Beschweren erwuenscht - Alice Salomon Hochschule Berlin

Beschweren erwünscht!
Beschwerdeverfahren und Partizipation in
Kindertagesstätten
Dr. Kathrin Aghamiri, Fachhochschule Kiel
Frühpädagogische Abendvorlesung 29.10.2015, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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Beschweren erwünscht!
1. Einleitung – Beschwerdeverfahren und Partizipation in
frühpädagogischen Diskursen
2. Begründungen I – Kinderrechte in
Kindertageseinrichtungen
3. Begründungen II – das pädagogische Verhältnis als
Machtverhältnis
4. Einmischen erwünscht! – Die Gestaltung des
Machtverhältnisses durch Partizipation
5. Beschweren als Alltagspraxis in der Kita
Frühpädagogische Abendvorlesung 29.10.2015, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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Demokratiebildung
(Negt,
Edelstein)
Bildung
(Aneignung)
Partizipation
Kinderschutz
(BKiSchG)
Resilienzförderung
(Lutz)
Inklusion/
Vielfalt
(Index)
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Ein Kind ist ein Mensch von Anfang an….

„Sozialpädagogisches Handeln (…) [setzt] die individuelle und
konkrete Existenz des Subjekts als die ihm aktuell zugängliche und
verfügbare Normalform seines Lebens voraus.“ (Winkler 1988: 270)

„Das Kind muss nicht erst zum Menschen werden, es ist schon
einer.“ (Korczak 1929: 30)

Aber! Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Aufgrund der
„Entwicklungstatsache“ (Bernfeld 1925) benötigen sie besonderen
Schutz

Daraus folgt die Anerkennung des Kindes als Mensch mit
eigenen Bedürfnissen, Handlungswissen, Interessen und
Rechten
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Kinder haben ein Recht auf körperliche und geistige
Unversehrtheit
UN-Kinderrechtskonvention
Artikel 19 [Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung
und Verwahrlosung]
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-,
Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder
Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung
oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor
schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen
Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder
eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters
oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.
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Kinder haben ein Recht auf körperliche und geistige
Unversehrtheit
In der Familie:
In der Kita:
§ 8a SGB VIII
§ 45 SGB VIII
Schutzauftrag bei
Erlaubnis für den
Kindeswohlgefährdung
Betrieb einer Einrichtung
Dilemma der Fachkräfte:
Dilemma der Fachkräfte:
zwischen
zwischen
Erziehungspartnerschaft
notwendiger Nähe und
und Wächteramt
Kontrolle potenzieller
Täter*innen
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Um den Anspruch des Kindes auf geistige und körperliche Unversehrtheit zu
realisieren, müssen in pädagogischen Institutionen formelle Strukturen
existieren, in denen dieser Anspruch eingefordert werden kann.
Ulrich Bartosch:
„Jede Erziehung und jede Pädagogik steht zunächst unter dem
Generalverdacht, als Machtmissbrauch angelegt zu sein und
Unterdrückung zu betreiben. Will sie den Verdacht entkräften,
muss die je konkrete Erziehung und die je allgemeine Pädagogik
nachweisen, wie sie Machtmissbrauch verhindert und
Unterdrückung aufhebt.“
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Diese Gestaltung soll durch das Handlungsprinzip der
Partizipation erfolgen:
§ 45 Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung
(2) Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn das Wohl der Kinder
und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist. Dies ist in
der Regel anzunehmen, wenn […]
3. zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen
in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie
der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen
Angelegenheiten Anwendung finden.
(3) Zur Prüfung der Voraussetzungen hat der Träger der
Einrichtung mit dem Antrag
1. die Konzeption der Einrichtung vorzulegen […]
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Beschweren erwünscht!
1. Einleitung – Beschwerdeverfahren und Partizipation in
frühpädagogischen Diskursen
2. Begründungen I – Kinderrechte in
Kindertageseinrichtungen
3. Begründungen II – das pädagogische Verhältnis als
Machtverhältnis
4. Einmischen erwünscht! – Die Gestaltung des
Machtverhältnisses durch Partizipation
5. Beschweren als Alltagspraxis in der Kita
Frühpädagogische Abendvorlesung 28.10.2015, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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Kinderrechte
 UN-Kinderrechtskonvention – Versorgungsrechte, Schutzrechte,
Beteiligungsrechte (u.a. Artikel 12)
Erst durch
Partizipationsrechte
werden Kinderrechte zu
Subjektrechten!
Versorgungsrechte
Schutzrechte
Beteiligungsrechte
Bildungsprozesse und Aneignung der eigenen Biographie durch
Beteiligungsrechte:
Partizipation und der „Kampf um Anerkennung“ (Honneth 1992)
„Recht“
Erfahrung als
berechtigter,
gleicher Mensch
„Solidarität“
Erfahrung von
Selbstwirksamkeit
„Liebe“
Entwicklung von
Bindung und
Selbstständigkeit
Beteiligungsrechte
Partizipation unterstützt
die Fähigkeit, die eigene
Biografie aktiv zu
gestalten!
Was bedeutet Partizipation?
Selbstbestimmung
Mitbestimmung
Demokratische
Aushandlung:
Transparenz und
Öffentlichkeit
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Beschweren erwünscht!
1. Einleitung – Beschwerdeverfahren und Partizipation in
frühpädagogischen Diskursen
2. Begründungen I – Kinderrechte in
Kindertageseinrichtungen
3. Begründungen II – das pädagogische Verhältnis als
Machtverhältnis
4. Einmischen erwünscht! – Die Gestaltung des
Machtverhältnisses durch Partizipation
5. Beschweren als Alltagspraxis in der Kita
Frühpädagogische Abendvorlesung 29.10.2015, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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In der Pädagogik haben wir es mit einem Verhältnis
von Ungleichen zu tun …
Es gibt einen
Machtunterschied,
zwischen Kind und
Erwachsenen.
Dieser
Machtunterschied führt
zu Willkür, wenn er
nicht gestaltet wird.
In der Pädagogik haben wir es mit einem Verhältnis
von Ungleichen zu tun …
Gestaltungsmacht
Körperliche Macht
Definitionsmacht
Verfügungsmacht
Mobilisierungsmacht
Das spezifische Machtverhältnis zwischen Kindern und
Erwachsenen darf nicht geleugnet werden….
Paul Geheeb, Gründer der Odenwaldschule:
„Alle sollen hier in gewissem Sinn regieren; die Leitung der
Schule ist in den Händen aller. Jeder hat das gleiche Recht zur
Mitarbeit. Wenn man das klar eingesehen hat, so kann es sich
doch nicht um Machtfragen handeln, der Schulstaat
unterscheidet sich ausdrücklich vom politischen Staat. Unser
Erziehungsstaat ist eine Gemeinschaft, in der alle ein Ziel vor
Augen haben. Alle sollen in eine bestimmte Ideenwelt hineinwachsen (…) Hier gibt es keine Abstufungen. Hier sind alle
gleichberechtigte Bürger des Erziehungsstaats. Von da aus ist
es mir selbstverständlich, dass alle gleiches Stimmrecht haben.“
In der Pädagogik haben wir es mit einem Verhältnis von
Ungleichen zu tun …
„Bis jetzt hing alles vom guten
Willen und von der guten oder
schlechten Laune des Erziehers
ab. Das Kind war nicht
berechtigt, Einspruch zu
erheben. Dieser Despotismus
muss ein Ende haben.“
Janusz Korczak (1878-1942)
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Mitbestimmung muss von den Erwachsenen
ermöglicht werden …
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Das spezifische Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und
Kindern sollte demokratisch gestaltet werden
1. Um sich wirkungsvoll zu beschweren, muss man Rechte haben – sonst
ist man (als Bürger) auf Gnade oder (als Kunde) auf Kulanz
angewiesen.
 § 45 SGB VIII: Partizipation UND Beschwerdeverfahren
2. Beschwerdeverfahren sollen auch schon JETZT Gewalt und
Missbrauch entgegenwirken – nicht erst später, wenn die Kinder
gelernt haben, sich zu beschweren.
 Kinder lernen, sich zu beschweren, indem sie sich beschweren. Um
sich im Ernstfall auch über Erwachsene beschweren zu können,
müssen Kinder dies zuvor als NORMAL und ÜBLICH erfahren haben.
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Beschweren erwünscht!
1. Einleitung – Beschwerdeverfahren und Partizipation in
frühpädagogischen Diskursen
2. Begründungen I – Kinderrechte in
Kindertageseinrichtungen
3. Begründungen II – das pädagogische Verhältnis als
Machtverhältnis
4. Einmischen erwünscht! – Die Gestaltung des
Machtverhältnisses durch Partizipation
5. Beschweren als Alltagspraxis in der Kita
Frühpädagogische Abendvorlesung 29.10.2015, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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Wie läuft das hier?
Wer ist hier der
Bestimmer?
Was darf ich?
Was darf ich
nicht?
Ein Kind ist im Alltag der Einrichtung rechtlos die Pädagogin hat die absolute Macht
Es ist nachrangig, welche Rechte Kinder in der Einrichtung
haben.
Zunächst geht es darum, dass sie Rechte haben und diese
verbindlich garantiert sind.
„Recht Rechte zu haben“
Das
(Hannah Arendt)
muss im Alltag der pädagogischen Einrichtung strukturell
verankert werden.
Wie geht Partizipation?
Kinder können ihre Rechte nicht nachhaltig erkämpfen.
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Ein Vorschlag: Das Team als „verfassungsgebende
Versammlung“
Worüber sollen
die Kinder auf
jeden Fall
mitentscheiden
?
… in der die Fachkräfte die Rechte der Kinder in der Einrichtung klären
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Partizipation verlangt eine Klärung der
(Mitentscheidungs)Rechte der Kinder
Auszug aus einer Kita-Verfassung:
§ 10 Hygiene
(1) Die Kinder haben das Recht selbst zu entscheiden, ob sie gewickelt
werden. Sie haben das Recht mitzuentscheiden, wann, wie und von wem sie
gewickelt werden. Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
behalten sich das Recht vor zu bestimmen,
- dass und wann ein Kind gewickelt wird, wenn aus ihrer Sicht dem Kind oder
anderen durch die Ausscheidungen des Kindes akute gesundheitliche
Gefahren drohen,
- wo ein Kind sich aufhalten darf, wenn die Einrichtung oder
Einrichtungsgegenstände durch die Ausscheidungen des Kindes drohen
verschmutzt zu werden.
(2) …
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Partizipation verlangt eine Klärung der
(Mitentscheidungs)Rechte der Kinder
Kinder haben das Recht, sich über das Verhalten von
pädagogischen Mitarbeiter*innen in der Kita zu
beschweren
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Partizipation verlangt eine Klärung der
(Mitentscheidungs)Rechte der Kinder
Auszug aus einer Kita-Verfassung:
§ 19 Personal
(1) …
(2) Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichten sich,
den Kindern Möglichkeiten zu eröffnen, Beschwerden über Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter öffentlich zu äußern und anschließend
- entweder über diese Beschwerden öffentlich mit den Kindern zu
verhandeln und gegebenenfalls gemeinsam Konsequenzen zu beschließen
oder
- in ihrer Dienstversammlung über diese Beschwerden zu verhandeln,
gegebenenfalls Konsequenzen zu beschließen und den Kindern die Ergebnisse
ihrer Verhandlungen begründet mitzuteilen.
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Partizipation verlangt die Einführung verlässlicher
Entscheidungs-Gremien der Kinder
Es genügt nicht, Rechte zu haben.
Man muss seine Rechte auch kennen
und wissen, wie man sie einfordern kann.
Kinderparlamente
Kinderräte
Kinderkonferenzen
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Partizipation verlangt die Einführung verlässlicher
Entscheidungs-Gremien der Kinder
Auszug aus einer Kita-Verfassung:
§ 4 Kindersprechstunde
(1) Die Kindersprechstunde findet einmal in der Woche statt.
(2) Während der Kindersprechstunde empfängt die Einrichtungsleitung alle
Kinder, die ihr etwas mitteilen, Wünsche äußern oder Beschwerden
vorbringen wollen.
(3) Die jeweiligen Kinder selbst oder die Einrichtungsleitung mit Zustimmung
der jeweiligen Kinder können ein von den Kindern vorgebrachtes Thema einer
Gruppenkonferenz, dem Kinderparlament oder der Dienstversammlung der
pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Entscheidung vorlegen.
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Partizipation verlangt methodisch angemessene BeteiligungsVerfahren für die Kinder
Was brauchen Krippenkinder, um sich über das Verhalten
von pädagogischen MitarbeiterInnen zu beschweren?
Mecker-Briefkästen?
Kindersprechstunde bei der Leitung?
Tagesordnungspunkt „Beschwerden“
im Kinderparlament?
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Partizipation verlangt methodisch angemessene BeteiligungsVerfahren für die Kinder
Was brauchen Krippenkinder, um sich über das Verhalten
von pädagogischen MitarbeiterInnen zu beschweren?
Z.B. eine verabredete Kultur
des Sich-Einmischens
in der konkreten Situation
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Partizipation verlangt respektvolle Interaktionen mit den
Kindern
ein Kind
Was löst das in Ihnen aus, wenn sich Kolleg*innen über Ihr
Verhalten beschweren?
„Wir respektieren Babys [und ältere Kinder] nicht nur,
wir bringen unseren Respekt jedes Mal zum Ausdruck, wenn wir mit ihnen
interagieren.“ (Magda Gerber)
… auch wenn sie
uns widersprechen
und kritisieren.
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Beschweren erwünscht!
1. Einleitung – Beschwerdeverfahren und Partizipation in
frühpädagogischen Diskursen
2. Begründungen I – Kinderrechte in
Kindertageseinrichtungen
3. Begründungen II – das pädagogische Verhältnis als
Machtverhältnis
4. Einmischen erwünscht! – Die Gestaltung des
Machtverhältnisses durch Partizipation
5. Beschweren als Alltagspraxis in der Kita
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Empfehlungen zur Verankerung von Beschwerdeverfahren – acht
Prüffragen, die in den Fachkräfte-Teams konkret zu klären sind:
1. Worüber
dürfen sich
Kinder
beschweren?
2. Wie bringen
sie ihre
Beschwerden
zum Ausdruck?
3. Wie können
sie dazu
angeregt
werden,
Beschwerden
zu äußern?
4. Wo / bei
wem können
sie sich in der
und über die
Einrichtung
beschweren?
5. Wie werden
ihre
Beschwerden
aufgenommen
und
dokumentiert?
6. Wie werden
ihre
Beschwerden
bearbeitet /
Abhilfe
geschaffen?
7. Wie wird im gesamten Beschwerdeverfahren der Respekt gegenüber den Kindern
zum Ausdruck gebracht?
8. Wie unterstützen sich die Fachkräfte gegenseitig, um eine beschwerdefreundliche
Einrichtung zu realisieren?
Partizipation verlangt respektvolle Interaktionen mit den
Kindern
„Ich habe mich im Verlaufe eines halben Jahres
fünfmal dem Gericht gestellt …
Ich behaupte mit aller Entschiedenheit,
dass diese wenigen Fälle Grundstein meiner
eigenen Erziehung zu einem neuen
„konstitutionellen“ Pädagogen waren, der den
Kindern kein Unrecht tut, nicht weil er sie gern
hat oder liebt, sondern weil eine Institution
vorhanden ist, die sie gegen Rechtlosigkeit,
Willkür und Despotismus des Erziehers schützt.“
(Janusz Korczak)
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Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
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