F. Reuter: Der Bann des Fremden 2015-4-159 Reuter - H-Soz-Kult

F. Reuter: Der Bann des Fremden
Reuter, Frank: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“. Göttingen: Wallstein Verlag 2014. ISBN: 978-38353-1578-5; 568 S.
Rezensiert von: Ulrich Hägele, Institut für
Medienwissenschaft, Universität Tübingen
Der Alltag, aber auch unsere Geschichte sind
voller Stereotype. Sie banalisieren, generalisieren, klassifizieren und schaffen Vorurteile. Im schlimmsten Fall dienen sie als Vehikel rassistischer Motivation: zur Kriminalisierung und Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung missliebiger Menschen. Im 20. Jahrhundert waren neben Juden und Menschen mit
dunkler Hautfarbe vor allem Sinti und Roma von stigmatisierenden und herablassenden Stereotypen betroffen. Diese konzentrierten sich auf verallgemeinerte vorgebliche Wesensmerkmale oder aber auf zumeist entwürdigende äußere Zuschreibungen des ‚Zigeuners‘. Wichtigstes Medium für die Genese der
Stereotype war und ist die Fotografie.
Frank Reuter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Dokumentations- und
Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma,
hat nun eine überragende Studie vorgelegt,
die in der internationalen Bildforschung ihresgleichen sucht: „Der Bann des Fremden.
Die fotografische Konstruktion des ‚Zigeuners‘“. Das umfassende Werk gliedert sich in
die vier Teile: „Voraussetzungen“, „Im Fokus
der Täter: NS-‚Zigeuner‘-Fotografie und Genozid“, „Wurzeln: ‚Zigeuner‘-Fotografie im
19. und frühen 20. Jahrhundert“ sowie „Fotografische Sichten auf Sinti und Roma nach
dem Genozid“.
In seinem einleitenden Abschnitt formuliert
der Autor seine zentrale Hypothese, wonach
„die visuelle oder mediale Repräsentation
grundsätzlich zu trennen“ sei „von den realen Menschen und deren Selbstverständnis“.
Es bestehe eine Diskrepanz zwischen der signifikanten Rolle des ‚Zigeuners‘ in kulturellen Ausdrucksformen wie Film, Literatur, Malerei und ihrer in Deutschland „zahlenmäßig
unbedeutende[n] Minderheit“. Seinen Ansatz
beschreibt der Verfasser wie folgt: „[. . . ] die
Motive und unterschiedlichen Erscheinungsformen des ‚Zigeuner‘-Stereotyps mit den
Strukturen, Normen und Selbstbildern der
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Mehrheitsgesellschaft in eine funktionale Beziehung zu setzen“. Im Fokus steht nicht nur
die Fotografie als Quelle, sondern vielmehr
ihre Wahrnehmung und mediale Rezeption:
„Primärer Untersuchungsgegenstand ist das
Sehen selbst.“ (S. 11) Dass sich unser Sehen
ebenso aus in der Vergangenheit generierten,
schemenhaften und kollektiv-sedimentierten
Bildern speist, dient als Folie, auf deren
Grundlage Frank Reuter seine Studie ausbreitet. Sehr plausibel erscheint eine forschungspraktische Einschränkung: Die sehr komplexe Frage nach der Rückwirkung „der Fremdbilder auf die Selbstbilder der Betroffenen“
(S. 12) musste er aus inhaltlichen, quellentechnischen und methodologischen Gründen aussparen.
Als Hauptquelle zieht Reuter die rund
30.000 Aufnahmen der „Rassenhygienischen
und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ (RHF) aus der NS-Zeit heran. Der
Bestand liegt heute im Bildarchiv des Bundesarchivs.1 Damit zusammenhängend flossen in die Untersuchung unter anderem Aspekte aus historischen Chroniken, der Kunstwissenschaft und Literatur sowie Bilder aus
der Nachkriegszeit mit ein. „Der Vorwurf der
Gottlosigkeit, gepaart mit Müßiggang, Bettelei und Devianz“ (S. 87), schuf seit der frühen Neuzeit den Hintergrund für über Generationen hinweg weitergereichte Stereotype,
die letztlich in den Völkermord mündeten. In
der Nachkriegszeit dann stellten sich die Kontinuitäten als eklatant heraus: „Die ideologische Erblast des Nationalsozialismus [wirkte]
im gesellschaftlichen Umgang mit der Minderheit der Sinti und Roma nach 1945 lange
Zeit fort.“ (S. 13) In diesem Sinne richtet der
Autor seinen Blick auf einzelne Fotografien
und deren Codes, aber auch auf „übergreifende Sinnzusammenhänge und Entwicklungslinien [. . . ]. Beide Perspektiven ergänzen sich
wechselseitig“ (S. 14).
Zunächst widmet sich Frank Reuter dem
methodologischen Zugang innerhalb der
transdisziplinär agierenden, modernen Bildwissenschaft. Bilder, darunter vor allem die
1 Im
Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs sind
die zum Bestand R 165 (RHF) gehörenden Fotografien recherchierbar unter: <https://www.bild.
bundesarchiv.de/>; die Schriftakten der RHF sind unter der gleichen Bestandsnummer überliefert im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde.
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fotografischen, so Reuter im Rekurs auf
Aby Warburg, Ernst Gombrich und Hans
Belting, seien „ihrer Natur nach intermedial,
sie passen sich dem historischen Wandel
der Medien an“. Unter dem Vorzeichen der
Historizität beruft er sich außerdem auf
Warburgs Postulat, demzufolge „Bildern eine
eigene Dynamik innewohnt, dass jene durch
die Zeiträume wandern, sich den historischen
Medien immer wieder anverwandeln und in
neuem Gewande erscheinen“ (S. 25).
Den Begriff des Stereotyps führt Frank Reuter zurück auf den amerikanischen Mediensoziologen Walter Lippmann und dessen berühmte Formel von den ‚Bildern in den Köpfen‘ (pictures in their heads) aus dem Jahr
1922, wonach namentlich über die Medien
„vorgefasste Meinungen über soziale Gruppen“ (S. 37) an die Öffentlichkeit gelangten
und auf diese Weise das Individuum beeinflussten. Reuter beruft sich ebenso auf Hans
Henning und die von ihm begründete historische Stereotypenforschung, welche die fixierten Bilder zu den entscheidenden Faktoren
geschichtlicher Prozesse rechnet. Visuell kristallisierten sich auf Fotografien folgende, zum
Teil diskriminierende Elemente innerhalb einer „‚Zigeuner‘-Ikonografie“ heraus: Mutter
mit Kind an der Brust, rauchende Frau, partielle Nacktheit, Fiedel als musikalische Objektivation, „Verortung“ im Naturraum, Verwahrlosung und Elend sowie chaotische Umstände (S. 112f.).
In seinem Hauptkapitel – es umfasst 180
Seiten – konzentriert sich Frank Reuter auf die
NS-Fotografie und deren Rolle im Kontext des
Genozids an Sinti und Roma. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RHF – darunter Robert Ritter, Eva Justin und Sophie Erhard – Letztere sollte bis in die 1980er-Jahre
an der Universität Tübingen ihre Studien unbehelligt weiterbetreiben – organisierten die
reichsweite Erfassung der Sinti und Roma im
großen Stil; dazu zählte auch die fotografische
Dokumentation in drei Teilen (frontal, halbseitlich, seitlich) analog zum Verfahren in Kriminologie und Anthropologie. Außerdem erfolgten farbige und schwarzweiße Teilansichten des Körpers, von Händen, Augen und Nasen.
Methodisch orientiert sich Reuter an der
Möglichkeit, die Fotografie als Teil der Er-
innerungskultur zu sehen, wie von Habbo
Knoch und Cornelia Brink vorgeschlagen. Die
überlieferten Bilder legen für die Nachgeborenen visuelles Zeugnis ab über die Existenz
von Menschen: „Bei den von der Rassenforschung erstellten Aufnahmen handelt es sich
vielfach um die letzten Bilder von Menschen,
deren Spuren sich in den Konzentrations- und
Vernichtungslagern verlieren.“ (S. 143)
Im Anschluss geht Frank Reuter einen
Schritt zurück und analysiert die Genese der
‚Zigeuner‘-Fotografie im 19. und frühen 20.
Jahrhundert. Bereits vor 1900 hatten sich anthropologische Verfahren in der Wissenschaft
durchgesetzt, die Typen-Fotografie nahm eine federführende Funktion ein. Es ging um
die Feststellung und Klassifizierung von Rassen, um Separierung des Fremden und letzten Endes um eine kulturhegemoniale Überhöhung des Eigenen. Diese Entwicklung erfolgte durchaus international. Namentlich in
Deutschland aber diente die anthropologische Fotografie „der Grenzziehung zwischen
bürgerlicher Norm und abweichendem, als
‚krank‘ oder ‚kriminell‘ bewerteten Verhalten.
Der ‚Fremde‘ war also zugleich der Außenseiter des sozialen Binnenraums“ (S. 312).
Eine damit verknüpfte Rolle spielte die ethnografische Fotografie, praktiziert unter anderem von deutschen und österreichischen
Volkskundlerinnen und Volkskundlern, aber
auch die Fotografie aus kommerziellen Erwägungen von professionellen Lichtbildern aus
dem Bildpostkartengewerbe gegen Ende des
19. Jahrhunderts bis Ende des Ersten Weltkrieges in Ungarn, Serbien, Mazedonien und
Albanien. Im Rückgriff auf die Tradierung in
Kunst und Literatur belegen diese Bilder die
Roma zumeist mit den Attributen: exotisch,
geheimnisvoll, unordentlich, lasziv und kinderreich – „ein inszenierter Typus“ (S. 315).
Das abschließende Kapitel behandelt die
Entwicklung des Bildes der Sinti und Roma
in der Zeit nach 1945. In der behördlichen Behandlung dieser Menschen gab es keine Stunde Null: Nach wie vor galten sie nicht nur
von Amts wegen als ‚asozial‘ oder kriminell:
„Selbst wenn der neue demokratische Rahmen die Möglichkeiten dazu erheblich einschränkte, wurden Sinti und Roma einem
diskriminierenden Sonderrecht unterworfen
und – unter Verwendung der NS-Akten – wei-
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terhin gesondert erfasst.“ (S. 423) Übereinstimmend dazu erscheint das Bild in den illustrierten Printmedien. Der „Stern“ etwa bediente in seinen Bildstrecken die überkommene visuelle Tradierung: „Hier werden die
klassischen ‚Zigeuner‘-Stereotype nebst biologistischen Erklärungsmodellen abgerufen: ein
vererbter Instinkt als kollektives Verhaltensmerkmal. [. . . ] Die Fotostrecke hat damit eine genuin entlastende Funktion für die deutsche Täterschaft.“ (S. 433) An dieser Praxis änderte sich bis in die 1990er-Jahre kaum etwas:
„Antiziganische Denkmuster und Haltungen
erfuhren nach 1945 im Gegensatz zum Antisemitismus keine grundsätzliche Ächtung; sie
blieben vielmehr fester Bestandteil des öffentlichen wie des wissenschaftlichen Diskurses.“
(S. 253) Erst der „neue fotografische Blick“
(S. 464) sollte die Stereotypisierung nach und
nach aufbrechen. Der Autor zieht hierzu beispielhaft die Arbeiten von Gert Schwab, Edgar Wüpper (1979) sowie Günter Hildenhagen (1992) heran.
„Der Bann des Fremden“ bietet erhellende Abrisse zur Historischen Bildforschung
und Visual History, über ‚Zigeuner‘-Diskurse,
Antiziganismus sowie über die Zusammenhänge von Stereotypisierung und Moderne
innerhalb der ethnografischen Visualisierung
mit der Kamera – im Verbund von Wissenschaft und medialer Aufnahme im Forschungsfeld: „So wie der Ethnologe dem letzten archaischen Volk des europäischen Kontinents seine kulturellen Geheimnisse zu entlocken sucht, auf der Suche nach dem Ursprung des Menschen, dient das Kameraauge dazu, den ‚Zigeuner‘ anthropologisch
zu fassen und festzuschreiben.“ (S. 82) Hierzu sei bemerkt, dass die fotografische Aufnahme durchaus auch in anderen Bereichen
lang anhaltende Stereotype beförderte, etwa in der Trachten- und Brauchforschung
volkskundlich-ethnografischer Provenienz.
In seinem minutiösen Vorgehen zeichnet
der Autor die Herangehensweisen der Täter
nach und beschreibt die Rolle der illustrierten
printmedialen Machwerke der Rassenideologie während des Nationalsozialismus. Ebenso vermittelt er Einblicke in die Publikationspraxis der ‚Zigeuner‘-Fotografie in der illustrierten Massenpresse der Weimarer Republik („Die Gartenlaube“, „Die Woche“, „At-
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lantis“, „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“). Das
wirklich Hervorstechende an der Studie ist,
dass Reuter seine fotografischen Quellen
nicht illustrativ verwendet, sondern sie Stück
für Stück beschreibt, analysiert und sodann
in den ikonologisch-historischen Zusammenhang bringt – eine enorme bildwissenschaftliche Leistung! Mit seinem monumentalen
Werk „Der Bann des Fremden“ ist Frank Reuter der große Wurf gelungen – präzise recherchiert, faktenreich, umfassend und spannend
geschrieben. Eine grandiose Studie, die methodologisch und quellentechnisch beispielhaft ist für eine interdisziplinäre Bildwissenschaft; ein Standardwerk, das keine Wünsche
offen lässt und für die Visuelle Kulturwissenschaft und darüber hinaus seine Zeichen setzen wird.
HistLit 2015-4-159 / Ulrich Hägele über Reuter, Frank: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“. Göttingen
2014, in: H-Soz-Kult 03.12.2015.
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