Schweizerische AG für Kriminologie; Kongress 2016, 2.-4. März 2016 Evaluationen im politischen Umfeld: Fallbeispiel Evaluation AT-StGB 2011/12 Dr. Dr. h.c. Barbara Haering Lehrbeauftragte Universität Lausanne Vorbemerkungen Zur Stärke der direkten Demokratie gehört ein hoher Legitimationsbedarf politischer Projekte. Politische Legitimation kann durch Volksabstimmungen, Pilotprojekte – und/oder Evaluationen hergestellt werden. Institutionelle Reformen in der Schweiz entstehen deshalb oft über Pilotprojekte – verbunden mit der Aussicht auf Evaluation. Beispiele dazu sind Drogen- und Präventionspolitiken, Schulversuche oder die Einführung des NPM. Ein Strafgesetz kann aber nicht mit einem Pilotversuch erprobt werden – es muss ggf. wieder geändert werden. Politikevaluation steht stets im politischen Spannungsfeld. 2 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Fallbeispiel Evaluation AT-StGB: Übersicht Evaluation AT-StGB Ausgangslage, Kontext und Fokus der Evaluation Wirkungsmodell und Evaluationsansätze Ergebnisse der Evaluation Zusätzliche Berichterstattung des BFS Evaluationen im politischen Umfeld Politik und Evaluation Politische Positionen im Wandel Lessons Learnt 3 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Ausgangslage Die Revision AT-StGB trat per 01.01.2007 in Kraft. Wichtigstes Anliegen der Revision war die Neuordnung und Differenzierung des Sanktionensystems: Weitgehender Ersatz der kurzen unbedingten Freiheitsstra- fen (< 6 M) durch Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit. Einführung einer neuen Sicherungsverwahrung. Bereits im September 2008 erteilte der BR den Auftrag zur Evaluation der Wirksamkeit der Neuerungen. Das Bundesamt für Justiz bildete dazu eine Arbeitsgruppe und schrieb 2010 zwei Evaluationen öffentlich aus. 4 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Fokus und Ziel der Evaluation Die von econcept durchgeführte Evaluation adressierte den Ersatz der kurzen Freiheitsstrafen sowie die neue Form der Verwahrung. Ziel der Evaluation war es, die Wirksamkeit der Strafrechtsrevision zu ermitteln und dabei zu prüfen, inwiefern die mit der Revision angestrebten Ziele tatsächlich erreicht wurden bzw. werden. Die Evaluation startete Anfang 2011 und wurde 2012 abgeschlossen. 5 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Evaluationsthemen im Überblick Evaluationsthemen Hauptziele der Revision AT-StGB Übergeordnete Evaluationsfragestellungen Ersatz der kurzen Freiheitsstrafen Kurze Freiheitsstrafen unter 6 Monaten werden weitgehend durch Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit ersetzt, ohne dass sich dies negativ auf die Spezial- und Generalprävention und damit auf die Kriminalitätsentwicklung auswirkt. Inwiefern konnte der weitgehende Ersatz kurzer Freiheitsstrafen unter 6 Monaten durch Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit umgesetzt werden? Die Gesellschaft wird besser vor gefährlichen Straftätern geschützt. Inwiefern führte die neue Form der Verwahrung zum besseren Schutz der Gesellschaft vor Straftätern? Neue Form der Verwahrung 1 6 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Inwiefern erfolgte dies ohne negative Auswirkungen auf die Spezial- und Generalprävention und damit auf die Kriminalitätsentwicklung? Zielsetzungen der Revision als Massstab Evaluationsthemen Hauptziele der Revision AT-StGB Übergeordnete Evaluationsfragestellungen Ersatz der kurzen Freiheitsstrafen Kurze Freiheitsstrafen unter 6 Monaten werden weitgehend durch Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit ersetzt, ohne dass sich dies negativ auf die Spezial- und Generalprävention und damit auf die Kriminalitätsentwicklung auswirkt. Inwiefern konnte der weitgehende Ersatz kurzer Freiheitsstrafen unter 6 Monaten durch Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit umgesetzt werden? Die Gesellschaft wird besser vor gefährlichen Straftätern geschützt. Inwiefern führte die neue Form der Verwahrung zum besseren Schutz der Gesellschaft vor Straftätern? Neue Form der Verwahrung 1 7 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Inwiefern erfolgte dies ohne negative Auswirkungen auf die Spezial- und Generalprävention und damit auf die Kriminalitätsentwicklung? Wirkungsmodell zur Evaluation AT-StGB INPUT OUTPUT 8 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 OUTCOME IMPACT Breite Evaluationsansätze….. Vorher/Nachher-Vergleiche: Um Wirkungen der Gesetzesänderungen abschätzen zu können, waren Sachverhalte vor und nach der Revision zu erheben. Soll/Ist-Vergleiche: Die Ziele der Revision gemäss der politischen Diskussion definierten den «Soll-Zustand» – die Datenerhebungen identifizierten den «Ist-Zustand». Wirkungspfade: Es wurde versucht Wirkungspfade nachzuzeichnen und dies zur Validierung und Plausibilisierung von Erhebungsergebnissen. Kontextanalyse: Da die Revision Gegenstand politischer und öffentlicher Auseinandersetzungen war, musste die Evaluation auch den Kontext untersuchen. 9 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 ...bedingen umfassende Evaluationsmethoden... Dokumentenanalysen und Statistik: Leitentscheide BG, Fachzeitschriften, einschlägige Kommentare sowie Auswertung statistischer Grundlagen des BFS. Online-Befragungen: Strafverfolgungs- und Strafvollzugsbehörden, Bezirks-, Amtsgerichte und Obergerichte (Vorsitzende sowie Statistikverantwortliche), Schweizerischer Anwaltsverband sowie Demokratische Juristen/innen. Qualitative, vertiefende Gespräche: Ausgewählte Personen aus Vollzugseinrichtungen sowie von Opferberatungsbzw. Opferhilfestellen. Medienanalyse: Tages- und Wochen-Printmedien aus der deutschen und der französischen Schweiz. 10 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 …und ein interdisziplinäres Forschungsteam Barbara Haering, Dr. sc. nat., Dr. h. c. rer. pol. Ladina Rageth, MA, Soziologie Max Grütter, Dr. oec., Ökonomie und Statistik Simon Bock, MA, Politikwissenschaften Corinne Reber, BA, Rechtswissenschaften Anja Martina Binder, BA, Rechtswissenschaften Chantal Joris, BA, Rechtswissenschaften Stephan Bernard, Lic. iur., LL.M., Rechtsanwalt Christof Riedo, Prof. Dr., Strafrecht Kurt Imhof, Prof. Dr., Medienwissenschaften 11 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Ergebnisse zur Evaluation des Sanktionenrechts Leistungen: Die neuen Strafformen wurden planmässig genutzt. Sie erwiesen sich als praktikabel und führten zu den intendierten Zielen. Der Ersatz der kurzen Freiheitsstrafen führte zu keiner Zunahme längerer Freiheitsstrafen. Wirkungen: Es liessen sich aufgrund der Erhebungen weder ein positiver noch ein negativer Einfluss der neuen Strafformen auf General- und Spezialprävention erkennen. Handlungsbedarf: Während die direkt involvierten Akteure wenig Handlungsbedarf identifizierten, liessen die Medienberichterstattungen auf einen grossen Handlungsbedarf schliessen. 12 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Zusätzliche Berichterstattung BFS Herbst 2012 Die Berichterstattung 2012 des BFS umfasste Daten aus zwei weiteren Jahren. Die Berichterstattung zeigte: Das Ziel der Gesetzesrevision von 2007, die kurzen Frei- heitsstrafen zu verringern, wurde erreicht. Die Zahl der unbedingten resp. bedingten Freiheitsstrafen nahm markant ab – jene der unbedingten resp. bedingten Geldstrafen stark zu. # unbedingte Freiheitsstrafen: # bedingte Freiheitsstrafen: # unbedingte Geldstrafen: # bedingte Geldstrafen: 13 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 2006: 42’080 / 2010: 2’439 2006: 14’095 / 2010: 6’352 2007: 7’960 / 2010: 11’554 2007: 62’041 / 2010: 71’881 Politik und Evaluation im historischen Ablauf / Jahr Bundesrat Eidgenössische Räte 2007 Inkraftsetzung Revision StGB Vorstoss NR Stamm: 23.03.2007 2008 Auftrag an BJ zur Evaluation Vorstoss SVP-Fraktion:18.12.2008 0. XXX 0000 Evaluative Arbeiten 2009 2010 Ankündigung Revision StGB Ausschreibung Evaluation 2011 Vernehmlassung Revision StGB Evaluation econcept 2012 Botschaft Revision StGB 2013 Parlamentarische Beratung: Dreifaches Differenzbereinigungs- Berichterstattung BSF verfahren 2014 2015 2016 Einigungskonferenz Inkraftsetzung Revision StGB 1 Evaluation und politischer Prozess überlappten sich. 14 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Entwicklung der politischen Positionen / 0. XXX 0000 Jahr Bundesrat / Eidgenössische Räte Positionen 2007 Inkraftsetzung Revision StGB Vorstoss – Bedingte Geldstrafen als Ersatz für kurze Freiheitsstrafen – Aufhebung bedingte Geldstrafe 2008 Vorstoss Auftrag BR an BJ zur Evaluation – Aufhebung bedingte Geldstrafe 2010 Ankündigung BR: Revision StGB – Aufhebung bedingte Geldstrafen 2011 Vernehmlassung Revision StGB 2012 Botschaft Revision StGB – Aufhebung bedingte Geldstrafen – Kurze Freiheitsstrafen bereits ab drei Tagen – Unbedingte Geldstrafen 2013 – Vorschlag SR: Halbbedingte Geldstrafe – gescheitert im NR 2914 Parlamentarische Beratung mit dreifacher Differenzbereinigung 2015 Einigungskonferenz 2016 Inkraftsetzung Revision StGB – Bedingte Geldstrafen als Ersatz für kurze Freiheitsstrafen – Kurze Freiheitsstrafen – Geldstrafen nur noch bis 180 Tagessätze (statt 360) 2009 1 Die politischen Positionen wandelten sich mehrfach. 15 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Lessons learnt (1) Potenzial von Evaluationen: Evaluationen können der Politik wichtige Entscheidungsgrundlagen und Legitimation liefern. Evaluationen können Konsequenzen haben. Sie müs- sen mit entsprechend grossem Verantwortungsgefühl angegangen werden. Untersuchungsgegenstand, Evaluationsfragestellungen und Überprüfungsmassstäbe müssen konkretisiert und vereinbart werden. Evaluationsergebnisse müssen rechtzeitig vorliegen, um entscheidungsrelevant werden zu können. 16 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Lessons learnt (2) Multiperspektivität: Umfassende Evaluationsansätze und ein breiter Methodenmix sichern durch Triangulation die Belastbarkeit von Evaluationsergebnissen. Breite Methodenkenntnisse sind wichtig – und ebenso das Knowhow, wann welche Methode zielführend und optimal eingesetzt werden kann. Interdisziplinäre Forschungsteams sind für die Qualität von Evaluationen zentral. Es braucht zudem das disziplin-übergreifende Gespräch und Verständnis. 17 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Lessons learnt (3) Wissenschaftlich fundiert: Evaluationsergebnisse müssen wissenschaftlich «waterproof» sein. Evaluationsmethoden samt Anwendung müssen dem «State of the Art» genügen. Grundlagendaten müssen nachvollziehbar gesichert werden; personenbezogene Informationen unterstehen dem Datenschutz. Evaluationsergebnisse müssen, wenn immer möglich, mit Akteuren und Betroffenen validiert werden, um Rückschaufehler zu verhindern. Die Berichterstattung muss sprachlich präzis sein und soll auf qualifizierende Adjektive verzichten. 18 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016 Lessons learnt (4) Verantwortung der Politik: Es bleibt der Politik anheim gestellt, inwiefern sie bei ihren Entscheiden Grundlagen aus Evaluationen berücksichtigen will. Evaluationen nehmen Stellung, indem sie «soll» und «ist» vergleichen. Sie können auch mögliche Entwicklungspfade ableiten und vorschlagen. Evaluationen nehmen aber keine politische Wertung vor, dies bleibt den legitimierten Behörden vorbehalten. Die Publikation von Evaluationsergebnissen stellt in jedem Fall Transparenz zu Sachverhalten her. In diesem Sinne leisten Evaluationen im Sinne der Aufklärung stets Beiträge zur Demokratie. 19 / SAK / Evaluationen im politischen Umfeld / 3. März 2016
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