Protokoll

Tagung „Schule in der Einwanderungsgesellschaft – Schule gemeinsam gestalten“
13.06.2015 PH Ludwigsburg
Protokoll Workshop IV
Die soziale Situation jugendlicher Sinti und Roma
Referentin: Therese Trauschein
Therese Trauschein hat 2012 ihre Masterarbeit an der Pädagogischen Hochschule Freiburg über die soziale Situation jugendlicher Sinti und Roma geschrieben und arbeitet als Sozialarbeiterin in Freiburg.
Zunächst wurde von der Referentin angemerkt, dass durch eine bundesweite Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014) nachgewiesen wurde, dass Sinti und Roma eine der
Bevölkerungsgruppen ist, die am meisten Ablehnung erfährt, wie bspw. zeigt, dass Sinti und
Roma in der Nachbarschaft von jedem dritten Befragten als “sehr oder eher unangenehm”
empfunden werden würden.
Sie werden oft als nicht integrierter Teil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen, denn
jeder fünfte Befragte denkt, dass sich ihr Lebensstil sehr stark von dem der Mehrheit unterscheidet. Es gibt zahlreiche Vorurteile, wie z.B. der Missbrauch von Sozialleistungen und
Kriminalität, obwohl den meisten Befragten kaum Angehörige der Sinti und Roma persönlich
bekannt sind. Dies führt zum gesellschaftlichen Ausschluss und zur Wahrnehmung als eine zu
kontrollierende Bedrohung.
Der Unterschied zwischen Sinti und Roma ist 93% nicht bewusst. Zunächst ist es also wichtig, überhaupt darüber informiert zu sein, wer die Sinti und Roma sind, welche Wurzeln sie
haben und wie ihre Lebensrealitäten heute aussehen. Beschränkt wird sich hier auf deutsche
Sinti und Roma:
„Sinti und Roma“ ist eine am Weltkongress der Roma 1970 festgelegte (deutschsprachige)
Selbstbezeichnung. „Sinti“ bezeichnet diejenigen, die seit dem 15. Jahrhundert auf deutschen
Gebieten leben, während „Roma“ später zugewanderte Gruppen und Gruppen aus Südosteuropa meint (oft als Gastarbeiter, Kriegsflüchtlinge, in Folge der europäischen Erweiterung,
...). Die Geschichte der Sinti und Roma lässt sich aufgrund fehlender historischer Selbstzeugnisse schwer rekonstruieren. Die rein mündliche überlieferte, varietätenreiche Sprache
„Romanes“ ist jedenfalls mit der altindischen Sprache Sanskrit verwandt und es wird von einer indischen Herkunft im 18. Jahrhundert ausgegangen.
Wanderungsbewegungen gab es schon seit dem 4. Jahrhundert, meist spielen wirtschaftliche
Motive, Verfolgung, Kriege etc. hier eine wichtige Rolle. Die umherziehenden Menschen
wurden im 15./16. Jahrhundert zu Deutsch als „Zigeuner“ bezeichnet und man meinte allgemein „nicht-sesshafte Bevölkerungsgruppen“, wozu bspw. auch Händler und Handwerker
gehörten. Bald wurden sie nicht nur geschätzt, sondern man misstraute ihnen (bspw. Annahme, dass sie Spione des Osmanischen Reiches sind) und Städte verschlossen sich aus Angst
vor der Zuwanderung armer Landbevölkerung. Nach und nach wurden gegen „Zigeuner“ Gesetze entlassen – von ihrer Vertreibung bis hin zur Straffreiheit bei ihrer Tötung. Im 18. Jahrhundert wollte man sie sesshaft machen und verbot das „Nomadisieren“, Eheschließung untereinander, verschiedene Berufe und das Sprechen ihre Sprache Romanes mit dem Ziel der
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Assimilation. Andrerseits wurde das Zigeunerleben aber auch immer wieder romantisiert und
galt als Gegenentwurf zu den Zwängen in der bürgerlichen Gesellschaft.
Vor allem durch den Historiker Heinrich Grellmann (1783) wurde ein einheitliches Bild von
Zigeunern geprägt, insgesamt eher dahingehend, dass Zigeuner kriminelle, erziehungsbedürftige Mängelwesen seien. Lange Zeit wurde außerdem nicht berücksichtigt, dass „Zigeuner“,
so wie heute die „Sinti und Roma“ eine sehr heterogene Gruppe sind, die unterschiedliche
Nationalitäten, Religionen, Sitten und rechtliche Status haben.
Im 19. Jahrhundert bildete sich der „ethnische“ Nationalismus aus und körperliche Merkmale
von Menschen wurden mit „kulturellen“, sozialen und ökonomischen Verhaltensweisen in
Verbindung gebracht. 1899 wurde ein „Zigeunernachrichtendienst“ in München geschafft, der
als erster Ansatz der systematischen Erfassung gilt. Während der NS-Zeit wurden diese Akten
genutzt. Angehörige der Sinti und Roma, denen angeborener Schwachsinn, Arbeitsscheu und
Kriminalität unterstellt wurde, wurden aufgrund von rassenideologischen Kriterien aus Schulen ausgeschlossen, verfolgt, zwangssterilisiert und in Familienverbänden nach Ausschwitz
deportiert. Die Zahl der ermordeten „Sinti und Roma“ wird auf 500.000 Menschen geschätzt.
Erst nach massiven Druck wurden in den 60er Jahren die rassistisch motivierte Verfolgung
anerkannt und Entschädigungsleistungen genehmigt. Erst 1982, nach der Gründung des
„Zentralrats deutscher Sinti und Roma“ wurde der Völkermord anerkannt.
Nach der NS-Zeit wurde der „Zigeunernachrichtendienst“ vom Landeskriminalamt fortgesetzt. In den 60ern änderte sich die Terminologie in „Landfahrer“. Es musste ein „Landfahrerbuch“ mit Fotos, Fingerabdrücken mitgeführt werden. Erst in den 90ern wurde die Sondererfassung gestoppt. Seit 1995 sind deutsche „Sinti und Roma“ als nationale Minderheit in
Deutschland anerkannt.
Der damals als Experte empfohlene „Zigeunerkenner“ Hermann Arnold (Mediziner) nutzte
Materialien der NS-rassenhygienischen Forschungsstelle und prägte das Bild vom „Wandertrieb“ der „Sinti und Roma“. Bis in die 70er wurde nicht zuletzt daher die Integrationsproblematik oft auf die kulturelle Differenz zurückgeführt, als sei die Identität und Lebensweise von
„Sinti und Roma“ durch ihre ethnische Gruppe festgeschrieben.
Im Folgenden berichtete die Referentin, wie die (Aus)Bildungsrealitäten und Erfahrungen
deutscher „Sinti und Roma“ aussehen. Die Ausführung basieren auf dem „Monitoring Minderheitenschutz“ (2002), der „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ (2011) und der Masterarbeit der Referentin. Im Rahmen dieser Arbeit hat die Referentin
2012 dreizehn 12-21-jährige Sinti und Roma, die in Deutschland geboren wurden oder eine
langjährige Genehmigung zum dauerhaften Aufenthalt haben, befragt. Ziel war es, mehr darüber zu erfahren, wie die Befragten ihre objektiven Lebensbedingungen wahrnehmen und
welche Erfahrungen sie mit der „Mehrheitsgesellschaft“ machen:
Es hat sich herausgestellt, dass klassische Bildungswünsche (wie der Wunsch nach beruflicher Ausbildung und nicht der nach selbstständiger Tätigkeit) und Bildungsverläufe (Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule) vorliegen. Nur ein geringer Anteil von „Sinti
und Roma“ besucht allerdings ein Gymnasium und ein sehr hoher Anteil besucht Sonderschulen. Häufig werden die Kinder bereits in Fördergrundschulen eingeschult. In den 70ern wurde
innerhalb einer Sinti-Siedlung eine Fördergrundschule gebaut, was ein Hinweis auf strukturelle Diskriminierung ist. Ebenso brechen viele Kinder die Schule ab. Auch eine Berufsausübung ist aufgrund geringer schulischer Qualifikation und negativer Vorurteile bei Arbeitge2
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bern schwer, sodass auch viele Sinti und Roma ihre Herkunft verschweigen oder selbstständig
werden (müssen).
Die Angehörigkeit zur Gruppe der Sinti und Roma wurde eher auf Nachfrage angegeben und
war in der Schule (z.T. bereits durch andere Familienangehörige an der Schule) den meisten
Lehrern und Schülern bekannt.
Die nationale Einordnung durch die Frage nach der Herkunft wird von den Befragten als
normal empfunden, so wie sie selber auch andere fragen würden „was die jetz sind und so (.)
von Kultur her (.) [...]“ (B. 18 J.). Diskriminierungserfahrungen durch Vorurteile und Beschimpfungen können zu einer verstärkten Orientierung an „ethnisch“ gleichen oder „ethnisch“ ähnlich angenommenen Gruppen führen. Einer der Befragten ist freiwillig an die Förderschule, die seine Cousinen besuchten gewechselt, weil an der zuvor besuchten Schule
sonst kaum „Ausländer“ waren, die ihn nicht verstanden haben. Der Umgang mit erfahrener
Diskriminierung geht von der Defensive über verbale Mittel bis zu körperlicher Gewalt. Die
Selbstidentifikation mit der jeweiligen Angehörigkeit ist unterschiedlich stark ausgeprägt (von
unwichtig bis zu Stolz auf die Herkunft). Ebenso wird der Begriff „Zigeuner“ von manchen
als diskriminierend erfahren, von anderen hingegen als Selbstbeschreibung benutzt. Traditionen spielen unterschiedlich starke Rollen, meist sind, für den Fall, dass Traditionen in der
Familie wichtig sind, eher Frauen von traditionellen Erwartungen betroffen.
In manchen Familien wird größtenteils oder ausschließlich in deutscher Sprache gesprochen,
in anderen ausschließlich Romanes, was dazu führen kann, dass schriftsprachliche Anforderungen die Kinder überfordern. Die Eltern haben (oft aufgrund früher familiärer Verpflichtungen beim Verdienen des Lebensunterhalts) eine geringe Schulbildung (wie sie bedauern)
und können ihre Kinder weniger gut unterstützen. Die Schulbildung wird aber von immer
mehr Sinti und Roma für sehr wichtig erachtet. Diskriminierungserfahrungen während der
eigenen Schulzeit und mangelnde Deutschkenntnisse können aber bei Eltern und Kindern eine
Distanz zur Schule erzeugen. Die Verfolgung von „Sinti und Roma“ in NS-Zeit spielt für viele der jungen Menschen eine große Rolle, da die Erfahrungen generationell weitergeben werden und zu großer emotionalen Betroffenheit führen. Dieses Thema nimmt jedoch im Unterricht wenig Raum ein.
Insgesamt hat sich gezeigt, dass es den vielfältigen Lebensverhältnissen der deutschen „Sinti
und Roma“ nicht gerecht wird, sie lediglich als historisch diskriminierte Minderheit mit geringem Bildungsstand und schlechten Berufsperspektiven in Deutschland wahrzunehmen.
Als Resümee wurde festgestellt, dass es den Bedarf an individuellen Lernmethoden und Orientierung am praktischen Alltag der Schüler gibt. Die Leistungsbewertung sollte als „Momentaufnahme“ ausgedrückt werden, damit die Möglichkeit zur Verbesserung erkannt wird.
Das Desinteresse an einer bestimmten Form der Vermittlung von Lernstoff, das allgemein bei
vielen Schülern vorhanden ist und sich auch in den Interviews herausstellte, sollte nicht als
Desinteresse am Lernstoff selbst gewertet werden
Die Mitschüler und Lehrer haben Einfluss auf die Selbstwahrnehmung der Schüler, vor allem
in Bezug auf ihre schulischen Fähigkeiten, so wurde z.B. einer der befragten Schüler von seinem Lehrer ermutigt die Realschule zu besuchen, weil er gut sei. Andrerseits können die Lehrer auch negativen Einfluss haben.
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Diskriminierungserfahrungen vor allem der Eltern, die z.T. in der Schule geschlagen wurden
etc. sollten berücksichtigt werden, um die Distanz mancher Eltern zur Schule nachvollziehen
zu können. Über persönliche Kontakte und wertschätzende Elternarbeit ist hier viel zu erreichen. Außerdem sollte die Unterstützung, die die Eltern ihren Kindern geben, nicht unterschätzt werden.
Innerhalb der pädagogischen Ausbildung sollte der Umgang mit Konflikten reflektiert werden und es sollten sich konstruktive Lösungsstrategien angeeignet werden.
Problemlagen sollten vor allem nicht sofort „kulturalisiert“ werden. Annahmen der Determiniertheit von Menschen durch ethnische oder nationale Herkunft oder „Kultur“ sollten verworfen werden. Pädagogen brauchen reflexives Verständnis gegenüber „ethnischer“ und nationaler Einordnung von Menschen und müssen sich der strukturellen Bedeutung und der Dominanzverhältnisse (Mehrheit vs. Minderheit) solcher Einordnungen bewusst sein, sollten
aber nicht den Status als „Fremde“ und „Andere“ bestätigen oder verstärken.
Ausgrenzungsmechanismen müssen erkannt und eingedämmt werden, damit nicht noch stärkere Fremdethnisierung und Selbstethnisierung stattfindet. Es muss darauf geachtet werden,
dass die ethnische oder nationale Herkunft von unterschiedlicher individueller Bedeutung ist.
Es gibt sowohl negative als positive Diskriminierung („Sinti und Roma sind musikalisch“).
Im Unterricht sollte sich thematisch mit „ethnischen“ Vorurteilen, Diskriminierung, Rassismus , aber auch der Geschichte der Sinti und Roma in der NS-Zeitauseinandergesetzte werden
und an Diskriminierungserfahrungen der Schüler angeknüpft werden. Den Schülern sollte
vermittelt werden, dass Ethnizität ein System von Vorstellungen ist und der subjektive Glaube
an eine Abstammungsgemeinschaft mit kulturellen Merkmalen (Sitten, Sprache..) oft benutzt
wird, um eine Machtposition zu erhalten.
Es sollte überlegt werden, welche Benachteiligung die Selektion des Schulsystems und das
„Abschieben“ auf Förderschulen mit sich bringt. Nicht lernbehinderte Kinder auf eine Förderschule zu schicken sollte, wie in der Diskussionsrunde geäußert wurde, von der Schulaufsicht
verhindert werden.
Stattdessen sollte Zusammenarbeit mit Vertretern von „Sinti und Roma“ stattfinden, um geeignete Maßnahmen zu schaffen, die Bildungssituation von „Sinti und Roma“ zu verbessern.
Zum Beispiel gibt es die Möglichkeit zeitweise Mediatoren, die Romanes beherrschen, einzusetzen, damit sie für die Kinder übersetzen können und diese sich nicht ausgesetzt fühlen,
sondern sicher werden. Hiermit hat eine der Seminarteilnehmerinnen bereits positive Erfahrungen gemacht. Der Zugang zum Unterricht und zum Lehrer würde für die Schüler auf diese
Weise erleichtert. In größeren Städten könnte auch der Unterricht zunächst in der Muttersprache stattfinden, wie es in Hamburg der Fall ist.
Zum Schluss wurde das Plädoyer geäußert, positive Bildungsbiographien in die Öffentlichkeit
zu transportieren. Dies ist das Ziel des Forschungsprojekts an der Pädagogischen Hochschule
Freiburg „Erfolgreiche Bildungsbiografien autochthoner und allochthoner (zugewanderter)
Sinti und Roma“. (Allerdings war dieses Projekt in der Diskussionsrunde nicht unumstritten,
da die Anzahl von 30 positiven Biographien ein recht geringes positives Gegenstück zur historischen Ausgrenzung und Verfolgung sei und außerdem Sinti und Roma, die keine Bildungschancen hatten, sich ausgegrenzt fühlen könnten, die Motivation eines solchen Projekts
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hinterfragt werden müsse (Neugier) und die Gelder besser für die Förderung der Kinder verwendet werden könnten.; so die Kritik aus der Teilnehmerschaft).
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