Diese PDF-Datei herunterladen - Zeitschrift für Gesundheit und Sport

Weitsprung mit Prothese: Wie schnell muss man
anlaufen und wie effektiv den Anlauf im Absprung umsetzen, um 8,24m weit zu springen?
Stefan Letzelter
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird gezeigt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, mit Anlaufgeschwindigkeiten von 9,50 bzw. 9,75m/s sowie umlenkungsbedingten Verlusten von 1,00 bzw.
0,90m/s 8,24m weit zu springen. Das ist die Siegerweite des beinamputierten Deutschen Meisters 2014, M. Rehm. Auch wenn bisher noch kein Weitspringer mit einem so langsamen Anlauf
8,24m weit gesprungen ist, sind ähnliche extreme Ausnahmen schon beobachtet worden. Bei
den OS 1988 ist für Joyner-Kersees OR ebenfalls nur eine Wahrscheinlichkeit von 0,1% festgestellt worden. Es ist also möglich, wenn auch unwahrscheinlich.
Schlüsselwörter: Weitsprung, Prothese, Anlaufgeschwindigkeit, Umsetzung, Wahrscheinlichkeit
Abstract
This article shows the probability to leap 8.24m with approach speeds of 9.5 and 9.75 ms-1,
respectively as well as reductions by the transformation during take-off of 1.0 and 0.9 ms-1.
8.24m is the performance of the 2015 German national long jump champion M. Rehm, whose
lower leg was amputated. Even if no long jumper has ever jumped 8.24m with such a low approach speed, similar exceptions have been observed. At the 1988 Olympic Games, the Olympic record of J. Joyner-Kersee also had a probability of just 0.1%. So it is possible, albeit unlikely.
Keywords: long jump, prosthesis, approach speed, transformation, probability
Heft 1/2015
Seite 81
Letzelter
1
Problem
vom OSP Hessen erhoben und im Internet frei
zugänglich waren. Das erste Beispiel nutzt die
in der Praxis übliche Geschwindigkeitsmessung zwischen sechs und einem Meter vor
dem Balken (v6-1), das zweite die horizontale
Anlaufgeschwindigkeit beim Abflug zum
letzten Schritt vor dem Balken (v1), die horizontale (v0x) und die vertikale Abfluggeschwindigkeit (v0z) sowie den Verlust an
Horizontalgeschwindigkeit
im
Absprung
(Dv0x = v1 - v0x). Die exakten Messwerte des
Sprungs von Rehm sind offiziell nicht veröffentlicht, aber von verschiedenen zuverlässigen Quellen kolportiert worden. Die Berechnungen funktionieren aber auch mit fiktiven
Daten. Mit Hilfe einer Regressionsanalyse
werden Erwartungswerte Ex pro Zielgröße
berechnet, so dass die Residuen ex als Differenzen zwischen gemessenen (xi) und geschätzten Werten (e = xi - Exi) bestimmt
werden können. Die spielen für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeiten die entscheidende Rolle. Die Prüfung auf Abweichung von
der Normalverteilung erfolgt nach David
(Prüfgröße R/sd), die auf Ausreißer (Prüfgröße
A) nach dem von Pearson & Hartley vorgeschlagenen Verfahren (Sachs 1974, S. 220).
Geprüft wird zweiseitig, signifikant durch * (α
= 0,05/2) und hochsignifikant durch ** (α =
0,01/2) symbolisiert.
Bei
den
Deutschen
LeichtathletikMeisterschaften 2014 durfte zum ersten Mal
auch ein Behindertensportler teilnehmen.
Diese Chance nutzte der beinamputierte Weitspringer M. Rehm zu einem überraschenden
Sieg mit einem sensationell weiten Sprung von
8,24m. Er lag damit vier Zentimeter vor dem
Europameister C. Reif. Danach wurde intensiv
diskutiert, ob der Siegessprung mit Hilfe
seiner Hochleistungsprothese und damit durch
einen unzulässigen Vorteil erzielt worden sei.
Der DLV hat dies anscheinend bejaht und den
Athleten nicht für die EM gemeldet. Als ein
Argument wurde in den Medien mitgeteilt, mit
einem so langsamen Anlauf könnten so weite
Sprünge nicht gelingen. Auch die Umsetzung
dieses Anlaufes im Absprung sei ungewöhnlich, denn Rehms Minderung der Anlaufgeschwindigkeit sei in diesem Leistungsbereich
unüblich.
Es ist richtig, dass ein möglicher Vorteil nur
durch aufwändige Messungen der Leistungsfähigkeit der Prothese beurteilt werden
kann. Es ist auch richtig, dass keine Beweise
vorliegen. Möglich sind aber tragfähige Indizien, denn die biomechanische Leistungsdiagnostik kann solide begründete Informationen
liefern, die weit über die ermittelten Messwerte hinausgehen. Sie kann nämlich beurteilen,
mit welcher Wahrscheinlichkeit Sprungweiten
gelingen, wenn die Ausprägungen der Anlauf- 3
geschwindigkeit und der Geschwindigkeitsre3.1
duktion bekannt sind.
Ergebnisse
Anlaufgeschwindigkeit v6-1
und Sprungweite
2
Methodik
Die folgenden Beispiele stützen sich dokumentaranalytisch auf Messwerte der WM
1987, der Olympischen Spiele 1988 (Nixdorf
& Brüggemann 1988, S. 1990) sowie auf
Daten der WM 2009, der IAAF-Finals 2007
und 2008 und internationaler Meetings, die
Seite 82
Ausgewählt werden 34 Athleten, die mindestens 8,00m weit gesprungen sind. Von diesen
ist C. Lewis (1988) mit dem Olympischen
Rekord von 8,72 der Beste. Da es viel mehr
Weitspringer gibt, die zwischen 8,00m und
8,36m erreichen als solche, die weiter springen, ist die Verteilung der 34 Sprungweiten
linkssteil und weicht signifikant von einer
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Weitsprung mit Prothese
Normalverteilung ab (R/sd = 3,43*). Alle ist zumindest nicht überzufällig anormal (R/sd
Springer liefen zwischen sechs und einem = 3,71). Der Mittelwert von 8,21m wird
Meter vor dem Balken schneller als 10m/s, der mitv6-1 = 10,49m/s erzielt.
Schnellste mit einem Vorteil vor dem Langsamsten von 0,89m/s. Die Verteilung von v6-1
Tab.1: Sprungweite und Anlaufgeschwindigkeit von 34 Weitspringern der Weltklasse
Sprungweite (m)
Anlaufgeschwindigkeit (m/s)
Min.
Max.
±sd
Min.
Max.
±sd
x
x
8,00
8,72
8,21
0,21
10,17
11,06
10,49
0,24
Die Bedeutung der Anlaufgeschwindigkeit
liegt in der Weltklasse weit unter jenen 70%,
die z. B. Mendoza & Nixdorf mehrmals (2006,
2006a, 2012) mitgeteilt haben. Der Grund ist,
dass die Relevanz einer Einflussgröße mit
zunehmender Ausgeglichenheit der Stichprobe
abnimmt, denn Heterogenität begünstigt korrelative Beziehungen (z. B. Magnusson 1975).
Das Leistungsgefälle der von den Autoren
analysierten Stichproben war mehr als doppelt
so groß und ist nicht repräsentativ für die
Weltklasse. In der Stichprobe der 34 Athleten
kann nur ein Drittel der Unterschiede in der
Weite (R2 = 0,33, R2adj = 0,31) mit denen in
v6-1 erklärt werden. Dem entspricht der Zusammenhang von r = 0,575**. In der Tendenz
springen schnellere Weitspringer also auch
weiter. Das ist ein statistisches Gesetz, das
eine „wenn, dann in der Regel“-Beziehung
formuliert, also nicht auf jeden Einzelnen
Heft 1/2015
zutrifft. So ist der Zweite der WM 1987, der
Europarekordhalter R. Emmiyan, mit v6-1 =
10,27m/s um 0,22m/s unter dem Durchschnitt
angelaufen, aber 32cm weiter gesprungen.
Um einzelne Athleten mit dem Trend zu vergleichen, werden die Werte der Sprungweite
gesucht, die bei vorgegebener Anlaufgeschwindigkeit Durchschnitt sind. Das leistet
die Regressionsanalyse. Dabei wird die Kurve
– in diesem Fall eine Gerade – ermittelt, die
sich am besten an die Wertepaare (hier: von
Weite und v6-1) anpasst wie in Abb. 1. Danach hat z. B. Lewis die Koordinaten v6-1 =
11,06m/s und W = 8,72m, Emmiyan v6-1 =
10,27m/s und W = 8,53m. Für den Letzten
werden v6-1 = 10,22m/s und W = 8,00m
notiert. Die Weite Emmiyans liegt als einzige
außerhalb
des
eingezeichneten
95%Vertrauensintervalls.
Seite 83
Letzelter
Lewis
Abb.1: Zusammenhang von Anlaufgeschwindigkeit v6-1 und Sprungweite in der
Weltklasse der Männer mit 95%-Vertrauensgrenzen
Die Regressionsgerade W = 3,105 + 0,487v6-1
(m) repräsentiert am besten die 34 Wertepaare,
sie drückt den Trend aus. Sie besagt auch, dass
ein 1,00m/s schnellerer Anlauf im Durchschnitt mit einem Gewinn von 49cm belohnt
wird. Da nicht auszuschließen ist, dass mit
zunehmender Anlaufgeschwindigkeit der
Weitengewinn immer mehr abnimmt oder der
Anlauf sogar zu schnell wird und deshalb nicht
mehr optimal umgesetzt werden kann, wurde
auch geprüft, ob ein Optimaltrend, repräsentiert durch ein Polynom 2. Ordnung, die empirischen Daten besser abbildet. R2quad = 0,39
zeigt zwar eine bessere Anpassung und kleinere Residuen als R2lin = 0,33, aber die Parabel
hat eine fachlich unsinnige U-Form. Ein sinnvoll interpretierbarer Optimaltrend liegt nicht
vor, denn ein schnellerer Anlauf wird auf
hohem Niveau genau so honoriert wie auf
niedrigem.
Mit der genannten Gleichung kann für jede
beliebige Anlaufgeschwindigkeit und damit
für jeden Teilnehmer die Sprungweite ermittelt
werden, die zu Stande käme, würde er sich
trendkonform verhalten. In der Leistungsdiag-
Seite 84
nostik bestimmt man auf diese Weise qualifikationsbezogene statistische Normen (Letzelter 1979). In der Statistik spricht man von
Erwartungswerten (EW). In Abb. 1 liegen nur
wenige Wertepaare auf der Geraden. Die
Mehrzahl liegt mehr oder weniger darüber
oder darunter. Die vertikale Distanz zur Regressionsgeraden nennt man Residuum (ei). Für
Lewis wird z. B. EW = 8,49m errechnet, er ist
aber 23cm weiter gesprungen (ew = 23cm).
Fast doppelt so groß ist das Residuum von
Emmiyan mit W = 8,53m, EW = 8,11m, ew =
42cm. Wie Sprungweite und Anlaufgeschwindigkeit können auch Erwartungswerte und
Residuen statistisch beschrieben und bearbeitet
werden. 6 Im Gegensatz zur Sprungweite sind
diese annähernd normal verteilt (R/sd = 4,29).
Größere positive sind Anzeichen einer Stärke,
größere negative zeigen eine Schwäche bei der
Nutzung der Anlaufgeschwindigkeit.
6
Die Eignung der Residuen wurde optisch nach dem
Residuenplot der standardisierten Variablen bejaht (vgl.
dazu Bortz & Schuster 2010).
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Weitsprung mit Prothese
Tab. 2: Erwartungswerte und Residuen der Sprungweite als Folge der
Anlaufgeschwindigkeit im Weitsprung der Weltklasse der Männer
Erwartungswerte (m)
Residuen (cm)
Min.
Max.
±sd
Min.
Max.
x
8,06
8,49
8,21
0,12
-30
42
Die Residuen sind mit r = 0,82** gegenüber r
= 0,58** stärker mit der Sprungweite konfundiert als die Anlaufgeschwindigkeit. In Fisher’s Z-Werte ergibt sich daraus Z = 1,13
gegenüber Z = 0,66, also ein Verhältnis von
1,7 zu 1. Dies ist kein Zufall, der Unterschied
zwischen den beiden Koeffizienten ist hochsignifikant (t = 61,4**).7
Zur Klärung des anstehenden Problems sind
die Residuen exzellent geeignet, die Wahrscheinlichkeit zu schätzen, mit der ein Sprung
von 8,24m gelingt, wenn ein Athlet mit v6-1 <
10m/s anläuft. Ausgewählt werden dazu
exemplarisch v6-1 = 9,50m/s und v6-1 =
9,75m/s. Die entsprechenden Erwartungswerte
wären EW = 7,73 bzw. EW = 7,85m. Für
8,24m sind folglich die Residuen ew = 51cm
(v6-1 = 9,50m/s) bzw. ew = 39cm (v6-1 =
9,75m/s) erforderlich. Was das bedeutet und
wie dies einzuordnen ist, kann mit Hilfe des
Standardschätzfehlers (± Se) beantwortet
werden. Der ist ein Indikator der Streuung der
Residuen in der Grundgesamtheit. Wie groß
der unter allen möglichen Springern mit 8,00m
≤ W ≤ 8,72m ist, schätzt Se = ± 17cm. Danach
weichen 68% der Residuen maximal 17cm
von den Erwartungswerten ab, je zur Hälfte
nach oben und nach unten. Bei 32% ist die
Schätzung fehlerhafter, bei 5% beträgt der
Fehler mindestens 33cm.
7
Die Prüfung erfolgte mit dem von Mittenecker (1971,
110) vorgeschlagenen Test für abhängige Stichproben.
Der sehr hohe t-Wert ist vor allem dadurch bedingt, dass
die beiden Prädiktoren v6-1 und ew unkorreliert sind (r =
0).
Heft 1/2015
x
0
±sd
17
Ein Residuum von 51cm ist dreimal größer als
Se = 17cm. In der Standardnormalverteilung
schneidet µ ±3,0σ je 49,87% der Flächen links
bzw. rechts des Mittelwertes ab, zew = 3,0 hat
also nur die Wahrscheinlichkeit P(3,0) =
0,13%. Mit einer Anlaufgeschwindigkeit von
9,50m/s 8,24m weit zu springen, ist also extrem unwahrscheinlich. Von 1000 Athleten hat
nur einer ein Residuum von mindestens 51cm.
Günstiger ist die Chance bei v6-1 = 9,75m/s.
Dann beträgt das Residuum 39cm ≙ 2,3Se.
Die Flächen von µ ±2,3σ machen jeweils nur
48,7% aus. Demnach beträgt die Wahrscheinlichkeit, mit v6-1 = 9,75m/s 8,24m zu
erzielen, 1,3%. Dass dies nicht unmöglich ist,
dokumentieren die Werte von Emmiyan. Der
verdankt seine Silbermedaille 1988 einem
Residuum, das den Mittelwert um 42cm ≙
2,5Se übertrifft. Die Wahrscheinlichkeit wird
auf P(2,5) = 0,6 geschätzt. Als Ausreißer wird
dieser Topwert nicht identifiziert (A = 2,43).
Regressionskoeffizienten beschreiben Verhältnisse in Stichproben. Werden diese verändert,
hat dies Auswirkungen auf den Koeffizienten
und damit auch auf die Residuen. Werden die
34 Weitspringer durch jene 14 ergänzt, die
zwar keine 8,00m gesprungen sind, aber
höchstens 1,00m hinter Lewis OR zurück,
ändert sich die statistische Charakteristik der
Weite aufW = 8,12m und sd = 0,24m sowie
die der Anlaufgeschwindigkeit auf v6-1 =
8,12 und sd = 0,24m. Die größere Heterogenität bewirkt einen engeren Zusammenhang (r =
0,67**) und einen höheren Regressionskoeffizienten: W = 2,16 + 0,573v1 (m).
Der Erwartungswert von v6-1 = 9,75m/s fällt
auf Ew = 7,75m, das Residuum steigt auf ew =
Seite 85
Letzelter
49cm. Bei Se = 0,18m ergeben sich zew = 2,7 Da nicht von allen 34 Weitspringern auch v1
und die Wahrscheinlichkeit P(2,7) = 0,35.
bekannt ist, wird eine Stichprobe von 32 Athleten gewählt, die sich bis zu 1,00m unter3.2
Umsetzen der
scheiden. Das Leistungsgefälle ist 28cm gröAnlaufgeschwindigkeit
ßer und die Leistungsstärke 8cm geringer als
Im Absprung wird die horizontal gerichtete in der Stichprobe der 34 Athleten im ersten
Anlaufgeschwindigkeit in eine nach vorn-oben Beispiel. Zwar ist auch diese Verteilung linksgerichtete Abfluggeschwindigkeit umgelenkt. schief, die Abweichung von der NormalverteiAls ideal nennt die Fachliteratur einen Ab- lung ist aber insignifikant (R/sd = 4,17). Das
flugwinkel von 20 bis 22°. Von diesem Richt- gilt auch für die Anlaufgeschwindigkeit (R/sd
wert weichen aber selbst einige erfolgreiche = 3,94).
Springer ab. Der viermalige Olympiasieger Der durch die Umlenkung verursachte GeLewis flog z. B. bei seinem Siegsprung (W = schwindigkeitsverlust beträgt im Durchschnitt
8,67m) der WM 1997 mit α = 17,7° ab, der 1,60m/s (Tab. 3). Um diesen Betrag istv0x
Zweite Emmiyan (W = 8,53m) mit α = 24,9° langsamer alsv1. Vom Mittelwert weichen
(Nixdorf & Brüggemann 1988). Ergebnis der mehrere Messwerte aber extrem ab, so dass
Umlenkung sind die horizontale (v0x) und die der größte Verlust mehr als doppelt so stark ist
vertikale Komponente (v0z) der Abflugge- als der schwächste. Die Verteilung ist nicht
schwindigkeit. Je größer im Verhältnis zur überzufällig von einer normalen verschieden
horizontalen die vertikale ist, quantifiziert (R/sd = 4,25), Ausreißer gibt es weder nach
durch Q = v0x/v0z, desto höher wird der oben noch nach unten (A ≤ 2,46). Die GeAbflugwinkel. Damit der vertikale Kraftstoß schwindigkeitsminderung Dv ist leistungsunund somit die vertikale Abfluggeschwindigkeit abhängig, weitere Sprünge sind weder mit
nicht zu gering ausfallen, wird die Anlaufge- größeren noch mit kleineren Verlusten erzielt
schwindigkeit im Absprung abgebremst. Da- worden als kürzere (r = -0,09).
durch entsteht Bremskraft, die den vertikalen
Kraftstoß begünstigt.
Das zweite Beispiel beschreibt diesen für die
Umsetzung unvermeidbaren Verlust an Horizontalgeschwindigkeit und die entsprechenden
Konsequenzen. Ausgewählt wird zur Analyse
die Abfluggeschwindigkeit des KSP zum
letzten Schritt vor dem Absprung v1 (take-offvelocity) und nicht die mittlere Geschwindigkeit v6-1 vor dem Brett. Nicht die, sondern die
Geschwindigkeit des letzten Schrittes wird
umgelenkt. Sie ist häufig nicht mit der des 5m-Abschnittes identisch.8
8
Zwischen beiden besteht zwar eine für Forschungszwecke akzeptable Übereinstimmungsvalidität, so dass v1
mit v6-1 geschätzt werden kann (rCV = 0,77***), aber
der Fehler der Schätzung von 32% der Athleten beträgt
mindestens 0,18m/s (Letzelter 2016).
Seite 86
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Weitsprung mit Prothese
Tab. 3: Weite und Anlaufgeschwindigkeit v1 von 32 Weitspringern der Spitzenklasse
Merkmal
Min.
Max.
±sd
x
W (m)
7,72
8,72
8,14
0,24
v1 (m/s)
9,70
11,00
10,39
0,33
Wie groß muss die vertikale Abfluggeschwindigkeit sein, wenn ein Athlet seine Anlaufgeschwindigkeit um 1,00m/s oder sogar
nur 0,90m/s reduziert? Zur Beantwortung
werden die Erwartungswerte von v0z und die
entsprechenden Residuen benötigt, die zusammen mit der horizontalen und der vertikalen Abfluggeschwindigkeit in Tab. 4 beschrieben sind.
Tab. 4: Horizontale (v0x) und vertikale Abfluggeschwindigkeit (v0z), Erwartungswerte
Ev0z und Residuen ev0z, horizontaler Geschwindigkeitsverlust Dv0x mit den
entsprechenden Residuen eDv0x von 32 Weitspringern der Spitzenklasse.
Merkmal
Min. Max. x
±sd
Merkmal
Min. Max. x
±sd
V0x
7,99
9,50
8,79 0,40 V0z (m/s)
2,82
4,23
3,38 0,33
DV0x (m/s) 1,10
2,29
1,60 0,28 Ev0x (m/s) 2,98
3,95
3,39 0,24
eDv0x
-0,39 0,44
0
0,19 ev0z (m/s) -0,42 0,45
0
0,22
Weder v0x noch v0z, weder Dv0x noch eDv0x
sind überzufällig anormal verteilt (3,78 ≤ R/sd
≤ 4,27). Ausreißer gibt es keine (A ≤ 2,58).
Die horizontale Komponente der Abfluggeschwindigkeit wird von der im letzten
Schritt maßgeblich geprägt (r = 0,70**), während die vertikale davon weitgehend unbeeinflusst ist (r = -0,20). Die steht aber mit dem
horizontalen Geschwindigkeitsverlust im
Absprung in enger positiver Verbindung. Die
Gemeinsamkeit beträgt 53% (R2adj = 0,51).
Andererseits wirkt sich das Abbremsen negativ auf v0x aus. 57% (R2adj = 0,56) der Unterschiede in v0x hängen mit denen in Dv0x
zusammen. Das geht konform mit einem
engen negativen Zusammenhang von v0x und
v0z (r = -0,65**). Beide Komponenten „vertragen“ sich nicht. Tendenziell fliegen Weitspringer mit einer höheren vertikalen Abfluggeschwindigkeit langsamer ab. Und zwar so,
dass im Mittel +1,00m/s mit -0,54m/s gekoppelt sind.9
Minderungen unter 1,00m/s werden in der
Weltklasse nicht beobachtet. Der positive
Zusammenhang von Dv0x mit v0z ermöglicht
wiederum ein Urteil darüber, wie sich eine
Veränderung von Dv0x auswirkt. Der negative
Effekt auf Dv0x wird dadurch kompensiert,
dass v0z um 0,82m/s ansteigt. 10 Wer im Absprung mehr abbremst, verliert zwar an horizontaler, gewinnt in der Regel aber an vertikaler Abfluggeschwindigkeit. Der Standardfehler
der Schätzung beträgt 0,23m/s. Der ist wichtig
für die Bestimmung der gesuchten Wahrscheinlichkeit.
Reduziert ein Sportler v1 wie der Durchschnitt
um 1,60m/s, fliegt er mit Ev0z = 3,38m/s
vertikal ab. Verringert er nur um 1,00m/s, fällt
9
10
Heft 1/2015
v0z = 8,07 – 0,54v0x (m/s), Se = 0,25m/s.
v0z = 2,07 + 0,82Dv0x (m/s).
Seite 87
Letzelter
Ev0z auf 2,88m/s, bei 0,90m/s auf Ev0z =
2,80m/s. Mit Dv0x = 1,00m/s und damit v0x =
8,75 sowie v0z = 2,88m/s wird per Linearkombination W = 0,02 + 0,647vox + 0,71voz
(m). Ew = 7,79m geschätzt, mit v0x = 8,85
und v0z = 2,80m/s Ew = 7,73m. Zu 8,24m
fehlen also 45 bzw. 51cm. Um 8,24m weit zu
springen, muss mit v0x = 8,75m/s horizontal
und mit v0z = 3,60m/s vertikal abgeflogen
werden, bei v0x = 8,85m/s genügen v0z =
3,50m/s. Das ergibt sich nach der genannten
Linearkombination. Damit werden 76%
(R2adj = 0,75) der Unterschiede in der
Sprungweite aufgeklärt. Dem entspricht die
exzellente Kriteriumsvalidität R = 0,87**. 11
Der Standardschätzfehler fällt auf ±12cm.
Die geschätzten v0z = 3,60 bzw. v0z =
3,50m/s sind 0,72 bzw. 0,70m/s höher als die
Erwartungswerte Ev0x für Dv0x= 1,00 bzw.
Dv0x = 0,90m/s. Nach Se = 0,23m/s übertreffen die Residuen die Erwartungswerte um 3,1
bzw. 3,0z. Das ergibt übertragen auf die zVerteilung Flächenanteile von ±49,90 bzw.
±49,87%. Daraus folgt: Von 1000 Weitspringern flöge nur einer mit v1 = 9,75m/s und
Dv0x = 1,00m/s oder Dv0x = 0,90m/s vertikal
ab. Nur der würde er erst bei 8,24m landen.
4
Diskussion
Die wissenschaftliche Leistungsdiagnostik
nutzt Verfahren, die viel präzisere Informationen liefern als die reinen Messergebnisse. Mit diesen kann man z. B. nur feststellen,
dass bisher noch kein Athlet mit einer Anlaufgeschwindigkeit im letzten Schritt unter 10m/s
über 8,00m weit gesprungen ist oder dass noch
kein Athlet bisher trotz einer geringeren Geschwindigkeitsminderung als 1,00m/s im
Absprung 8,24m erreicht hat. Werden dagegen
die Möglichkeiten der Regressionsanalyse
11
Seite 88
Die Bewertung „exzellent“ erfolgt nach Barrow &
McGee (1977)
genutzt, kann berechnet werden, wie groß die
Wahrscheinlichkeit dafür ist.
Wissenschaft muss objektiv und vorurteilsfrei
sein. Deshalb werden mit diesem Beitrag keine
Ratschläge erteilt. Informiert wird nur, wie
groß die Chancen sind, bei vorgegebenen
Ausprägungen der Einflussgrößen Anlaufgeschwindigkeit und Geschwindigkeitsverlust
Sprungweiten von Weltklasseniveau wie die
8,24m zu erreichen. Sie hätten in allen bisherigen OS und WM für die Finalteilnahme ausgereicht. An manchen „Fabelweltrekorden“ wie
dem „Jahrhundertsprung“ von B. Beamon in
Mexiko 1968 (der übrigens kein Jahrhundertsprung war, denn 1991 ist M. Powell 5cm
weiter gesprungen) sieht man, dass manchmal
sportliche Höchstleistungen erzielt werden, die
vorher für unwahrscheinlich gehalten wurden.
Die Messung der Anlaufgeschwindigkeit v6-1
ist zwar nicht fehlerfrei, mit rtt = 0,83 wurde
bei 40 Athleten der Spitzenklasse aber eine
akzeptable Zuverlässigkeit ermittelt (Letzelter
2016). Nach wie vor unbekannt ist dagegen die
von v1, v0x, v0z und vor allem die des Differenzwertes Dv0x, der doppelt messfehleranfällig ist, nämlich bei der Messung von v1 und
der von v0x. Das wirkt sich gravierend aus,
wenn sich die beiden Messfehler gegensinnig
verhalten. In der Testtheorie sind die damit
verbundenen Reliabilitätsmängel schon vor
Jahren diskutiert worden (z. B. Hellmreich
1977). Burger & Dillenberger (2005) haben
am Beispiel des Sprints aufgezeigt, wie problematisch die Bestimmung des KSP sein kann.
Die zur Berechnung der Wahrscheinlichkeiten
benutzten Regressionsgleichungen und damit
auch die der Residuen sind nur eine Schätzung
der Regression in der Grundgesamtheit aller
Athleten dieses Leistungsbereichs. Diese ist
nicht immer fehlerfrei. So hat die Steigung in
der Gleichung W = 3,105 + 0,487v6-1 (m)
einen Standardfehler von +12cm. Mit einer
Wahrscheinlichkeit von 68% verändert sich
z.B. in der Grundgesamtheit die Sprungweite
um 49cm + 12cm, also in einem Intervall
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Weitsprung mit Prothese
Erwartungswert von v0x um 3,1 bzw. 3,0z. In
der Standardnormalverteilung schneiden µ
±3,1σ bzw. µ ±3,0σ Flächenanteile von ±49,9
bzw. ±49,87% ab. Von 1000 Weitspringern
flöge also jeweils einer mit Dv0x = 1,0 bzw.
Dv0x = 0,90m/s mit 3,50 bzw. 3,60m/s vertikal ab.
Sollte Rehm mit v6-1 = 9,75m/s angelaufen
sein, wird die Wahrscheinlichkeit mit 1%
geschätzt. Hat er seinen Anlauf im Absprung
um 1,00m/s oder 0,9m/s abgebremst, sinkt sie
auf 0,1%. Auch wenn bisher noch kein Weitspringer mit einem so langsamen Anlauf
8,24m weit gesprungen ist, sind ähnliche
extreme Ausnahmen schon beobachtet worden. Bei den OS 1988 ist für Joyner-Kersees
5
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird gezeigt, wie groß die OR ebenfalls nur eine Wahrscheinlichkeit von
Wahrscheinlichkeit
ist,
mit
Anlaufge- 0,1% festgestellt worden. Es ist also möglich,
schwindigkeiten von 9,50 bzw. 9,75m/s sowie wenn auch unwahrscheinlich.
umlenkungsbedingten Verlusten von 1,00
bzw. 0,90m/s 8,24m weit zu springen. Das ist Literatur
die Siegerweite des beinamputierten Deut- Barrow, H.M. & McGee, R. (71979): A
schen Meisters 2014, M. Rehm. Auf Basis der Practical approach to Measurement in Physical
Gleichung W = 3,105 + 0,487v6-1 (m/s) wer- Education. Philadelphia: Lea & Febiger.
den die Residuen auf ew = 51cm bzw. ew = Bortz, J. & Schuster, Ch. (2010): Statistik.
39cm geschätzt. Standardisiert ergeben sich z Berlin: Springer
= 3,0 bzw. z = 2,3. In der Standardnormalver- Burger, R. & Dillenberger, S. (2005):Der
teilung resultieren daraus die Wahrscheinlich- Beginn der Zugphase im Sprint und das Probkeiten P(3,0z) = 0,13 und P(2,3z) = 1,07. Mit lem der KSP-Bestimmung. In: Steinmann, W.,
9,50m/s schnellem Anlauf springt nur einer Müller, N. (Hrsg.): Trainingslehre und Metho(genau: 1,3) von 1000 Athleten 8,24m weit, dik der Leichtathletik, 163 - 178
mit 9,75m/s einer von 100.
Hellmreich, R (1977): Strategien zur AuswerDer horizontale Geschwindigkeitsverlust im tung von Längsschnittdaten. Stuttgart: Klett.
Absprung (Dv0x) beeinflusst die vertikale Letzelter, S. (2016): Biomechanische Theorie
Abfluggeschwindigkeit (v0z) positiv und die des Weitsprungs der Weltklasse. (in Vorbereihorizontale (v0x) negativ. Die Sprungweite tung)
bei Dv0x = 1,00 bzw. Dv0x = 0,90m/s wird Magnusson, D. (1975): Testtheorie. Wien:
über die Linearkombination W = 0,02 + Deuticke
0,647v0x + 0,71v0z (m) berechnet. Mit 8,75 Mendoza, L. & Nixdorf, E. (2006): Angebzw. 8,85m/s resultieren Erwartungswerte für wandte Leistungsdiagnopstik in den Sprungv0z von 2,88 bzw. 2,80m/s. Nach der Linear- disziplinen. In: Steinmann, W. & Müller, N.
kombination muss man aber für 8,24m mit (Hrsg.): Trainingslehre und Methodik der
3,60m/s und bzw. mit 3,50m/s abfliegen. Leichtathletik,
125-146.
Niedernhausen:
Standardisiert übertreffen die Residuen den Schors
zwischen 37 bis 61cm, wenn der Anlauf
1,00m/s schneller wird. Mit einer anderen
Stichprobe, selbst bei gleichem Niveau und
gleichem Leistungsgefälle, können sich die
Schätzungen ändern, damit auch die Erwartungswerte und die Residuen. Noch mehr
betrifft dies die Gewichtungskoeffizienten der
Linearkombination, denn in einer anderen
Stichprobe können sich beide Steigungen
(mehr oder weniger, gleich- oder gegensinnig)
verringern oder erhöhen. Die Berechnungen
der Wahrscheinlichkeiten können also einen
Fehler haben, sollen sie verallgemeinert werden.
Heft 1/2015
Seite 89
Letzelter
Mendoza, L., Nixdorf, E. & Isele, R. (2006a):
Gesetzmäßigkeiten des Horizontalsprungs.
Leichtathletiktraining, 26 – 29.
Mendoza, L. & Nixdorf, E. (2012): Zum Problem der Geschwindigkeitsumsetzung im Weitsprung. In: Haase, H., Krüger, F., Nicol, K &
Preiß, R. (Hrsg.): Leistungsdiagnostik und
Trainingssteuerung, 189-197. Köln: Sportverlag Strauß.
Mittenecker, E. (1977): Planung und statistische Auswertung von Experimenten. Wien:
Deuticke.
Autor
Prof. Dr. Stefan Letzelter
Kontakt
Prof. Dr. Stefan Letzelter
Hochschule für Gesundheit & Sport, Technik & Kunst
Vulkanstraße 1
10367 Berlin
E-Mail: [email protected]
Seite 90
Zeitschrift für Gesundheit und Sport