Vom Sinn der Formen: Alltägliche ästhetische Praxis als

Vom Sinn der Formen: Alltägliche ästhetische Praxis als Ansatzpunkt einer
kulturgeographischen Stadtforschung
Rainer Kazig
Die jüngere gesellschaftliche Entwicklung ist durch eine Ausweitung ästhetischer
Sensibilität
gekennzeichnet.
Sie
besteht
einerseits
in
einer
Erweiterung
der
Lebensbereiche, die Gegenstand ästhetischer Produktion sind. Dabei ist kaum ein
Lebensbereich ausgespart: sie zeigt sich im Boom der Schönheitschirurgie genauso wie
in der Entwicklung von Badezimmern zu Wellnessoasen, von Kneipen zu Designerbars
oder der Gestaltung von Stadtbeleuchtung auf der Grundlage von ästhetisch
ausgerichteten Beleuchtungskonzepten.
Mit dieser Ausdehnung der Ästhetisierung über den Bereich der Künste hinaus haben
sich auch die Möglichkeiten und Formen ästhetischer Wahrnehmung erweitert. Sie sind
in ihren neuen Formen weniger intellektuell geprägt als der klassische Kunstgenuss,
haben eine ausgeprägte emotionale Komponente und sind auf die momentane
Erscheinung einer Form bezogen. Die gestiegene Sensibilität gegenüber Atmosphären
und Stimmungen sowohl in der alltäglichen Praxis als auch in der ästhetischen Theorie
sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Gewandelt hat sich noch ein weiterer Aspekt
ästhetischer Wahrnehmung: War sie als Kunstgenuss noch in erster Linie Selbstzweck,
kann ästhetische Wahrnehmung heute auch im Zusammenspiel mit anderen Aktivitäten
stehen. Konsumenten beispielsweise können eine bestimmte Atmosphäre für ihre
Einkäufe suchen oder Tätige in kreativen Berufen eine bestimmte Atmosphäre für die
Entwicklung ihrer Kreativität benötigen. Deshalb spreche ich im Titel des Vortrages auch
von alltäglicher ästhetischer Praxis. Schließlich ist ästhetische Wahrnehmung mit dieser
Entwicklung nicht mehr nur auf ein im Kunstgenuss geübtes Publikum beschränkt
sondern potenziell in allen gesellschaftlichen Gruppen verbreitet.
Diese hier nur kurz skizzierte Entwicklung stellt auch die Stadtforschung vor neue
Fragen: Unter anderem wirft sie die Frage auf, in welcher Form städtische Räume eine
neue Bedeutung als Gegenstand alltäglicher ästhetischer Wahrnehmung bekommen
haben. Bisher besteht neben der Gewissheit, dass sie als Gegenstand alltäglicher
ästhetischer Wahrnehmung an Bedeutung gewonnen haben, wenig detailliertes Wissen
über die Gegenstände, den Sinn und die Verbreitung dieser Wahrnehmung. An diesem
Defizit möchte ich mit meiner Habilitation ansetzen und alltägliche ästhetische
Wahrnehmung als Anknüpfungspunkt einer kulturgeographischen Stadtforschung
entwickeln.
In meinem Vortrag möchte ich nach einer einführenden Vorstellung des Hintergrunds
meiner Fragestellung die notwendige empirische und konzeptionelle Annäherung an
alltägliche
ästhetische
Wahrnehmung
skizzieren,
um
sie
als
Gegenstand
kulturgeographischer Stadtforschung thematisieren zu können. Um Stadtforschung zu
sein, gilt es im Detail aufzuzeigen, auf welche Elemente und Formen städtischer Räume
sich die ästhetische Wahrnehmung bezieht. Als kulturgeographische Forschung ist
außerdem dem Sinn der Wahrnehmungen und ihrer Verbreitung auf die Spur zu kommen.
Diese beiden Anforderungen stecken sowohl für die Gestaltung der empirischen
Forschung als auch für die Konzeptionalisierung ästhetischer Wahrnehmung den Rahmen
ab.
Die empirische Forschung im Bereich alltäglicher ästhetischer Praxis stößt an die
Grenzen üblicher Methoden der empirischen Sozialforschung: Denn sie muss nicht nur
die Rekonstruktion ästhetischer Wahrnehmungen, Bewertungen und deren sozialer
Bedeutungen leisten, sondern auch differenziert festhalten, auf welche Formelemente
sich die alltägliche ästhetische Praxis bezieht. Dabei muss sie sowohl gegenüber Formen
des Materiellen als auch gegenüber Atmosphären im städtischen Raum offen sein. Ich
werde in meinem Vortrag ein methodisches Vorgehen skizzieren und diskutieren, das
diesen Anforderungen gerecht wird.
Genauso muss die Konzeptionalisierung alltäglicher ästhetischer Wahrnehmung die
Formen, die den Gegenstand der ästhetischen Wahrnehmung sind, ebenso beinhalten wie
die soziale Bedeutung des Aktes der Wahrnehmung. Ich werde den in meinen Augen
dafür geeigneten Ansatz der alltagsästhetischen Episoden vorstellen. Er erfasst die
ästhetische
Wahrnehmung
mit
ausreichender
Präzision
und
ist
sowohl
stadtgeographische als auch an kulturgeographische Fragestellungen anschlussfähig.
an