzt! – zuckend riß Marks die Augen zu –
27
als er sie nach einem Augenblick wieder öffnete, war er noch ganz
geblendet; ein großer Lichtkreis schwamm vor ihm – aber der Strahl war
schon weitergewandert und suchte weit rechts im Dunkel.
Alles setzte sich wieder in Marsch: vorwärts.
Da! Brummen – es kam erstickt vom Fort da oben; sie mußten wohl
etwas gemerkt haben. In längeren Pausen murrte ein dunkler Knall – er
klang aber verwischt, weit entfernt – man schoß wahrscheinlich nach
einer anderen Richtung.
Von hinten her schmetterte gellend ein Trompetensignal.
»Das Ganze halt!« »Halt – Halt!« schrien die Unteroffiziere vor allen
Reihen.
»Tornister abwerfen! Bajonette aufgepflanzt!« wurde weiter
kommandiert. Ein Wald von scharf geschliffenen Messern blitzte auf
den Gewehrläufen; krachend flogen die Tornister nach hinten.
Ein erwartungsheißer Augenblick Ruhe. Mann an Mann standen alle mit
sturmklopfenden Herzen da. Das stoßweise Brummen vom Fort nahm
zu.
Fuiih! – grellrote Leuchtraketen pfiffen vor ihnen im Schwarzen hoch:
das Zeichen zum allgemeinen Sturm.
Hinten in den Truppenmassen, vor der Front, links und rechts und ganz
weit rechts hinauf – überall schrillten durchdringend die kleinen Pfeifen
der Zugführer:
Zum Sturm! Laufschritt marsch marsch!
Wie eine riesige murrende Herde stürzte alles hastig und heiß
vornaufwärts.
Unaufhörlich sauste Donner an allen Ohren vorbei: man schoß wie
wahnsinnig vom Fort. Geschosse sausten jetzt auch dicht über die
Anstürmenden weg; Feuerkreise zuckten blitzähnlich oben auf: das
ganze Nachtdunkel brüllte: ein gewitterndes mörderisches Chaos.
Da schlug es mitten unter ihnen ein:
Krach! – eine Fontäne von Erde, Fleisch und Rauch sprang spritzend und
heuend hoch – mit den Nächsten wurde Marks von dem ungeheuren
Luftdruck hingeschleudert – er riß sich wieder hoch, er fühlte nichts – er
fing wieder an zu laufen: nur vorwärts, vorwärts! Granatsplitter
regneten auf die Helme.
Es galt, so schnell wie möglich durch diese Feuerzone zu kommen.
Instinktiv rannten alle wie besessen; warum? weshalb? wußte niemand –
nur weiterstürmen! schnell! schnell!
28
Man mußte schon ziemlich dicht vor dem Fort sein, denn der
Geschützdonner wurde ohrensprengend; man lief blind durch
schwelenden, beißenden Pulverqualm wie durch Gewitterwolken.
Jetzt brach überall in der Ferne ein neues, wühlendes Donnern los und
wurde zu einem Brummen, zum dunkelsten Unterton alles anderen
Zischens, Krachens und Prasselns: die Zweiundvierzig‐Zentimeter‐
Belagerungsgeschütze nahmen ihre unheimliche Tätigkeit wieder auf;
sämtliche Forts wurden unter Feuer gehalten.
Die von Pulverrauch und ‐geruch zerquirlte dicke Luft wurde von Getöse
und pfeifenden Geschossen und hochoben platzenden Feuern
zerschnitten; immer mehr und dichter einschlagende Schrapnells rissen
entsetzliche Trichter in die aufdrängenden Massen und bohrten sich
weiterrasend in die Erde.
Vorn zu beiden Seiten stürzten Soldaten; Marks rannte in wahnwitzigem
Rausch weiter – zwischendurch; über einen Menschen wegspringend –
einen Getroffenen, der schräg auf ihn zu fiel, zur Seite stoßend; nur eins
brannte stärker in seinem Hirn als das Fieber in allen hinhastenden
Gliedern: Vorwärts! nur dies.
Was war das? Er prallte zurück, andere fielen hin. Stacheldraht war hier
gespannt – Pioniere sprangen hervor und zerschnitten mit großen
Hackscheren das gefährliche Hindernis – durch! er merkte nicht, daß er
sich eine große blutige Schramme quer über die Hand gerissen. Doch
zehn Schritte weiter warf er sich mit aller Gewalt rückwärts, so daß er
dumpf hinfiel und mehrere auf ihn traten: im letzten Augenblick noch
hatte er eine unheimliche Tiefe erkannt, eine Wolfsgrube, die mit
spitzen Pfählen und Drähten angefüllt war; Schreien und Ächzen hörte
man, es mußten viele hineingefallen sein. – »Bohlen rüber!«
kommandierte jemand – und weiter wälzte die Masse über die von
Pionieren hinübergeworfenen Balken und Bretter.
Sie standen am Fuße des Walles; wie eine schwarze Mauer stieg er vor
ihnen auf.
Maschinengewehre prasselten jetzt monoton und heftig von oben,
spritzten scheffelweis Kugeln wie Erbsen hinunter.
Die Wirkung war furchtbar; wie hingemäht fiel ein Drittel aller
Laufenden.
»Vorwärts Sturm! Hurrah!« hörte man durch den Dampf die vom
Schießlärm fast verschluckten schreienden Stimmen der Offiziere – und
mit wild brausendem Hurrah! rasen, wühlten alle aufwärts! – kriechend;
29
auf allen vieren; springend; fallend; Hurrah! Hurrah! in das Handgemenge
auf den Wall.
Zehn Mann schlagen rücklings hinunter – zwanzig drängen mit
zusammengebissenen Zähnen nach – und wieder stürzen zehn
Durchbohrte in die Tiefe und reißen Kameraden mit – doch wieder
springen dreißig mit blutigheiserem Hurrah auf die Schanze – und mehr,
immer mehr – Hunderte!
Die Verteidiger ziehen sich in die Mitte des Forts zurück, hinter Mauern,
in die Panzertürme, in die Trümmerhaufen der Kasematten – überall
laufen und springen welche. ‐
Die Stürmer liegen hinter den Kuppen der Wälle und feuern in das
offenliegende, schrecklich verwüstete Fort.
Wieder und wieder drückt Marks ab; der Lauf wird schon warm und die
rechte Schulter schmerzt ihm vom fortwährenden Rückschlag des
Kolbens. Blutrotes Brausen sprengt seinen Kopf fast und verdrängt
jeden Gedanken und Bewußtsein; es ist ihm, als ob er im Sonnenbrand
läge und furchtbar schwitze. Ganz mechanisch reißt er den
Auswurfhebel herum und schiebt einen neuen Patronenrahmen in die
Kammer – wieder sechs Schüsse durch den mit heiß verkrampften
Fingern gerichteten Lauf – Hebel herunter – eine neuer Rahmen
eingeschoben – wieder sechs Schüsse – unaufhörlich.
Vereinzelter knallen die Schüsse der ins Innere geflohenen Verteidiger.
Zwischen den in Beton‐ und Mauerwerktrümmern gebildeten Lücken
stapeln sich Tote auf; kreuz und quer sind sie übereinandergefallen, und
tief unter ihnen röcheln vielleicht noch Verwundete.
An mehreren Stellen dringen die Stürmer, mit einem Satz von den
Schanzen springend, auf die Mitte des Forts zu.
Da rennen plötzlich zehn Mann hinter dem geborstenen Panzerturm
hervor und laufen, die Bajonette gefällt, mit irrsinniger Bravour auf den
Wall zu, auf die verhaßten Schützen zu; ehe sie einige Meter gelaufen
sind, kollern neun, jeder von mehreren Kugeln durchlöchert, wie
Strohpuppen ineinander – der Letzte stürzt weiter, einige
unverständliche Laute stoßweise herausgurgelnd, so als ob er singen
wollte – dann schlägt auch er nach rückwärts lang hin, zuckt mit einem
Bein und liegt still.
Das Fort ist genommen. Der letzte Mann fiel.
Auf den Schuttplätzen stehen die Eroberer in Gruppen und schreien wie
betrunken ein »Hurrah!« nach dem anderen. Marks wollte auch rufen,
aber es blieb ihm würgend in der Kehle stecken; er schlich zur Seite und
30
setzte sich in eine Ecke auf einen Mauerblock. Er spürte keine
Müdigkeit, nur Durst; ohne abzusetzen, trank er den schwarzen Kaffee
aus seiner stoffüberzogenen Blechflasche.
Einige Kommandos; ein lautes Hin‐ und Hertrappeln; die
Besetzungsposten wurden aufgestellt; die anderen sollten nun endlich
ruhen. Vollständig erschöpft fielen die meisten Soldaten, wo sie gerade
standen oder saßen, in verwirrten blutschweren Halbschlaf; die einen
mit fiebrig geröteten, andere mit grünlichblassen Gesichtern.
Von den anderen Forts, die in der dumpfgrauen Ferne wie große
Maulwurfshügel aussahen, brummten noch gedämpft und nachlässig
Kanonen; ab und zu noch einmal ein scharfer Knall; dann wurde es
ruhiger, überall lagerte drückende Mattigkeit.
Zwei Tote lagen neben Marks; dem einen sickerte noch immer Blut, wie
ein winziger Quell, aus der Stirnwunde über das Gesicht; an den
Rändern war es eine schwarze Kruste. Voll Ekel drehte Marks sich um
und sah durch eine große Bresche des Walles nach außen.
Unbestimmte, trübgraue, fröstelnde Helligkeit des Morgens dämmerte
schweigend über den ganzen Himmel herauf; an einer Stelle färbte es
sich grünlich‐violett, und darunter, ganz tief, wurde es schon gelb.
... Nun saß er hier; auch ein Sieger – er wußte nicht, ob er froh oder voll
Trauer sein sollte – ziellose Gedanken schwankten in ihm; er fühlte sich
so leer und kam sich eigentlich recht nutzlos vor.
... Er sah in der Reichshauptstadt, in allen Heimatstädten die Menschen
sich scharenweise um die Anschlagsäulen, vor den Zeitungsredaktionen
drängen und die Siegestelegramme heißhungrig lesen – und dann:
Geschrei, Geschrei, Siegesjubel! Wer dachte da wohl an die unzähligen
Opfer der Sieger? an die Toten, die mitgesiegt hatten? – die Verlustlisten
kamen ja immer viel später heraus.
Wehmütige, zweifelnde Beklommenheit beengte seine Brust: »...dieser
Krieg ... dieser Krieg!« Ächzen entfuhr ihm. Er hob den starrenden Blick
vom Steinboden und sah wieder in die Weite ‐
Scharlachrot glühte die Sonnenkugel zwischen zartangelaufenen
Wölkchen.
Wie ein blutiger Klumpen hing sie da; so entsetzlich rot, als habe sie sich
vollgesogen mit all dem schwimmenden Blut da unten. Es war ihm, als
ob die Bergkuppen in der Ferne, die langabwärts gezogenen
zerstampften Felder und Weinberge – als ob der ganze Morgenhimmel
und er selbst – mit Blut, mit brüllendem Blut übergossen seien!
31
Er merkte, daß ihm übel wurde; er wurde schwindlig – er stand auf und
wollte ... da! – er stößt mit dem Fuß an die andere Leiche – und – das –
das ist – der Lehrer!
Er schwankt, greift in die Luft und bricht mit einem dumpfen
Aufstöhnen zusammen.
Golden strahlte ein herrlicher, stiller Morgen.
29.8.1914
(Geschrieben in Faarborg, Dänemark)
32
Ich bin nur ein Tropfen
Ich kam aus den Meeren, ich kam aus der Sonne, ich kam aus dem Wind,
Die alle mir Urväter und Mütter sind;
Aus fallenden Zeiten, aus ewiger Nacht ein lallendes Werde,
Ein schillernder Tropfen, ein hilfloses Kind,
Geworfen auf winzigen Fleck der Erde.
Ein Häuflein Jahre des Lebens,
Gefäß des Kummers und freudig flutenden Bebens,
Ein kreisendes Stündlein vor ewiger Zeit.
O halte, Weltanfang und ‐Ende mich immer in Demut bereit,
Ich kam aus den Meeren, aus Sonne und Wind,
Und bin nur ein Kind.
Ist es nicht immer genug:
Daß dich ein herbstlich verblutender Baum,
Hintaumelnder Vogelflug,
Entzündeter Abendwolken Schaum,
Ein schluchzend einfältiglich Lied,
Das über engende Höfe flieht,
In gottvolle Armut und Nacktheit entrückt,
Unendlich beglückt!
33
O' Tehura
Hier sitz ich in dem engen windetreppenhohen
Steinstadt‐Zimmer.
Ich möchte raus aus diesem rohen
Straßenleben, diesem Grünzeugmarkt‐Gewimmer –
Fort von diesen Tanten, diesem Schwäher –
Ich, der lärm‐ und werkdurchfurchte Europäer,
O' Tehura –
O' Tehura, weit zu deinem Südseeriffe,
Wo noch Krater in die Wolken brüllen,
Wo die Menschen nur in Sonnedunst sich hüllen,
Gleiten, gleiten meine weichen Sehnsucht‐Schiffe –
O' Tehura –
Wenn ich bei dir säße, sagte: sing!
Und du zupftest die Zweisaitenlaute:
Kling‐zum, kling‐zum, ping – –
Wenn mich vor den bösen Urwelt‐Göttern graute,
Vor den flammendgroßen Keulentaten,
Vor den Sternfall‐Feuersaaten,
Die du monoton mir singst –
Kling‐zum, kling‐zum, pings –
O' Tehura –
Zuckendsummend rollen Wogen zu mir auf –
Sind das nicht die blütenblauen Glitzerwellen?
Zuckendsummend brandet Lärm‐Gerauf,
Schwere, trübe Tönemasse
Aus der dunklen Gasse. – –
O' Tehura –
Es brodelt schon der Menschen Arbeits‐Sorgen:
Es dröhnt und schüttert durch die Straßentiefen,
Gierig warten meine Europäersorgen,
Die nur nächtlich kurz verschliefen – –
O' Tehura –
34
Manchmal wieder wenn die Stille singt,
Wenn der Abend von den Kirchentürmen klingt,
Denk ich irgendwo nach Pete, Honga‐Sura –
Denke ich an dich Korallenketten‐Kind,
Bronzebraunes Südsee‐Kind,
Tehura.
35
Wirbal (mit dem Blutspeer)
Von Bläue und Wolkenschatten durchdunkelt,
Von flirrenden Sternen durchfunkelt,
Schwelt sausend und sacht
Die Weltraum‐Nacht –
Da kommt über Wolkenwogen
Ein flimmerndes Singen geflogen,
Tropft und tropft Klang um Klang
Ein Sphärengesang
In die Nacht –
»O' du und wir – du und wir –
Du bist in der Nacht und bist doch nicht hier –
O' Wirbal, du Gottheld der Liebe,
Du Allüberrager,
Wo glänzt dein Auge, wo ist dein Lager?
Wir dürsten nach dir,
Kämpfer und Wager,
Und nach Liebe – «
Da schweben wie mit nächtlichen Schwingen,
Die suchenden Frauen aus düsterer Ferne
In den Sprühlichtregen der Sterne –
Da gleitet im Leuchten der leuchtende Chor – –
Nun wieder ein Singen,
Einer Stimme Singen:
»O' Wirbal, du, den ich erkor,
Den ich am Anfang besaß –
Und wieder verlor, wie müd ist mein Tanz,
Wie leer meine Nacht,
Kein Glutblick, der mir lacht,
Kein Arm, der mein Blühen entfacht,
Nicht du, allgroßer Glanz –
O' sternlichtbetauter,
Nachtlockenumblauter
Glanzgott
Komm!«
36
Die Klage verirrt – – –
Ein Sprühkomet schwirrt
Hochoben – – –
Sieh! da kommt ein Feuer!
Hör, da kommt ein Fauchen!
Da kommt ein Neuer!
Seinem Reitroß rauchen
Die Nüstern –
Wirbal!
Wirbal!
Die Jungfrauen flüstern –
Da beginnt in glutschwerem Baß
Der riesige Reiter zu singen:
»Du Eine, die du riefst,
Die du sangst und nicht schliefst,
Ich bin der übernächtige
Liebesmächtige,
Den du suchst.
Komm du Tanzschmächtige,
Von Sehnsucht verstört,
Dein Lied ist erhört,
Erlösung wird dein.«
Singt wieder die Eine allein:
»O' Wirbal, Wirbal ich kann nicht mehr singen,
Mein Herz will springen, –
Mein Herz will ich dir bringen – –
Dein Speer glüht so rot – «
»Du bist liebesstark, sei bereit,
Daß ich dich löse aus Sphärenzeit
In Aeonenseligkeit!
Ich bin der Liebestod!«
37
Da wankt die Eine und hauchte: »ich will« –
Dann lachte sie selig und war ganz still – –
Da stieß er ihr den Stahl ins Herz,
Sie hat nicht geschrieen vor Schmerz –
Erlöst war ihr Herz – –
Der Speer tropfte blutrot – –
Der Blutspeer hat das Herz durchschnitten –
In der Nacht –
Der Chor ist tot tiefab geglitten
In die Nacht –
Der Riese ist finster zurückgeritten
In die Nacht – in die Nacht.
Gerrit Engelke: Die Festung Hannover: Postskriptum Verlags‐GmbH, 1979
(Prosa)
Gerrit Engelke: Rhythmus des neuen Europa, Jena 1921 (Lyrik)
38