Margareth Lun: Festrede am Herz-Jesu

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Margareth Lun: Festrede am Herz-Jesu-Sonntag 2015
anlässlich der Gedenkfeier für die Standschützen, SK Bozen
„Ich sehe im ganzen Dorf keinen einzigen Mann, nur Weiber, Greise, und
Kinder. Wo sind denn eigentlich alle Tiroler?“ Das fragte der bayerische
Generalleutnant von Dellmensingen, als er auf der Fahrt an die Front durch
die vielen ausgestorbenen Tiroler Dörfer fuhr.
Und sein seinen österreichischer Begleiter antwortete ihm nachdenklich:
„Ihre Blüte liegt in Ostgalizien begraben“, und: „Was davon noch lebt, ist
hinter den Russen her. Und die ganz Jungen und die Alten stehen dort, wo
wir gerade hinfahren, dem neuen Feind gegenüber.“
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Da schwieg der Führer des Alpenkorps ganze zwei Stunden. Und plötzlich
legte er die Hand an seinen Helm und sagte mit bewegter Stimme:
„Ich neige mich vor dem Opfermut des Tiroler Volkes. Etwas Größeres
gibt es nicht auf Erden!“
Diese, in der so gen. „Leiber-Chronik“ festgehaltene Episode, sehr geehrte
Anwesende, bringt in ihrer emotionalen Bewegtheit die gesamte Tragik
des Einsatzes, aber auch den Mut der Verzweiflung unserer Standschützen
auf den Punkt.
Plötzlich war der Feind auch vor unserer Haustür. Und plötzlich war auch
in unseren Familien der Krieg bittere Realität. Plötzlich war auch Tirol
Frontgebiet, ein Land, dessen kriegstaugliche Männer zur Gänze weitab
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der Heimat in Galizien und Russland standen. Und nun lagen auf einmal
alle Hoffnungen, lag die ganze Last der Verantwortung auf den Schultern
der Standschützen, die noch im Land waren.
Aber wer waren diese Standschützen überhaupt?
Es waren im Grunde genommen Schießvereine, die mit amtlicher
Unterstützung gebildet worden waren, und die Leute umfassten, die die
altgewohnte Büchse zu gebrauchen wussten. Ihre Offiziere wählten sie –
im Gegensatz zum regulären Heer – demokratisch. Und letztlich gehen die
Standschützen auf das Tiroler Landlibell von 1511 zurück – als die Tiroler
ein besonderes Privileg erhielten: nämlich jenes, nicht mehr außerhalb
ihres Landes zu kämpfen, aber dafür sich selbst die Verteidigung ihrer
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Heimat organisieren zu müssen. Und um mindestens eine
Grundausbildung und etwas Übung zu haben, wurden sie regelmäßig in
Schießständen geschult.
Immerhin waren die Standschützen auch zu Beginn dieses Krieges nicht
komplett auf sich allein gestellt.
Unter den 24.000 Mann, die im Frühsommer 1915 auszogen, befanden
sich neben den Tirolern (darunter übrigens auch 3.000 Welschtiroler),
auch 2.000 Vorarlberger, aber auch Freiwilligenregimenter aus
Oberösterreich, Kärnten, Salzburg und der Steiermark. Und nicht genug
hervorgehoben werden kann die Hilfe des deutschen Alpenkorps aus
Bayern, das sofort zur Stelle war und mit dem Bau von Militärstraßen und
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Seilbahnen begann, und das vor allem einen modernen, und größeren
Fuhrpark zur Verfügung stellte, als ihn die ganze Monarchie besaß.
Und mit dieser Unterstützung gelang den Standschützen das Unglaubliche:
Sie waren – wenn auch mit größten Opfern – imstande, die Alpenfront zu
halten, bis sie endlich Verstärkung vom regulären Heer erhielten.
Und sie hatten bei Gott nicht lange Zeit, sich vorzubereiten! Schlecht
ausgerüstet, und nur mit der Kleidung, die die Männer auf der Haut trugen,
wurden sie nur zwei Tage nach ihrer Einberufung in den Festungsbezirk
Riva verlegt. Und was sie dort erst erwartete! In diesem Frontabschnitt gab
es zu diesem Zeitpunkt weder Schützengräben noch Unterkünfte, keine
Zelte, keine Schlafsäcke. Nichts! Zudem war der steile Hang zur Front
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völlig unbewachsen und vom Feind perfekt einsehbar. Wie
nervenaufreibend muss in dieser Situation der Bau der notwendigsten
Einrichtungen gewesen sein, in ständiger Angst, abgeschossen zu werden!
Und noch zu Wintereinbruch waren unsere Standschützen des Bozner
Baons nur in notdürftigen Baracken untergebracht.
1 Jahr später, im Dezember 1917 war das Baon Bozen bereits auf 40 %
zusammengeschrumpft. Das sagt wohl mehr als 1000 Worte.
Und trotzdem hielten sie durch bis zum Schluss, und hielten sie die
Grenze.
… Aber wie so oft in der Geschichte unseres Landes war alles umsonst.
Über die Zukunft entschieden nicht jene, die jahrelang gekämpft,
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gehungert, gefroren und gedarbt hatten − sondern jene, die am
Verhandlungstisch saßen.
Dieser Krieg, der in nur vier Jahren unseren Kontinent komplett
veränderte, brachte auch für unser Land so viel Leid. Vor allem aber
bedeutete er, dass unsere Heimat Tirol zerrissen wurde. Dass plötzlich
mittendurch eine Grenze verlief. Dass sich ein Teil auf einmal in einem
fremden Staat wiederfand. In einem Staat, dem wir uns heute noch – fast
100 Jahre später − nicht zugehörig fühlen, ein Staat, der nie unser
Vaterland Österreich ersetzen wird, ein Staat, der nie unsere Heimat
werden wird.
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Mit dem Ersten Weltkrieg wurden nicht nur bei uns, sondern in ganz
Europa Millionen Menschen aus ihrem Alltag herausgerissen, und sie
hatten gar keine andere Wahl, als – wie man damals sagte – „heldenmütig“
zu kämpfen – egal, ob sie sich von der allgemeinen Kriegsbegeisterung
hatten anstecken lassen, ob sie wirklich auch ihre eigene Heimat
verteidigen duften, oder ob sie nur gezwungen worden waren, an
irgendeine Front zu gehen. Und bei denen, die begeistert gingen: Wie nahe
lagen schließlich Euphorie und bittere Enttäuschung beieinander! Wie
rücksichtslos wurden Menschenleben von den Militärstrategen für ihre
Pläne geopfert!
Die Geschichte lehrt uns, wie wir Krieg vermeiden können, aber vor allem
auch, dass dauerhafter Frieden nur da möglich ist, wo das Recht
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unantastbar ist, wo Gerechtigkeit herrscht, wo Menschenwürde und
Freiheit respektiert werden.
Und noch etwas hat uns die Geschichte immer wieder aufgezeigt: nämlich
dass nichts unmöglich ist: keine Grenzverschiebung und kein Neubeginn.
Wenn wir wissen, wo wir hingehören und warum wir dorthin gehören,
dann können wir auch die Weichen für die Zukunft stellen.
Setze sich deshalb ein jeder von uns für unsere gemeinsamen Ziele ein! Im
Großen wie im Kleinen, mit friedlichen Mitteln! Mit den Waffen des
Geistes, mit Langmut und mit ganzem Herzen! Denn nur dann waren die
Entbehrungen und Opfer unserer Standschützen nicht umsonst.