Fallbeispiele

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Fallbeispiele
Fallbeispiel 1: Herr Wolfgang Schmidt (suizidaler Patient)
Bitte beantworten Sie für den Fall von Herrn Wolfgang Schmidt folgende Fragen:
Welche Merkmale für ein erhöhtes Suizidrisiko liegen bei Herrn Schmidt
vor?
Wie ist im Verlauf der Woche die Ausprägung der Suizidalität einzuschätzen?
Führen Sie anschließend ein Rollenspiel durch, in dem Sie ein Gespräch mit
Herrn Schmidt führen, bevor dieser den Suizid begeht. Herr Schmidt ist sehr
hoffnungslos und verzweifelt. Die Trennung von seiner Frau und den beiden
Kindern beschäftigt ihn sehr. Es erscheint ihm alles sinnlos, so möchte er nicht
weiterleben. Versuchen Sie ihn dazu zu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (bzw. sich auf die Behandlung einzulassen). Stärken Sie seine
Ambivalenz in Bezug auf einen Suizidversuch und besprechen Sie mit ihm, was
als Nächstes zu tun ist.
Fallbeispiel 1: Herr Wolfgang Schmidt (suizidaler Patient)
Herr Wolfgang Schmidt (38 Jahre) kommt in Begleitung eines Freundes an
einem Samstagabend in die Klinik. Er wirkt sehr angespannt und unruhig.
Es gehe ihm sehr schlecht, er fühle sich wertlos und sehe keinen Sinn mehr
zu leben. Er gibt an, dass er geplant habe, sich in seiner Garage durch eine
Vergiftung mit Kohlenmonoxid das Leben zu nehmen. Der Freund habe
ihn jedoch noch während seiner Vorbereitungen dort angetroffen, als er
ihn besuchen wollte. Er habe sich Sorgen um ihn gemacht, weil er zu einer
Verabredung am vorherigen Abend nicht erschienen sei. Als Auslöser für
seine augenblickliche Krise gibt Herr Schmidt an, dass sich seine Frau vor
einigen Tagen von ihm getrennt habe, da sie seinen vermehrten Alkoholkonsum nicht mehr ertragen habe. Sie wolle nun mit den beiden gemeinsamen Kindern ausziehen.
Herr Schmidt wird zur Krisenintervention in die Klinik aufgenommen.
Die biografische Anamnese ergibt, dass sich der Vater von Herrn Schmidt
suizidiert hat, als der Patient 17 Jahre alt war. Sein Bruder (-2 Jahre) verstarb
im Alter von 19 Jahren bei einem Autounfall. Herr Schmidt gibt an, dass er
sehr unter diesen Vorfällen gelitten habe. Nach dem Tod seines Bruders
habe er das erste Mal versucht, sich durch einen Sprung aus großer Höhe
das Leben zu nehmen. Nach diesem Ereignis wurde Herr Schmidt stationär
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und ambulant behandelt. Seit er seine Frau kennengelernt habe, sei er jedoch psychisch stabil gewesen und habe keiner weiteren Behandlung bedurft. Sie hätten geheiratet und zwei gemeinsame Kinder bekommen, die
heute sechs und acht Jahre alt seien. Von Beruf sei er Elektriker und habe
bis vor einem Jahr in diesem Beruf gearbeitet. Die Firma, in der er gearbeitet habe, sei jedoch pleitegegangen, weshalb er seither arbeitsuchend sei.
Herr Schmidt gibt an, dass er seit mehreren Jahren regelmäßig Alkohol
konsumiere, was aufgrund der zunehmenden Unzufriedenheit mit seiner
beruflichen Situation in den letzten Monaten weiter zugenommen habe.
Dies und zunehmende Streitigkeiten seien die Gründe, weswegen ihn seine
Frau mit den Kindern verlassen habe. Er habe insgesamt nur wenige soziale
Kontakte. Als Aufnahmediagnose werden eine schwere depressive Episode
und eine Alkoholabhängigkeit festgestellt, ferner ist bei Herrn Schmidt ein
Diabetes mellitus Typ 2 bekannt.
In der Klinik kann sich Herr Schmidt zunehmend von Suizidalität distanzieren, allerdings schwankt seine Stimmung sehr stark. Als er eines
Morgens nach dem Frühstück nicht zur Ergotherapie erscheint, sucht die
Krankenschwester Irene Müller nach ihm und findet ihn im Park der Klinik, wo er sich an einem abseits liegenden Baum erhängt hat. Nachdem sie
den Notfallalarm ausgelöst hat, eilen viele Kollegen zur Hilfe und der Rettungsdienst wird alarmiert. Herr Schmidt kann jedoch nicht wiederbelebt
werden.
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Fallbeispiele 2–4: belastete Kollegen
Im Folgenden finden Sie verschiedene Fallbeispiele von Kollegen, die durch den
Suizid einer anderen Person (hier: durch den Suizid von Herrn Wolfgang
Schmidt) belastet sind.
Bitte beantworten Sie für jedes Fallbeispiel zunächst folgende Fragen:
Welche Anzeichen der Belastung zeigt die Person?
Was können Sie tun, um die Person zu unterstützen?
Welche Unterstützung, glauben Sie, wäre hilfreich?
Welche Unterstützung, glauben Sie, wäre nicht hilfreich?
Führen Sie anschließend ein Rollenspiel durch, in dem Sie als kollegialer Unterstützer ein Gespräch mit der jeweiligen Person führen und ihr ein Unterstützungsangebot machen.
Fallbeispiel 2: Doktor Roland Hartmann (Stationsarzt)
Doktor Roland Hartmann (34 Jahre) ist Stationsarzt der betroffenen Station. Er arbeitet erst seit wenigen Monaten in der Klinik. Bei der Arbeit ist er
sehr engagiert, ruhig und bedacht. Zum Zeitpunkt des Suizides nimmt er
an einer Besprechung teil, aber als der Notfallalarm ausgelöst wird, eilt
auch er zu dem Notfall. Als er ankommt, versuchen Kollegen bereits, den
Patienten zu reanimieren. Der Rettungswagen trifft kurze Zeit später ein.
Allerdings kann nur noch der Tod des Patienten festgestellt werden.
Herr Dr. Hartmann versucht, seinen Oberarzt zu kontaktieren, den er
jedoch nicht sofort erreicht. Auf der Station herrscht Unruhe; ein Teil der
Patienten hat mitbekommen, dass der Rettungsdienst auf dem Klinikgelände war, und fragt, was passiert sei. Eine Kollegin kommt auf die Station, um
eine Therapiegruppe durchzuführen, und fragt ihn ebenfalls nach dem Geschehen. Ein Kollege der Pflege kommt zu ihm und teilt ihm mit, dass die
Angehörigen von Herrn Schmidt durch die Polizei über den Suizid informiert worden seien und nun in die Klinik kommen wollen. Herr Dr. Hartmann fühlt sich überfordert und mit dem Chaos alleingelassen.
Nachdem er gemeinsam mit dem Oberarzt ein schwieriges Gespräch mit
der Frau von Herrn Schmidt geführt hat, die über den Suizid ihres Mannes
sehr schockiert war und sich selbst, aber auch der Klinik gegenüber Vorwürfe gemacht hat, verlässt er die Klinik und fährt nach Hause. Da er erst
vor drei Monaten nach einer Trennung von seiner Partnerin in die Gegend
gezogen ist, hat er noch nicht viele Kontakte vor Ort und seine Wohnung
scheint ihm sehr leer. Er fragt sich, wie es zu dem Suizid kommen konnte
und warum der Patient dies gemacht hat. Er versucht zu schlafen, ist jedoch
sehr unruhig und hat nachts Albträume, in denen der suizidierte Patient
auftaucht.
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In den nächsten Tagen achtet Herr Dr. Hartmann sehr genau auf die
Suizidalität anderer Patienten und dokumentiert alle Patientengespräche
sehr sorgfältig, was ihn viel Zeit kostet. Er fühlt sich sehr erschöpft und
wird schneller ungeduldig als sonst. Er überlegt, ob er nicht besser in einem
anderen Fachbereich arbeiten soll, wo es weniger wahrscheinlich zu Suiziden kommt. Seine Kollegen erleben ihn als reizbarer und zynischer als
sonst. Als ein Kollege ihm von einem Suizidversuch eines Patienten auf einer anderen Station berichtet, bemerkt er, dass sein Herz schneller schlägt,
er sehr angespannt wird und seine Knie zittern.
Fallbeispiel 3: Irene Müller (Krankenschwester)
Irene Müller (57 Jahre) ist seit 39 Jahren als Krankenschwester tätig. Sie hat
ein quirliges Wesen und verrichtet ihre Arbeit auf der Station stets voller
Eifer. In ihrer beruflichen Laufbahn hat sie schon mehrere Suizidversuche
und drei vollendete Suizide von Patienten erlebt, die ihr zwar nahegegangen sind, sie aber nicht weiter beschäftigt haben. Sie war es, die Herrn
Schmidt im Park gefunden und den Alarm ausgelöst hat.
Als der Tod des Patienten festgestellt wird und die Beamten der Kriminalpolizei auf der Station eintreffen, fühlt sie sich plötzlich sehr unwohl. Sie
ist durcheinander und viele Gedanken rasen durch ihren Kopf. Sie macht
sich Vorwürfe, dass sie nicht eher nach Herrn Schmidt gesehen hatte. Auch
hat sie Sorge, dass sie ihre Aufsichtspflicht verletzt haben und vielleicht
rechtlich belangt werden könnte. Sie hat starkes Herzklopfen und zittert.
Sie nimmt diese Symptome sehr stark wahr, da sie solche Reaktionen nicht
von sich kennt. Als sie von der Pflegedienstleitung auf den Vorfall angesprochen wird, fängt sie an zu weinen und kann sich schlecht auf das Gespräch konzentrieren. Auch die Dokumentation des Vorfalls fällt ihr aufgrund ihrer inneren Unruhe und Anspannung schwer. Um sie herum ist es
sehr hektisch und unruhig; die Patienten fragen, was passiert sei. Sie würde
gerne die Station verlassen, aber hat noch einiges an Arbeit zu erledigen.
Die Kollegen um sie herum arbeiten hektisch und schnell. In ihrem Kopf
herrscht Chaos. Ihr kommen ihre Enkelkinder in den Sinn, die sie heute
eigentlich nach ihrem Dienst vom Kindergarten abholen wollte, um mit
ihnen den Nachmittag zu verbringen, da ihre Tochter arbeiten muss.
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Fallbeispiel 4: Renate Krause (Rettungsassistentin)
Renate Krause (37 Jahre) ist seit 12 Jahren als Rettungsassistentin tätig. Kollegen beschreiben sie als fleißig, engagiert und voller Arbeitseifer. In ihrer
beruflichen Laufbahn hat Renate Krause schon einige Suizidversuche und
mehrere vollendete Suizidversuche erlebt. Diese sind ihr zwar nahegegangen, haben sie jedoch längerfristig nicht weiter beschäftigt.
Frau Krause hat bereits einen sehr stressigen Arbeitstag mit mehreren anstrengenden Einsätzen hinter sich. Kurz vor Dienstschluss wird der RTW
zu einem Einsatz mit einer aufgefundenen leblosen Person gerufen. In einer
psychiatrischen Klinik hat sich ein Patient erhängt. Nach vergeblichen Reanimationsversuchen kann nur noch den Tod des Patienten festgestellt
werden. Frau Krause erkennt den suizidierten Patienten; es ist der Vater
eines Kindes, das in die gleiche Schule geht wie ihre Tochter.
Zurück auf der Wache, fühlt sich Frau Krause plötzlich sehr unwohl. Die
Kinder des Patienten beschäftigen sie sehr. Sie ist durcheinander, Gedanken rasen ihr durch den Kopf. Ihre Gedanken kreisen um die Frage nach
dem „Warum“ und sie grübelt darüber nach, was den Patienten zu solch
einer Handlung bewegt haben kann. Sie bekommt starkes Herzklopfen und
fängt an zu zittern. Solche Symptome hat sie zuvor bei sich nach einem
Einsatz noch nicht bemerkt und sie machen ihr zunehmend Angst. Als die
Kollegen beginnen, nach dem Einsatzgeschehen zu fragen, beginnt sie zu
weinen und berichtet von den Kindern des Patienten. Auf das Gespräch
kann sie sich nur schlecht konzentrieren. Ihre eigenen Kinder kommen ihr
in den Sinn, die sie eigentlich gleich von der Schule abholen wollte, aber sie
fühlt sich nicht in der Lage, Auto zu fahren. Am Arbeitsplatz muss sie zudem noch einiges erledigen, worauf sie sich aber ebenfalls schlecht konzentrieren kann.
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