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Februar 16 | #537
Das Kommunale Kino Wiens, Akademiestraße 13, 1010 Wien
Hong Sang-soo, „Right Now, Wrong Then“, ab 12. Februar &
Pietro Marcello, „Bella e perduta“, ab 26. Februar im Stadtkino im Künstlerhaus
FrauenFilmTage 2016, von 26.2. bis 3.3. 2016 im Filmhaus Kino
The Power of Soju.
Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum kommt ein Film des südkoreanischen
Regiestars Hong Sang-soo regulär in die Kinos. Eine Liebeserklärung. RUDOLF THOME
I
m Oktober 2010 lief auf der Viennale von mir Das rote
Zimmer und von Hang Sang-soo Hahaha. Ich schickte
Ekkehard Knörer von „Cargo“ eine email und lud ihn ein,
sich meinen Film anzusehen. Er schrieb zurück, dass er nicht
kommen könne, weil er die Gelegenheit nutzen müsse, den
neuen Film von Hong Sang-soo zu sehen. Danach habe ich
seine Kritik dazu gelesen und war fasziniert. Ich hatte bis dahin
noch nie von Hong Sang-soo gehört. Zurück in Berlin habe
ich angefangen, alle erreichbaren Filme von Hong Sang-soo zu
besorgen. Den ganzen November über war ich beim Sehen von
insgesamt elf Filmen wie verzaubert. Und der Höhepunkt für
mich war sein bis dahin letzter Film Oki´s Movie. Das hatte ich
seit den Filmen von Jean-Luc Godard in den sechziger Jahren
nicht wieder erlebt.
Hong Sang-soo ist ein genuiner Kinoerzähler. Seine Geschichten sind extrem einfach, aber oft kompliziert erzählt, sodass man sie mindestens zweimal sehen muss, um die ganze
Vertracktheit seines Erzählens zu verstehen. Es geht bei ihm
immer um Männer, die fast immer Filmregisseure sind, und
Frauen, die meistens jünger sind, und im Verlauf dieser Geschichten ist das koreanische Getränk Soju sozusagen der dritte
Hauptdarsteller. Soju trinkt sich leichter als Wein, ist aber fast
so stark wie Schnaps und damit der perfekte Screwdriver, eine
Möglichkeit aus meiner Erinnerung, um Mädchen problemlos
ins Bett zu kriegen, was in seinen Filmen immer wunderbar
funktioniert hat.
In Right Now, Wrong Then gibt es, wie auch schon in den Filmen der letzten Jahre diese Szenen nicht mehr.Was ich sehr bedauere. Die Geschichte hier ist spartanisch einfach. Ham Chunsu, ein berühmter Filmregisseur ist von einem Provinzfestival in
der Nähe von Seoul eingeladen worden, zu seinem neuesten
Film ein Publikumsgespräch zu machen. Das Festival hat ihn in
Fortsetzung auf Seite 2 »
Inhalt
Der Tag, an dem der Schnee fiel.
Einblicke in die Arbeit
von Hong Sang-soo.
3
Mysterious Object at Noon.
Apichatpong Weerasethakuls Debütfilm
am 25.2. im Stadtkino.
6
FrauenFilmTage 2016.
Das beliebte Festival schlägt erneut
seine Zelte im Filmhaus Kino auf.
Zulassungsnummer GZ 02Z031555
Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.
7
02
Hong Sang-soo, „Right Now, Wrong Then“
» Fortsetzung von Seite 1
einem billigen Hostel untergebracht. Er schaut
morgens aus dem Fenster und sieht ein junges
Mädchen, das auf ihn wartet. Er denkt, die ist
jung, schlank und schön, und dass er aufpassen
muss, mit ihr nicht sofort eine Liebesgeschichte anzufangen. Sie arbeitet als Volontärin für
das Festival.Vor dem Hostel erfährt er von ihr,
dass sie ihn bewundert und dass seine Filme in
ihrem Leben schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben, und dass sie davon träume,
bei ihm in einem neuen Film mitzuarbeiten.
Der Regisseur sieht Leute, die in der Nähe
auf einem Eisstadion Schlittschuh fahren. In
der dritten Szene des Films zieht der Regisseur sie auf einem Brett mit Schlittschuhkufen
über das Eis. Sie freut sich. Er fällt, weil das
Eis glatt ist, hin. Er bezahlt den Eintritt. Danach geht er in einen Tempel und beobachtet
Heejung, ein anderes Mädchen. Er spricht sie
an und lädt sie ein, mit ihm einen Kaffee zu
trinken. Beide fangen an, sich Dinge aus ihrem Leben zu erzählen. Danach möchte er mit
ihr etwas Essen gehen. In der vierten Szene
essen sie zusammen, was man nicht sieht, und
trinken dazu Soju. Hong Sang-soo zeigt das
in einer Zehnminuten-Einstellung. Das Mädchen von der Seite. Er frontal. Er sagt immer
wieder „du bist so schön“. Sie sagt, weil er so
viel Soju trinkt „du bist ein richtiger Mann“.
Er antwortet „und du bist eine richtige Frau“.
Irgendwann hört er auf zu reden und starrt sie
einfach an. Beim ersten Sehen der DVD bin
ich bei dieser Szene total ausgeflippt. Das was
im Gesicht des Regisseurs Ham Chunsu zu
spüren ist, wurde plötzlich auch mein Gefühl.
Er gerät in eine Art von Trance und ich, weil
die Szene so lange dauert, auch. Ich habe das
Mädchen, das man nur von der Seite sieht, vor
allem ihren Hals, bewundert. Ich bin schon da
in eine Dimension jenseits von Kino abgerutscht, jenseits dessen was passiert, wenn man
normalerweise einen Film sieht. Von da an
wusste ich, dass ich diesen Film lieben werde.
Die Beiden besuchen das Atelier des Mädchens. Sie ist Malerin. Regisseur Ham Chunsu
kommentiert das Bild, das sie malt, mit Worten
wie „du bist auf einem schwierigen Weg, du
weißt noch nicht, wo du hin willst, aber du
hast Talent“. So wie eine Wahrsagerin sprechen
würde. Heejung ist tief beeindruckt.
Danach fällt Heejung ein, dass sie mit Freundinnen verabredet ist und sie gehen beide hin.
Es sind zwei ältere Frauen, die ihn umschwärmen und ihm Fragen stellen, wie das so ist als
Filmregisseur bei der Arbeit mit Schauspielerinnen, ob er mit ihnen Liebesgeschichten
habe. Bei seinen offenen Antworten, denn er
hat zunehmend weiter Soju getrunken, erzählt
er schließlich, dass er verheiratet ist und zwei
Kinder hat. Das Gesicht von Heejung, die ihn
da hingebracht hat, erstarrt bei seinen Antworten zunehmend. Sie ist verletzt über das, was
er sagt. Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht. Sie
sagt, dass sie müde ist, steht auf und verschwindet in einen Nebenraum.
Statt Soju wird auch manchmal Tee getrunken - sonst: ein typischer Hong Sang-soo
Er geht später zu ihr, aber sie schickt ihn
weg. Später geht sie allein nach Hause. Sie
wohnt noch immer bei ihrer Mutter und die
erwartet sie schon auf der Straße. Am zweiten
Tag im ersten Film macht Ham Chunsu sein
Publikumsgespräch. Er soll die Frage seines
Gastgebers beantworten, was für ihn Film bedeute. Was ist Film? Möglichst in einem Satz.
Ham Chunsu sucht nach Worten, findet keine
und fängt urplötzlich an, den Gastgeber zu beschimpfen. Er verlässt den Kinosaal, die Volontärin ist bei ihm, er schimpft weiter und fährt
zurück nach Seoul.
rät ins Schwimmen. Das verstärkt sich in der
Szene im Atelier des Mädchens. Sie benutzt
eine andere Farbe beim Malen eines Bilds und
das Bild sieht man diesmal nicht. Jetzt lobt er
sie nicht mehr, sondern kritisiert sie. Er sagt, sie
male aus Selbstmitleid und zu konventionell.
Das macht sie wütend. Sie sagt, dass er nicht
nachdenkt, bevor er den Mund aufmacht. Weil
er nicht weiter weiß, will er eine Zigarette
rauchen und das verbietet sie ihm.
Beim Sojutrinken im Restaurant, in derselben Einstellung wie im ersten Film gedreht,
kommt Hong Sang-soo’s unglaublicher Witz
Hong Sang-soos Geschichten sind extrem einfach, aber oft kompliziert erzählt, sodass man sie
mindestens zweimal sehen muss, um die ganze
Vertracktheit seines Erzählens zu verstehen.
Nach einem Schwenk auf eine Buddhastatue
beginnt der zweite Film, der jetzt so wie der
Haupttitel heißt. Der erste Film, dessen Ablauf
ich gerade erzählt habe, hieß „Wrong Now,
Right Then“. Das ist zunächst ziemlich verwirrend. Was ist wahr, was ist falsch?
In den Kritiken nach Locarno dachte ich,
dass mich der Film nicht wirklich interessieren
würde, denn alle schrieben, dass man zwischen
erstem und zweitem Teil vor allem auf die geringfügigen Veränderungen achten müsse. Darauf hatte ich keine Lust.
Der zweite Film beginnt so ähnlich. Die
Szene im Eislaufstation fällt weg. Die Begegnung mit der Heejung im Tempel und die Szene beim Kaffeetrinken sind fast gleich erzählt.
Das löst beim Anschauen bereits ein merkwürdiges Gefühl von Irrealität aus. Die Fiktion ge-
zum Vorschein, denn der zweite Film bezieht
sich auf den ersten Film. Heejung ist wie
verwandelt. Sie trinkt wesentlich mehr Soju
als im ersten Film. Er sagt zwar wieder, wie
schön sie ist und dass sie eine richtige Frau
sei. Aber sie antwortet, dass er das wahrscheinlich allen Frauen sage, die er kennenlernt. Er
schaut sie wieder lange an und gesteht, dass er
sich in sie verliebt habe. Sie lacht. Er sagt, ich
möchte dich heiraten. Sie: du bist ganz schön
verrückt. Er: aber ich kann dich nicht heiraten, denn ich bin schon verheiratet und habe
zwei Kinder, aber ich liebe dich. Da fängt
er plötzlich an zu weinen. Ihre Antwort: ich
wünschte ich hätte dich früher kennengelernt.
Damals warst du bestimmt schöner. Sind dir
viele Mädchen nachgelaufen? Er zieht einen
Ring aus der Tasche, den er vorher auf der
StadtkinoZeitung
Straße vor dem Restaurant gefunden hat. Sie
sagt, das ist unser Ehering und er sagt: jetzt
sind wir verheiratet. Beide strahlen und gehen dann zusammen zu Party im Café ihrer
Freundinnen. Heejung ist diesmal von Anfang
an im Nebenzimmer. Auch hier fragen ihn die
beiden Frauen aus. Ham Chunsu will nach einer Weile aufstehen, ist aber viel zu betrunken
und fällt auf den Boden. Die Freundinnen
sind bestürzt. Er rappelt sich wieder auf und
sagt, er habe das nur für sie gespielt. Er sei ein
guter Schauspieler. Dann fängt er an, seinen
Pullover, sein Hemd und seine Hose auszuziehen. Die Freundinnen sind zuerst irritiert
und dann schockiert. Denn er macht immer
weiter, und steht, was wir nicht sehen, nackt
vor den beiden Frauen da, denn diese schreien
völlig entsetzt laut auf.
Wieder angezogen geht er zu Heejung ins
Nebenzimmer und sagt ihr, dass er gehen will.
Sie fasst ihn sanft am Gesicht an. Er legt seine
Hand für einen Augenblick auf ihre Hand. Das
ist der zärtlichste Moment in dieser doppelten
Liebesgeschichte.
Es ist ein verrücktes wildes Kinomärchen
mit Dialogen wie in einem alten Hollywoodfilm.
•
Rudolf Thome, geboren 1939, ist einer der
international geachtetsten deutschen Filmemacher.
In den 60er Jahren begann er in Bonn als Filmkritiker, drehte aber bald seine ersten Filme, u.a.
1969 „Rote Sonne“ mit Marquard Bohm und
Uschi Obermaier, der zu einem Schlüsselwerk der
Münchner Filmemacher-Szene der späten 60er
Jahre avanciert. Seine Filme beschreiben immer
wieder das Verhältnis von Mann und Frau, aktuelle
Lebensverhältnisse und Bewusstseinszustände und
finden dabei stets neue Formen, Emotionen und
Bedürftigkeiten seiner Protagonisten darzustellen.
Zu seinen bekanntesten Filmen gehören „Detektive, Supergirl“, „Beschreibung einer Insel“, „Berlin Chamissoplatz“, „Tarot“, „Der Philosoph“,
„Frau fährt, Mann schläft“ und „Pink“. Er betreibt einen sehr empfehlenswerten Blog auf seiner
Homepage www.moana.de und ist ein bekennender
Fan der Filme Hong Sang-soos.
Hong Sang-soo
Jigeumeun matgo geuttaeneun teullida Right Now, Wrong Then
(Korea (Rep.) 2015)
Regie und Drehbuch Hong Sang-soo
Darsteller Jung Jae-young, Minhee Kim
Kamera Park Hong-yeol
Schnitt Hahm Sung-won
Musik Jeong Yong-jin
Ton Song Yea-jin
Produktion Jeonwonsa Film Co.
Verleih Stadtkino Filmverleih
Länge 121 Min.
Format DCP / Farbe
Ab 12. Februar im
Stadtkino im Künstlerhaus
StadtkinoZeitung
Hong Sang-soo, „Right Now, Wrong Then“
03
Der Tag, an dem der Schnee fiel
Hong Sang-soo über „Right Now, Wrong Then“. CHRISTOPHER SMALL & DANIEL KASMAN
E
inen Tag bevor Hong Sang-soo beim
Filmfestival in Locarno den Goldenen
Leopard erhielt, trafen ich und Daniel
den Regisseur auf der Veranda seines Hotels am
See.Während wir uns unterhielten, zogen Wolken von der Mitte des Sees auf und es begann
zu regnen. Dadurch erschien die Veranda mehr
und mehr wie ein intimer, abgeschlossener
Raum. Hong erzählte mit ruhiger Stimme,
und sich eine Zigarette nach der anderen ansteckend, von seinem Film, der sowohl bei der
Jury als auch beim Publikum gefeiert wurde.
Christopher Small Wir wollen mit einer
praktischen Frage beginnen. Du hast gesagt,
das Budget betrug ca. 100.000 Dollar …
Hong Sang-soo Nicht genau, die Produktion selbst hatte 50.000$, aber mit allem, was
dann noch dazu kommt, waren es wohl ca.
100.000$.
CS Gibt es ein Prozedere, das du normalerweise durchläufst, um Förderung zu bekommen?
Hong Ich bekomme keine Förderung mehr.
Ich kann überleben.
Daniel Kasman Weil du einen Produzenten
hast, der sich um diese Dinge kümmert?
Hong Ja, ich habe für fast jeden Film ein
paar Leute, die für mich arbeiten. Ich habe
Schauspieler, die für fast gar nichts arbeiten. Die Kosten sind somit sehr niedrig und
meine Filme finden ihr Publikum innerhalb
und außerhalb von Korea. Ich kann also ohne
Förderung oder ähnliches einen neuen Film
machen.
DK Bedeutet diese Unterstützung Freiraum,
einen Film anders zu drehen?
Hong Ich bin eben ein Glückskind. Ich kann
machen, was ich will und muss es nicht mit
jemandem diskutieren.
CS Warum kehrst du immer zu denselben
Figuren zurück? Es gibt auch in dem neuen
Film wieder einen Regisseur, eine Filmstudentin, einen Kritiker …
Hong Es kommt mir gelegen (lacht). Es ist
nicht so wichtig, dass es Filmregisseure sind,
verstehst du? Ich kenne sie nur. Ich habe
nicht das Bedürfnis, neue Berufe oder andere
Charaktere aufzuspüren. Was ich mit diesen
simplen Elementen in jedem Film mache, ist
wichtig. Eine neue Profession wäre gegen
meine Natur. Es entspricht mir eher, mit den
Dingen zu arbeiten, die ich bereits kenne und
so Neues zu entdecken. Ein Regisseur ist
lediglich eines dieser wichtigen Elemente, die
ich gut kenne. Ich würde keinen Film über
einen Piloten machen – müsste ich ihn beschreiben, wäre das vermutlich sehr stereotyp.
DK Wie viele deiner Filme endet auch dieser
mit einer gewissen Lektion: Der Regisseur
benimmt sich in der zweiten Geschichte des
Films besser, er ist ehrlicher und somit endet
es besser für ihn. Gehen deine Filme von
solchen Grundideen aus? Wo begann für dich
Right Now Wrong Then?
Hong Ich hatte zu Beginn gar keine Idee.
Meistens fange ich mit gar nichts an. Ich
kümmere mich um Drehorte und Schauspieler, aber nicht um Charaktere. Ich treffe
sie möglichst ohne eine Intention zu haben.
Ich denke mir nur: „Vielleicht will ich diesen
Mann oder diese Frau sehen“, dann rufe
ich sie an, wir treffen uns. Mich kümmert
es nicht, was sie in anderen Filmen gemacht
haben, die ich manchmal gar nicht gesehen
habe. Ich will nur die Person sehen. Diese ersten Eindrücke erinnern mich dann vielleicht
an etwas aus der Vergangenheit. Das ist wichtig für den Anfang. Und genauso funktioniert
es auch mit Drehorten. Manchmal durchstreife ich einfach ein paar Straßen, und wenn
ich ein Gefühl dafür habe, gehe ich einfach
zu einem Geschäftsbesitzer oder Lokalbesitzer und sage: „Ich bin Hong Sang-soo und
vielleicht drehe ich hier einen Film. Meine
Arbeitsweise ist etwas seltsam. Ich weiß nicht,
was ich tun werde, aber vielleicht komme ich
zwei, drei Mal her. Ich informiere Sie wegen
Hong Sang-soo mit seinem Goldenen Leoparden beim Filmfestival in Locarno 2015.
des Drehtages.“ Und so habe ich Drehorte
und Schauspieler. Dann gehe ich in ein Motel
oder Hotel und bleibe ein paar Tage, um
über eine Struktur nachzudenken. Manchmal fange ich auch ohne das an. Das ist okay.
Selbst wenn ich mir eine Struktur zu Recht
gelegt habe, ist sie alles andere als final, sie
dient nur als Vorwand, den Film anzufangen.
Manchmal beginne ich mit gar nichts. Mein
Assistent ruft dann an den Drehorten an und
sagt ihnen, dass ich komme, und ich rufe die
Schauspieler an. Am ersten Drehtag lege ich
endgültig fest, was ich mir ausgedacht habe.
Dann drehen wir und am Ende des Tages
sehe ich es mir an und versuche ein Gefühl
für den Rest des Films zu bekommen. Und
wenn sich das nicht einstellt, versuche ich es
am nächsten Tag wieder. Normalerweise habe
ich innerhalb von drei Tagen den Film im
Kopf. Und dann folge ich dieser Vision und
Hong Das ist das erste Mal, dass ich so arbeite. Obwohl es aussieht, als wäre die zweite
Episode dieselbe Geschichte, gibt es feine
Unterschiede in den Details: in unterschiedlichen emotionalen Einstellungen, Gesichtsausdrücken, bei der Intonation. Das war es,
was ich zu Beginn machen wollte – einen
Film mit einer verdoppelten Struktur, aber
mit Unterschieden. Wenn diese zu offensichtlich ausfallen, ist es leicht. Aber bei diesem
Film – was ist das? (lacht) Nur zwei unterschiedliche Welten, die nicht logisch erklärt
werden können. Die Unterschiede kann man
nur fühlen. Ich habe gehofft, das Publikum in
eine Art Schwebezustand zu bringen, sodass
es sich fragt: „Oooh, was ist Leben?“ (lacht).
DK War es eine Herausforderung, diese Szenen noch einmal unterschiedlich zu inszenieren?
Hong Ja, ein bisschen. Deshalb habe ich den
Ich gehe nicht mit festen Intentionen an
einen Film, sondern bin lieber offen für das,
was passiert. Das ist mein Temperament.
weiß manchmal nach der Hälfte des Drehs,
was ich eigentlich will.
DK Bedeutet das, dass du das Drehmaterial
der ersten Tage nicht verwendest?
Hong Doch, ich benutze alles. Aber das ist
meine Natur und so arbeite ich schon lange
Zeit. Irgendwie kann man dieses Material
verwenden. Seltsam, aber es geht.
CS Arbeitest du mit Schauspielern und Sets
genauso, dass du am Drehtag die Einstellung
festlegst?
Hong Was sie sagen und tun sollen ist immer
im Drehbuch. In der Früh bekommen sie das
für den jeweiligen Tag.Vor Drehbeginn beobachte ich so viel wie möglich. Ich will nicht
nach irgendwelchen Plänen arbeiten, denn
das bedeutet, dass man das wiederholt, was
man in der Vergangenheit gehört und gesehen
hat. Das ist nicht neu und nicht interessant.
Ich versuche eher zu beobachten und darauf
zu reagieren. Das ist alles viel interessanter
als das, was ich mir vorher ausdenken legen
hätte können. Nach irgendwelchen Absichten
vorzugehen, wäre für mich komplett uninteressant und langweilig. Ich brauche jeden Tag
etwas Neues, Unerwartetes. Nur so fühle ich
mich lebendig und kann arbeiten.
DK Ich habe gehört, du hast bei Right Now
Wrong Then zuerst die erste Geschichte
gedreht, sie den Schauspielern gezeigt und
dann den zweiten Teil. Warum hat dich diese
Konstellation interessiert?
ersten Teil geschnitten und den Hauptdarstellern gezeigt. Ohne es ihnen zu erklären – und
am Schluss habe ich nur gesagt: „Vielleicht
wollt ihr da ein bisschen einsamer werden,
oder ein bisschen mehr so.“ Ganz einfache
Anweisungen. Und zum Hauptdarsteller:
„Vielleicht hast du eine ähnliche Erfahrung
wie beim ersten Mal, aber jetzt willst du ein
guter Mann für diese Frau sein.“ Ganz einfach
– ohne große Erklärungen.
CS Wie lange dauert der Schnitt bei dir?
Hong Nur einen Tag. Es gibt nicht viele
Schnitte. (lacht) Es sind nur wenige Szenen
und ich weiß, was ich will. Es dauert oft nur
drei oder vier Stunden, und dann habe ich
den Film geschnitten. Dann brauche ich eine
Pause, etwa eine Woche, um es noch einmal
mit einem distanzierteren Blick zu sehen.
Und dann zeige ich ihn ein paar Freunden
um andere Ansichten zu bekommen. So fügt
sich dann alles zusammen.
DK Das hört sich nach einer ständigen Veränderung an – beim Drehen, beim Schneiden.
Hong Genau das brauche ich.
DK Hat der Film dich am Schluss überrascht?
Hong Ich war sehr neugierig, als ich den
Film meinen Freunden gezeigt habe. Und
musste zwei Stunden warten … (lacht)
CS Und das Publikum hier in Locarno?
Hong Ich habe ein gutes Gespür für die
Qualität von Applaus, und ich denke, hier war
er sehr gut.
DK Bei diesen langen Einstellungen frage
ich mich, wie viele Takes du drehst, bis es für
dich stimmt. Es sieht so aus, als bestünde eine
Choreografie zwischen dem Text und der
Darstellung.
Hong Das ist von Szene zu Szene unterschiedlich. Wenn es sehr lange dauert, dann 15
Takes, manchmal mehr. Aber normalerweise
sind es so 7-8 Wiederholungen.
DK Und die Trinkgelage?
Hong Wenn sie trinken, ich meine wirklich
trinken, dann brauche ich meistens 2 oder
drei Takes, denn sonst …
DK In der ersten Sushi-Szene im Film macht
der Schauspieler einen ziemlich betrunkenen
Eindruck.
Hong Er war es auch. Beide sind betrunken in der Szene. Wir haben es vielleicht im
zweiten Anlauf geschafft. Ich sagte: „Wenn
ihr euch betrinkt, dann können wir keine 10
Takes machen. Also konzentriert euch, seid
mutig und nichts wie ran!“
DK Die Anfangsmusik in deinen Filmen ist
oft ähnlich. Wie arbeitest du mit dem Komponisten?
Hong Ich verlange eigentlich nur drei Dinge: Einen schnellen Rhythmus, eine kurze
Melodie – wie bei einem Kinderlied, und auf
möglichst einfachen Instrumenten.
CS Die Musik die wir im Kino am Schluss
hören, ist die von Hill of Freedom (2014), nicht?
Hong Ja. Wenn die Musik zu stark ist, stößt sie
mit dem, was ich im Film machen will zusammen. Das will ich nicht sehen. Und ich will
auch keine emotionale Unterstützung durch
Musik. Ich will sie in der Mitte, ein bisschen
unabhängig, ein bisschen als Hilfe – sie soll mit
dem Film zusammenspielen, nicht darunterliegen, nicht darüber und nicht zu stark sein.
DK Da die Frau sich in den beiden Geschichten sehr subtil unterscheidet und der
Mann klarer anders ist, habe ich immer
auf sie geachtet um ihre Reaktion auf sein
Anderssein zu sehen. Für mich war sie eine
Art Wegweiser, zu sehen, was anders ist in der
Welt. Näherst du dich Frauen als moralische
Instanzen an oder als Bestätigung, ob du
etwas richtig machst?
Hong Vielleicht, ja. Aber auch bei Männern. Wir sollten es fühlen, aber vielleicht
tun Frauen es mehr? Darüber habe ich nie
nachgedacht. Ich glaube, dass – wenn man es
so nennen kann – „wahre Liebe“ zwischen
einem Mann und einer Frau das kostbarste im
Leben ist. Wahre Liebe. Es ist sehr schwer, sie
zu erreichen und zu bewahren.Vielleicht hast
du somit Recht. In meinem dritten Film gibt
es einen Zwischentitel aus Shakespeares Sommernachtstraum („Find’t seinen Deckel jeder
Topf, Und allen geht’s nach ihrem Kopf.“).
Und daran glaube ich fest. Das Leben scheint
sehr kompliziert und es gibt so viele Probleme. Aber wenn du jemanden wirklich
liebst und in dieser Beziehung erfolgreich
bist, dann tut dir alles andere nicht so weh. Da
es aber so schwer zu erreichen ist, suchen wir
immer nach anderen Lösungen. Bin ich jetzt
ein Romantiker? (lacht)
CS Das führt uns zum Ende des Films. Der
Film war zuvor ziemlich geradlinig, fast schon
ironisch und sehr witzig. Der Schluss ist aber
sehr zärtlich: Man sieht eine Frau im Kino,
der Regisseur kommt und setzt sich hinter
sie, die beiden beginnen zu reden. Und als
sie nach draußen gehen, schneit es. Wie hast
du diesen Wetterumschwung in den Film
gebracht?
Hong Nun, an diesem Tag hat es geschneit
und ich danke dem Himmel dafür. So arbeite
ich – ich passe mich den Gegebenheiten an.
Ich gehe nicht mit festen Intentionen an einen
Film, sondern bin lieber offen für das, was
passiert und versuche, danach zu reagieren und
etwas daraus zu machen, das am Schluss ein
Ganzes ergibt. Das ist mein Temperament.
Zuerst erschienen auf mubi.com - Übersetzung und
Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
04
Pietro Marcello, „Bella e perduta“
StadtkinoZeitung
Der Büffel Sarchiapone und sein Diener Pulcinella
„Dass dieser Palast wieder lebt“
Ein Meisterwerk: „Bella e perduta“ von Pietro Marcello. CLAUS PHILIPP
O
ft fällt in Zeiten der Veränderung der
Satz, es sei nun Schluss mit den Märchen. Gern wird von Dingen, die
– vermeintlich – „falsch“ dargestellt werden,
gesagt, es handle sich um Mythen, mit denen
man „aufräumen“ müsse. Besonders beklemmend agieren dann pessimistische „Realisten“,
die meinen, man müsse aufhören mit den
Märchenstunden, es sei Zeit, die Verhältnisse
so zu sehen und zu beschreiben, „wie sie sind“.
Dem sei einmal entgegengehalten: In Kampanien lebte einst ein armer Schafhirte, der
liebte einen alten Palast. Während Räuber und
Banditen bei jeder sich bietenden Gelegenheit die verfallenden Gemäuer zu plündern
suchten, wendete Tommaso all seine Zeit und
Mühe daran, das was vom alten Glanz noch
übrig war, zu erneuern. „Ich wünsche mir,
dass dieser Palast wieder lebt“, meinte er.Viele
hielten Tommaso für einen Narren, aber als er
an einem Weihnachtsabend starb, da beklagten
alle den Tod des „Engels von Carditello“. Und
wie zum Hohn bestellten die Mächtigen des
Landes nach Tommasos Abgang plötzlich einen Verwalter für den Palast, sie hängten eine
blaue Fahne mit vielen Sternen über sein Tor.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie noch heute des öfteren von Kulturerbe.
Irgendwo in Pietro Marcellos Bella e perduta fällt einmal der Satz, Märchen und Fabeln
sollten die Wahrheit bzw. von der Wahrheit
erzählen. Der junge italienische Filmemacher
wollte Leben und Arbeit des Tommaso Cestrone dokumentieren. Und von Beginn an wollte
er dessen Bemühungen um den königlichen
Palazzo di Carditello in einen märchenhaften
Zusammenhang rücken: Cestrone findet einen
kleinen Wasserbüffel; nach dem Tod des Hirten erfüllt eine klassische Figur der Commedia
dell’Arte, der maskierte Kasper Pulcinella den
letzten Wunsch des Verstorbenen.
Er nimmt sich des Büffels an und macht sich
mit ihm auf eine Reise durch ein Italien, in
dem in vielerlei Hinsicht vieles abhanden gekommen zu sein scheint: Das Verständnis für
und das wortwörtliche Verstehen von Tieren;
die Liebe zu einer Vergangenheit und zu (Erzähl-)Traditionen, die mit „Kulturerbe“ nur
unzureichend umschrieben sind; und, einhergehend mit dieser Entfremdung, der Natur wie
der Kultur gegenüber - die Fähigkeit, Gegenwart lebbar, nachvollziehbar werden zu lassen.
Man träumt wieder vom italienischen Kino,
wie es zu Zeiten der Fahrraddiebe quasi bei-
läufig höchste Leichtigkeit gepaart mit inständigster Ausdruckskraft verband, wenn man
Bella e perduta sieht. Einen stummen Schrei
von einem Film, einen Stummfilm geradezu
(wäre da nicht die von D’Annunzio, Leopardi,
Piovese inspirierte Sprache), in dem sich das
Hilflose und (wenn man so will) Lachhafte
zu wahrer Größe, Grandezza erheben. Allein,
wenn das Büffelbaby am Anfang des Films mit
von schwerem nassem Lehm über eine Wiese
stakst, versteht wirklich jedes Kind: Es gibt etwas Leichtes im Schweren, das es zu bewahren
gilt. Und wenn am Ende der ausgewachsene
Büffel vor dem Pritschenwagen zurückscheut,
mit dem er zur Schlachtbank transportiert
Vergehen. Wo er kein großes Hochglanz-Produkt bereitzustellen hat, verlässt er sich auf die
Magie der Handlungs- und Bild-Fragmente,
die fürwahr auch ein Breitwandepos tragen
würden. Und wenn er am Ende seinen Helden
und ihrer Bestimmung treu bleibt, anstatt auf
die Kitschtube zu drücken, dann ist das getragen von wahrer Erkenntnis.
Pulcinella, der maskierte Kaspar und Anarchist, er ist nämlich nicht nur eine Karnivalsfigur. Er ist wirklich ein Narr. Und weil er ein
Narr ist, will er irgendwann nicht länger maskiert durch die Lande zielen, sondern erkennbar Mensch und Liebhaber werden. Dafür bezahlt er nicht nur mit seiner Unsterblichkeit;
Es gibt etwas Leichtes im Schweren,
das es zu bewahren gilt.
werden wird: Nach Momenten wie diesem
kann man im Kino dieser Tage lange suchen.
Finden wird man sie vielleicht in den Filmen
eines Albert Serra, eines Miguel Gomés, eines
Aki Kaurismäki – großer Humanisten, denen
sich Pietro Marcello mit Bella é perduta nachgerade mühelos, in jedem Fall selbstverständlich zugesellt.
Es gibt in der Tat wenig mit diesem Film
Vergleichbares im Kino dieser Tage, in denen
sich wirklich alles gegen erzählerische Unabhängigkeit von ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher Schwerkraft zu wenden scheint:
Lieber deklinieren sogenannte „Arthouse“Produzenten und –Kinobetreiber die hundertste französische Mittelklasse-Komödie
oder die zweihundertste britische Kostümschmiere durch, bevor Filme wie Bella e perduta
die ihnen zustehende Öffentlichkeit erhalten,
ausserhalb dessen, was man heute gemeinhin
den Festival-Circuit nennt.War das früher besser? Ja, früher war das anders.
Und genau davon erzählt Pietro Marcello
mit diesem Film, in dem er gleichsam sämtliche Speere, die sich gegen ihn gerichtet haben, auf gleichmütigste, freundlichste, stoische
Weise umdreht: Den Tod seines Protagonisten,
der Marcello dem Vernehmen nach überrascht
und klarerweise hart getroffen hat, nimmt er
zum Ausgangspunkt für einen noch intensiveren, weitsichtigeren Blick auf allgemeines
sein Handeln bedeutet auch, dass sein Freund,
der Büffel (wie man so weise umgangssprachlich sagt:) „daran glauben muss“. Es ist kein
Verlass auf Narren, egal ob sie maskiert oder
als verliebte Menschen agieren, und der Preis,
der dafür zu zahlen ist – ihn bezahlen meistens
die Anderen.
Spätestens an diesem Punkt verlässt Bella e
perduta auch die Position der wie auch immer
„märchenhaften“ Dokumentation, und der
Film tritt ein in einen Raum des Mythischen,
des Mythos schlechthin, im Oszillieren zwischen (wir zitieren Hans Blumenberg) „Weltzeit und Lebenszeit“. Kann man dem Märchen
noch unterstellen, es vereinfache verworrene
Bedingungen zugunsten einer schematisierten
Komplexität, so geht der Mythos entschieden
weiter: Seine Voraussetzung sind gewissermaßen Veränderungen und Verwandlungen
(„Metamorphosen“), egal, ob es um Menschen geht, die von Göttern träumen, oder um
Götter, die sich mit den Menschen erst einigen
müssen.
Tommaso Cestrone, der Hirte, der nicht davon lassen konnte, einen alten hinfälligen Palast zu renovieren, mag auch ein Narr gewesen
sein. Pietro Marcello erweist ihm die Ehre,
diese Lesart stehen zu lassen und Certone
gleichzeitig in den Rang einer mythischen Figur zu erheben: Jemanden, der (einmal lacht
er, (weint er?) an einen Baum gelehnt) Vergan-
genes als Gegenwart zu lesen und zu verändern und zu verwandeln weiß. Man muss sich
Prometheus als einen begeisterungsfähigen
Menschen vorstellen, der Erkenntnis und Erfahrung teilen wollte. Dafür wurde er bestraft,
das war sein Ende. Aber über dieses Ende wird
ewig erzählt werden.
Nicht anders verhält es sich mit Sarchiapone,
dem kampanischen Wasserbüffel, der am Ende
eine Hinrichtung ohne Schuld über sich ergehen lassen muss. Er vollzieht den Lauf der
Dinge, wie sie eben sind, aber zugleich verschwindet er nicht im Vernichtungsapparat der
Alltäglichkeiten. Man weiß jetzt, dass er sprechen konnte. Man hört immer noch, was er
erzählt hat. Man hat gesehen, wie seine Augen
schimmern, und was sich in ihnen gespiegelt
hat, als er dem Ende entgegen sah.
•
Premiere am 26.2. in Anwesenheit des Regisseurs (angefragt) im Stadtkino im Künstlerhaus. In
Kooperation mit der Italienischen Zentrale für
Tourismus ENIT und den ÖBB verlosen wir
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Pietro Marcello
Bella e perduta
(Italien 2015)
Regie Pietro Marcello
Drehbuch Maurizio Braucci, Pietro Marcello
Darsteller Tommaso Cestrone, Sergio Vitolo,
Gesuino Pittalis, Elio Germano (Stimme)
Kamera Pietro Marcello, Salvatore Landi
Schnitt Sara Fgaier
Musik Marco Messina
Ton Riccardo Spagnol
Produktion L'Avventurosa Film, RAI Cinema
Verleih Stadtkino Filmverleih
Länge 87 Min.
Format 16mm / DCP / Farbe
Ab 26. Februar im
Stadtkino im Künstlerhaus
Pietro Marcello, „Bella e perduta“
StadtkinoZeitung
05
Was einmal war, ist für immer verloren
und wir begehren das Unmögliche
Ein Gespräch mit Pietro Marcello und Maurizio Braucci.
Die Entstehung des Films
Das Projekt war von einem Buch von Guido
Piovene inspiriert und von der Idee, eine Reise über die gesamte italienische Halbinsel zu
machen. Ausgangspunkt waren unsere eigenen
Wurzeln, also Kampanien, wo wir zufällig auf
den „Engel von Carditello“,Tommaso Cestrone, stießen und einen jahrhundertelang verlassenen Bourbonenpalast: die Geschichte dieses
Hirten, der im Palast nach dem Rechten sieht
und die männlichen Büffel vor ihrem Schicksal
bewahrt, hätte eine Episode des Films werden
sollen. Doch während der Dreharbeiten starb
Tommaso unerwartet und es schien uns wichtig, seiner Geschichte zu folgen. Der Film ist
gleichzeitig eine Dokumentation, ein Traum
(wie alle Träume voller Bezüge zur Realität)
und ein modernes Märchen.
Das Schloss von Carditello
Die Geschichte dieses Schlosses ist paradox,
exemplarisch für die Schizophrenie in unserer
Gesellschaft, in der viel vom Schutz der kulturellen und landschaftlichen Güter die Rede
ist – diese aber verfallen oder zerstört werden.
Das Schloss wurde von Charles de Bourbon im
18. Jahrhundert gebaut, es war eine „ModellFarm“, ein Ort, mit Vorreiterschaft, was Tierschutz betraf, und an dem Wissenschaftler aus
ganz Europa arbeiteten: eine gloriose „Institution“ – bis die Savoyen kamen, die das Schloss
einem Gutsherrn aus Casal di Principe überließen – einem Cammorista aus der Zeit – unter
dem der Niedergang begann. Im 20. Jahrhundert war das Schloss ein Versteck für den Casalesi-Clan und in seiner Umgebung ein Lager
für Waffenschmuggel. Aus all diesen Gründen
ist Carditello ein Symbol für die unvollständige
Geschichte Italiens, eines Italiens, das nie von
der Vision Mazzinis, von dem geplünderten Süden, vereint wurde. Es wurde zum Zeichen für
das Pech, das das Land der Arbeit überkommen
hat, das in den letzten Jahren ein Land der Feuer
wurde. Ein Land das sehr fruchtbar war, auf dem
drei Mal im Jahr geerntet werden konnte – und
das heute von drei Mülldeponien belagert wird
– eine davon zählt zu den größten Europas, und
einem Entwurf für eine Hochgeschwindigkeitszugverbindung.
Mensch und Natur:
ein universelles Thema
Wir präsentierten das Projekt indem wir mit
dem begonnen, was wir am Besten kannten,
aber das Umweltdesaster, das Kampanien traf,
ähnelt vielen auf der ganzen Welt und die Beziehung zwischen Mensch und Natur ist vermutlich ein ziemlich universelles Thema unserer Zeit: Bella e perduta ist eine sehr poetische
Geschichte – gesehen durch die Augen eines
Tiers – über diese Beziehung, in der aus Harmonie ein Konflikt wird. „unser“ Sarchiapone
ist gewissermaßen das Symbol einer mehr und
mehr überwältigenden Beziehung: An der Art,
wie Menschen ihre Tiere behandeln, misst man,
wie weit ihre Zivilisation fortgeschritten ist.
Der Zorn der Gerechten
Wer hat sich über die Jahrhunderte denn gegen die Gewalt, die der Natur angetan wurde, gewehrt? Das waren bestimmt nicht die
Beamten, die Büroangestellten. Es waren die
Bescheidenen, die Armen: Ihr Kämpfen wurde
oft als selbstsüchtig, reaktionär angesehen, aber
stattdessen – das haben wir über die Jahre gelernt – haben sie das Land und die Gesundheit
verteidigt. Die Protagonisten dieser Verteidigung waren diejenigen, die die Auswirkungen
dieser Attacken der Menschen auf die Natur
zu spüren bekommen haben: Vergiftetes Gras,
verseuchtes Wasser.Tommaso Cestrone war ein
Hirte, ein einfacher Mann, der das Schöne geliebt hat, der wusste, wie man es erkennt, aber
der nicht wusste, wie er das ausdrücken sollte
– außer durch seine Fürsorge, die er auch den
Tieren zukommen ließ: Das ist das Emblem
einer Generation, die, obwohl sie nicht über
die Werkzeuge verfügte, eine UmweltschutzDebatte zu führen, eine Bastion wurde – die
einzige zum Schutz der Landschaft. Bella e perduta ist die pikareske Erzählung der Abenteuer dieser zwei bescheidenen Seelen – einem
Menschen, Tommaso, und einem Tier, Sarchiapone – aber der Film erzählt auch die Geschichte einer Wiedergutmachung, in der die
demütigen Seelen, die Mythen, die Träger diese „Zorns der Gerechten“ werden, die ohne
intellektuell zu sein gegen Unehrlichkeit und
Spekulation aufstehen.
Pulcinella und das Märchen
Heute kennt man Pulcinella als maskierte Figur aus der Tradition der Commedia dell’Arte.
Eigentlich stammt er aber aus dem etruskischen Kulturkreis, wo er ein Halbgott war,
der den Toten zuhörte, die zu den Lebenden
sprachen, und Nachrichten aus dem Jenseits
überbrachte: unserem Pulcinella wurde die
Große Schönheit im bukolischen Stil
Aufgabe zuteil, Sarchiapone, den jungen Büffel, den Tommaso kurz vor seinem Tod gerettet
hatte, weg vom Schloss zu führen.Wir dachten
uns eine Reise aus, die die beiden an ein neues
Ziel, Tuscia, führen sollte. Und währenddessen erinnert sich das Tier wie durch Magie
an seine eigene Geschichte. Diese schrieben
wir direkt vor Ort, während wir uns auf diese Reise begaben, gewissermaßen als Antwort
auf die Umwelt. Als wir schließlich bei Gesuino, einem Hirten im nördlichen Latium
(Maremma), ankamen, versorgte uns er mit
einer weiteren Verbindung zwischen Märchen
und Realität. Er schlug uns ein tragisches „reales“ Ende für Sarchiapone vor: Das Tier kann
seinem Schicksal, Untertan des Menschen zu
sein, nicht entkommen. Und so steht am Ende
wieder der Tod, diesmal als Ritual, als Opfer,
aber nichtsdestotrotz: Der Tod des Tiers.
Pietro Marcello über
„Bella e perduta“
Meinen Blick auf Italien habe ich geschärft, als
ich viel mit dem Zug gefahren bin und die
Landschaften betrachtet habe. Mit der Zeit
habe ich die Schönheit und den Ruin des
Landes kennen gelernt. Oft habe ich darüber
nachgedacht, eine Art „Reisefilm“ zu drehen,
der die Provinzen durchstreifen und so das
Land beschreiben würde: Schön, ja, aber verloren. Leopardi beschrieb es einst als weinende
Frau, den Kopf in ihren Händen, aufgrund der
Lasten der Geschichte, das atavistische Böse zu
schön zu sein.
Als ich zufällig das Schloss von Carditello
und das Märchen – denn es ist in Wahrheit
eines – von Tommaso, dem „Engel von Carditello“, einem Hirten, der alles hinter sich ließ,
nur um sich um dieses verlassene Anwesen zu
kümmern, sah ich eine starke Metapher dafür,
was ich unbedingt beschreiben wollte. Was auf
den unerwarteten Tod Tommasos folgte, ursprünglich als „Reise durch Italien“ geplant
war, wurde ein anderer Film: Eine Verwebung
von Märchen und Dokumentation, von Traum
und Realität.
Carditello ist das Symbol verlorener Schönheit und dem Kampf eines Individuums, eines
Waisen, der sich keinem verrotteten Mechanismus der Zerstörung und des Verfalls ergeben will. Gleichzeitig ist der Film tief in der
Geschichte unseres Landes verwurzelt, und
erforscht ein Thema, das nie so universell war:
Die Beziehung zwischen Mensch und Natur.•
EDITION FILMMUSEUM 98
APICHATPONG WEERASETHAKUL
MYSTERIOUS OBJECT AT NOON
Mit dieser Edition liegt zum ersten Mal die vom Filmmuseum und der Film Foundation aufwändig restaurierte
Fassung von Apichatpong Weerasethakuls genreübergreifendem Langfilmdebüt Mysterious Object at Noon (2000)
auf DVD vor. Zum Bonusmaterial gehören drei vom Regisseur persönlich ausgewählte Kurzfilme – thirdworld (1997),
Worldly Desires (2005) und Monsoon (2011) – sowie exklusiv auf dieser DVD die 2009 erschienene und inzwischen
vergriffene Buchpublikation Apichatpong Weerasethakul von Filmmuseum und Synema als PDF im ROM-Bereich.
„… a film unlike any other …“ Elvis Mitchell, New York Times
Laufzeit: 85 Minuten (+63 Minuten Bonusmaterial), deutsche und englische Untertitel
All Regions, 16:9/4:3 PAL
DVD-Rom-Bereich mit 256-seitigem Buch als PDF (in englischer Sprache)
20-seitiges Booklet mit einem Text über Mysterious Object at Noon von James Quandt (erstmals in deutscher Übersetzung)
sowie Informationen zur Restaurierung
PREIS: €19,90 - ERHÄLTLICH IM FILMMUSEUM, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS, FILMHAUS KINO
AM SPITTELBERG UND AUF WWW.FILMMUSEUM.AT ODER WWW.EDITION-FILMMUSEUM.COM
Apichatpong Weerasethakul, „Mysterious Object at Noon“
06
Meine Geschichte ist
etwas unzusammenhängend
„Mysterious Object at Noon“ – jetzt restauriert. JAMES QUANDT
D
as erste Geschenk von Apichatpong
Weerasethakul an die Kritiker war
der Titel seines Langfilmdebüts: Seine
Filme wurden seither unzählige Male – und dies
gar nicht flapsig unbedacht, sondern ganz ernsthaft – als „geheimnisvolle Objekte“ bezeichnet.
Sich von vornherein auf die Rätselhaftigkeit
eines Werks zu berufen, setzt dessen Unergründlichkeit voraus und dient auch als vorauseilende
Entschuldigung, falls man an der kritischen Analyse scheitern sollte. Diese Taktik erweist sich bei
dem vorliegenden dichten und schillernden
„Dingsbums“ als besonders verlockend – angesichts seiner Ursprünge in der thailändischen
Populärkultur und im amerikanischen Dokumentar- und Experimentalfilm, seiner verwirrenden und erfrischenden Verschmelzung von
Genres (Märchen, Roadmovie, Dokumentar-,
Horror- und Science-Fiction-Film, Musical)
und Tonlagen (abwechselnd traurig, surreal, ausgelassen, scherzhaft oder rau) sowie seiner handgestrickten und zugleich höchst geordneten
Herangehensweise: Die Struktur des Films ist sowohl linear als auch verschachtelt, und schon im
Titel kommen das nicht Erfassbare (geheimnisvolles Objekt) und das zeitlich Exakte (Mittag)
sehr anschaulich zusammen. Während sich die
zeitliche Präzision als irreführend erweist (Zeit
kann hier kaum je festgemacht werden, sie befindet sich den ganzen Film über im Fluss, samt
historischer Anachronismen und mangelnder
Angaben zum Tagesablauf oder zur dreijährigen
Entstehungsdauer des Films), beruht der Modus
Apichatpong Weerasethakuls Debüt wird am 25.2. in einer
Sondervorstellung im Stadtkino im Künstlerhaus gezeigt.
Operandi von Mysterious Object at Noon wie so oft
in Apichatpongs späteren Arbeiten auf Überraschung und Unzuverlässigkeit: Der Film gleicht
einem bewussten Umherirren nicht nur im Verlauf der Erzählung, sondern auch hinsichtlich
formaler Aspekte wie der akustischen Quellen
und Erkennungsmerkmale auf der Tonspur, der
Abfolge der Einstellungen und der Identifizierung von Schauplätzen und Darstellern.
Mit einem winzigen Budget und mit zahlreichen Unterbrechungen gedreht, lehnt sich
Mysterious Object at Noon an das Modell des
Torsten Fischer und
Herbert Schäfer
Blue Moon
Eine Hommage an Billie Holiday
Regie Torsten Fischer
Bühnenbild und Kostüme Herbert Schäfer,
Mit
Vasilis Triantafillopoulos
Sona MacDonald und Nikolaus Okonkwo
»Hinreißend gelungen. MacDonald imitiert
Holiday nicht, sondern verschmilzt mit dem
Gesang, den sie zugleich sorgfältig präpariert.
Der Mond strahlt, die vierköpfige Band
(Leitung: Christian Frank) legt einen
daunenweichen Teppich. Formvollendet.«
(Der Standard)
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Cadavre exquis an – jenes berühmte, von den
französischen Surrealisten entwickelte Verfahren,
bei dem Zeichnungen oder Texte von einem
Künstler an den nächsten weitergegeben und
fortgeführt werden. Das Ausgangsmaterial bleibt
dabei dem jeweiligen Bearbeiter verborgen,
sodass jeder Zusatz nicht auf „logische“ oder
festgelegte Weise erfolgt. Daraus resultiert ein
kollektives, zufällig zusammengesetztes Werk.
Das Wechselspiel von Zufall und Berechnung
in dieser Art desadditiven Erzählens, das Changieren zwischen „blinden“, ungestümen oder
unbeabsichtigten Details einerseits und ihrer
gewaltsamen Einarbeitung in einen gegliederten
Ablaufandererseits, wurde von Apichatpong virtuos genützt.
Apichatpong und seine Assistenten reisten
von Norden nach Süden durch das ländliche
Thailand, wobei sie ein unsichtbares geografisches Muster auf eine scheinbar ziellose
Fortbewegung übertrugen und Fremde aufforderten, vor Ort zu improvisieren, d.h. eine
Geschichte weiterzuspinnen, die zuerst von
einer Frau am Beginn des Films erzählt wurde. Doch der Schleier der Ungewissheit, der
über der Autobiografie der Frau liegt, die die
Geschichte ins Leben rief, lässt den Zuschauer
nicht nur hinterfragen, ob der herzzerreißende
Bericht über ihre eigene – man vermutet, reale – schmerzhafte Vergangenheit, dem sie eine
Fiktion anfügt (die fantasierte Flucht einer
Lehrerin namens Dogfahr, die einen querschnittgelähmten Jungen in einem Rollstuhl
pflegt), der Wahrheit entspricht, sondern auch,
was prinzipiell im Film als „real“ oder nicht
konstruiert gelten kann.
„Es war einmal“, der erste der zahlreichen
Stummfilm-ähnlichen Zwischentitel von Mysterious Object at Noon, beschwört schon vor dem
eigentlichen Beginn des Films eine spielerische
oder märchenhafte Aura herauf, die unmittelbar mit der dokumentarischen Beschaffenheit
des Vorspanns bricht – das erste Beispiel für das
ständige Pendeln des Films zwischen Ebenen
und Stimmungen. Gedreht wurde im 16mmFormat, in grobkörnigem, häufig überbelichtetem Schwarzweiß und mit der Handkamera.
All dies verleiht dem Film eine vielleicht ungewollte „Direct Cinema“-Authentizität, die
im Kontrast zum oftmals fantastischen Erzählmaterial steht. (Man könnte hier z. B. an die
Kombination aus Gespensterhaftem und Neorealismus denken, wie sie Roberto Rossellini
in La macchina ammazzacattivi - Die Maschine
Bösetöter (1952) praktizierte). Mysterious Object
at Noon beginnt mit einem Lieblingsverfahren
Apichatpongs: einer langen, ungeschnittenen
Kamerafahrt durch Straßen und über Autobahnen (in seinen späteren Filmen finden diese
Fahrten unter freiem Himmel und am Land
statt und sind befreiender als hier im engen
städtischen Raum).Während sich das Fahrzeug,
aus dem die Kamera blickt, verlangsamt und ei-
StadtkinoZeitung
nen schlingernden Weg durch den Dschungel
der Straßenschilder bahnt, annonciert die Tonspur zuerst den Namen einer thailändischen
Soap Opera namens Tomorrow I Will Love You
- Morgen werde ich dich lieben und beginnt dann,
Fragmente von Radiowerbungen wiederzugeben: Reklamen für Kräuter-Räucherwerk der
Marke Chatra Lotus (ideal für buddhistische
Rituale) oder für gedünsteten und gesalzenen
Thunfisch, Meeresfrüchte und Krabbensauce.
Die Quelle der Werbesprüche bleibt ungeklärt,
sie kann nicht eindeutig verortet werden und
kommt vielleicht aus einem Radio im Fahrzeug oder aus den Läden, die den Weg des bis
jetzt unidentifizierten Fahrzeugs säumen; oder
sie stammt überhaupt nicht aus dem Ort der
Handlung. Ein paar abrupte Schnitte offenbaren schließlich sowohl den Lieferwagen als
auch den Ursprung der Werbesprüche: Es handelt sich um einen Fischverkäufer, der mittels
Mikrofon Produkte bewirbt und deren Preise
ansagt, während er nach einem Parkplatz sucht,
um seine Waren zu verkaufen.
Ganz gegen seinen Charakter erscheint
Apichatpong in Mysterious Object at Noon zunächst wie ein Materialist – wie ein moderner Naruse, der auf Geldbeträge, auf den Preis
von Dingen fixiert ist. Acht oder neun Baht
für verschiedene Arten Fisch; fünfzig, sechzig,
achtzig Baht für Schuhe; 38.000 Baht für ein
Hörgerät; 500 Baht pro Nadelstich für einen
Arzt, der einen verletzten Kickboxer vernäht;
und, im wohl erschütterndsten Beispiel: die
1700 Baht, die ein Mann als Bezahlung für seine Tochter erhält. Der Rest des Films entwickelt sich aus der sonderbaren Geschichte, die
eben diese Tochter über Dogfahr und deren
Schützling, den an den Rollstuhl gefesselten
Jungen erzählt. Die Erzählung wird ihr auf eine
Weise abgerungen, die die Authentizität ihrer
eigenen Lebensgeschichte in Zweifelstellt. Sie
schildert in einem ergreifenden Bericht, wie
sie von ihrem Vater einem Onkel als Bezahlung für eine Busfahrkarte überlassen wurde
und anschließend aus ihrer ländlichen Heimat
nach Bangkok flüchtete. Die Off-Stimme des
Regisseurs fragt bei der aufgelösten Frau sanft
nach, ob sie noch „andere Geschichten“ weiß,
und versichert ihr, „(es kann) eine wirkliche
oder ausgedachte (sein)“ – ein Hinweis darauf,
dass ihre Lebensgeschichte genauso so erfunden oder übertrieben sein könnte wie andere
Erzählungen im Film.
Mysterious Object at Noon wurde oft als Dokumentarfilm bezeichnet, obwohl nichtganz klar
ist, was hier „dokumentiert“ sein sollte: die Genese des Films selbst vielleicht oder das nationale
Unbewusste der ländlichen Bevölkerung? Der
Film hat in seinen Porträts der verschiedenen
Menschen sicherlich den Charakter einer protokollierenden Beobachtung: Deren gesprochene,
gesungene, geschriebene, gebärdensprachliche
Reaktionen auf die Dogfahr-Geschichte offenbaren sowohl die beißende Schärfe mündlich
überlieferter Volkssagen als auch die Bewusstheit
modernistischer Erzählweisen; in diesem Sinn
fungiert der Film gleichzeitig als Dokument
und als Fiktion, als Porträt eines Landes und als
Studie seiner kollektiven Traumwelt. Apichatpong hat allerdings den bloßen Begriff des Dokumentarfilms dezidiert abgelehnt:
„Ich glaube nicht an den Dokumentarfilm, so
wie er gemeinhin verstanden wird. Ich glaube
nicht an Realität im Film. Für mich gibt es da
keine Realität, weil das Filmemachen ein sehr
künstlicher Vorgang ist. Also gibt selbst das, was
man als Dokumentarfilm bezeichnet, die Wahrheit nicht wieder, weil es zu subjektiv ist und
man keinen Film dreht, nur um sich bestimmte
Dinge genauer anzusehen. Deshalb glaube ich,
dass die Filme nur mein eigener Ausdruck
meines Lebens sind. Aber das bedeutet nicht
notwendigerweise die Wahrheit.“
•
Der vollständige Text (Übersetzung von Renaud
Tschirner) ist im Booklet der DVD Ausgabe
„Mysterious Object at Noon“ der Edition Filmmuseum enthalten.Wir präsentieren die restaurierte
Fassung des Films am 25. Februar um 19 Uhr im
Stadtkino im Künstlerhaus in Kooperation mit
dem Österreichischen Filmmuseum. Die DVD
ist ab sofort auch an unseren Kinokassen erhältlich.
Restored in 2013 by the Austrian Film Museum
and the World Cinema Project.
Apichatpong Weerasethakuls aktueller Film „Cemetery of Splendour“ ist weiterhin in unseren Kinos zu
sehen.
StadtkinoZeitung
FrauenFilmTage 2016
07
Neue Frauenfiguren im Film
Wieder im Filmhaus Kino am Spittelberg: Die FrauenFilmTage 2016.
Nahid
A
ntiheldinnen im Film straucheln, fallen
nieder und finden ihren eigenen Weg.
Sie versuchen den Konventionen zu
entsprechen und doch gelingt es ihnen nicht
immer, ihre persönlichen Bedürfnisse mit jenen der Familie und Gesellschaft in Einklang
zu bringen. Die FrauenFilmTage 2016 widmen
einen Teil der Filme diesen Antiheldinnen.
Wichtig ist dabei, dass es keine Frauenfiguren
aus der Retorte sind und es keine Lebensläufe
sind, die man im Kino schon vielfach gesehen
hat. Ganz im Gegenteil haben die Protagonistinnen ein Recht darauf zu scheitern und ihre
ganz eigenen Wege zu gehen. Die Veranstalterinnen der FrauenFilmTage finden, dass das den
Blick auf Frauenfiguren im Film ungemein
erweitert.
Für ihren ersten Spielfilm Vergine giurata über
eine junge Albanerin, die an einem sozialen Leben nur als Mann - indem sie ihrer Sexualität
abschwört - teilnehmen kann, konnte Laura
Bispuri als Hauptdarstellerin Alba Rohrwacher gewinnen. Sie verkörpert „Mark“, die in
ihrer albanischen Gemeinschaft nun als Mann
wahrgenommen wird - in ihrer Körperhaltung
und Gestik beeindruckend! Der Rollenzwang
in dem sich „Mark“ befindet wird nach Jahren brüchig und sie beschließt sich auf die Suche nach ihrer Schwester in Italien zu machen.
Langsam zerbricht das Schutzschild, das sie sich
jahrelang aufgebaut hat.
Dass auch im Iran eine neue, junge Generation von FilmemacherInnen heranwächst
beweist der erste Spielfilm von Ida Panahandeh. In Nahid ist die Hauptprotagonistin Sarah Bayet tief verschuldet und kämpft jeden
Tag um ihr finanzielles Überleben. Geschieden
von ihrem drogensüchtigen Mann darf sie ihre
neue Liebe nicht heiraten, ohne das Sorgerecht
für ihren Sohn zu verlieren. Aus diesem Zwiespalt entsteht eine Kette von Maßnahmen mit
dem Ziel, sich ihre materiellen Wünsche zu
erfüllen – auch wenn das gerade ein rotes Sofa
ist - und ihre Liebe zu leben. Ida Panahandeh
hat bisher Kurz- und Dokumentarfilme realisiert und für das Fernsehen gearbeitet. Ihr erster Spielfilm hatte Premiere auf dem Filmfest
in Cannes 2015.
Auch von Schulden geplagt und konfrontiert
mit einem neuen Wirtschaftssystem ist Nino, die
Protagonistin Salome Alexis Spielfilm Kreditis
Limit (zu Gast auch bei Crossing Europe 2015).
Nino versucht trotz der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse das Familienleben aufrecht zu
erhalten und jedem Mitglied seinen gewohnten
Lebensstandard zu ermöglichen. Dass das nur
gelingt, in dem die Familienwerte verkauft und
verpfändet werden, ist die dunkle Seite der Geschichte, die von Regisseurin Salome Alexis paradox-humorvoll erzählt wird. Die Regisseurin
wird zur Vorführung anwesend sein und über
Frauen & Humor im Film sprechen.
The Girl King
Unangepasst agiert auch Königin Kristine,
wunderbar dargestellt von Malin Buska in Mika
Kaurismäkis aktuellem Film The Girl King. Kristine musste als 18-Jährige die Thronfolge antreten, war unglaublich gut im Fechten und
weit ihrer Zeit (1626-1689!) voraus als Modernisiererin ihres Landes. Sie war mit Descartes
auf Du und Du und hat sich blindlings in ihre
Hofdame Ebba Sparre (Sarah Gadon) verliebt,
eine nicht zu akzeptierende Verbindung in den
Augen des Kanzlers, dargestellt von Michael
Nyqvist (Verblendung). In Nebenrollen Martina
Gedeck als irre Mutter in noch irrerem Kostüm
und Peter Lohmeyer als Bischof von Stockholm
– ein lustvoller Griff in die Melodramen-Kiste
und ein Kostümschinken erster Güte. Was für
ein Spaß an der Freude! Regie: Mika Kaurismäki (Moro no Brasil, Mama Africa).
•
FrauenFilmTage von 26.2. bis 3.3. 2016
im Filmhaus Kino
Eröffnung am 25.2.2016 im Filmcasino
Veranstaltung zu Frauen & Flucht
im Haus der Europäischen Union
am 4.3.2016
Programm unter www.frauenfilmtage.at
Die FrauenFilmTage 2016 werden gefördert von
Filminstitut,Wien Kultur, Österreichische Entwicklungszusammenarbeit,VDFS,VAM, F&MA,
Bundesministerium für Bildung und Frauen.
» Wenn also die
GRENZEN unsere
STÄDTE durchziehen und
ZERTEILEN, dann sind
der KAMPF um
DEMOKRATISIERUNG
oder die Acts of Citizenship
gerade hier zu
VERORTEN.«
Jochen Becker / metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten
dérive N°61: Perspektiven eines kooperativen Urbanismus, S. 11
Jetz
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Vergine giurata
Impressum Telefonische Reservierungen von Mo. bis Do. 8.30-17 Uhr, Fr. 8.30-14 Uhr
unter 522 48 14 – während der Kassaöffnungszeiten: Stadtkino im Künstlerhaus Akademiestraße 13, 1010 Wien, Tel. 712 62 76 / Filmhaus Kino am Spittelberg Spittelberggasse
3, 1070 Tel. 522 48 16. Online www.stadtkinowien.at Herausgeber, Medieninhaber
Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H., Spittelberggasse 3/3, 1070 Wien
Graphisches Konzept Markus Raffetseder Redaktion Claus Philipp Druck
Druck Styria GmbH & Co KG, Styriastraße 20, 8042 Graz Offenlegung
gemäß Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand Kino, Verleih, Videothek Nach § 25 (4) Vermittlung von Informationen auf dem Sektor Film und Kino-Kultur. Ankündigung von Veranstaltungen des Stadtkinos. Preis pro Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555
Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.
Zeitschrift für Stadtforschung
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26.01.16 12:07
Aus dem Nichts
Ein Film von Angela Summereder
AB 11. MÄRZ 2016 IM KINO
Ko nzept und Ges tal tung Ecke B onk / Pho to Daniela Zei linger / B il dbear bei tung Arthu r Summereder / N ach ei nem G emä l de vo n René Magri tte, Le P ri nci pe du P l ai si r (Da s L ustpri nzi p), 1937