1 Die Freiheit muss man nehmen. Meret Oppenheim und Freunde Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung im Kunstmuseum Ahlen am Sonntag, 14. Februar 2016 „Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen.“1 Diese Worte der deutschschweizer Künstlerin Meret Oppenheim stehen im Mittelpunkt der Ausstellung, die Arbeiten auf Papier, Objekte und Fotografie aus allen Schaffensphasen im Kontext von zahlreichen Arbeiten ihrer Künstlerfreunde präsentiert. Meret Oppenheim äußerte dieses berühmt gewordene Zitat im Rahmen ihrer Rede zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel im Jahr 1975. Zu jener Zeit konnte die 61-jährige Künstlerin nach langem Ringen endlich die Früchte ihrer Arbeit ernten. Über Jahrzehnte stand ihre Kunst im Schatten einiger weniger Werke, mit denen sie als blutjunge Künstlerin im Paris der Surrealisten im Verlauf der 1930er-Jahre großes Aufsehen erregt hatte und auf denen sich ihr früher Ruhm gründete. Es sind die Akt-Fotografien von Man Ray mit ihr an der Druckerpresse von 1933 sowie eine mit Pelz besetzte Tasse mit ebenfalls pelzigem Löffel, 1936 entstanden, die das Bild Meret Oppenheims als surrealistischer Muse und Künstlerin bis heute prägen. Mit einem Großteil ihres Werkes versuchte sie, so wird zu sehen sein, sich von dieser Festschreibung zu befreien. Sie erhob den Wandel zum künstlerischen Prinzip, um nie wieder mit einer kunsthistorischen Einordnung in ihrem Schaffen eingeengt zu werden. So entstand ein außerordentlich vielschichtiges, überaus eigenständiges und sogar sperriges Werk, das es seinen Betrachtern durchaus nicht leicht macht. Dennoch lebte Meret Oppenheim nicht abgekapselt und von äußeren Einflüssen zurückgezogen – im Gegenteil: sie suchte und brauchte den Kontakt zu anderen Künstlern und stand bis zu ihrem Lebensende in fruchtbarem Austausch mit Gleichgesinnten. Betrachtet man ihr Werk im Dialog mit Arbeiten ihrer zahlreichen Künstlerfreunde, so zeigt sich Meret Oppenheim als einflussreiche Akteurin der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts in ihrer prägenden Rolle für nachfolgende Künstlergenerationen. Bisher gab es nur wenige Ausstellungen, die Meret Oppenheims Künstlerfreundschaften zum Thema machten. „Die Journalisten fragten nach den Beziehungen zu A, zu B, zu C etc.“ beklagte sich Meret Oppenheim einmal über die abwertende Wirkung des Vergleichens.2 Die Ausstellung hier im Kunstmuseum Ahlen versucht dagegen, ihrem Werk genügend Raum zu geben, um seine Eigenständigkeit zu behaupten: So ist der gesamte Altbau den Arbeiten auf Papier und den Objekten von Meret Oppenheim vorbehalten, die in den ehemaligen Wohnräumen eine eher intime Präsentation erfahren. Demgegenüber werden im Neubau mit seinen großzügigen Ausstellungsräumen die Arbeiten ihrer Freunde, ergänzt um ausgewählte Arbeiten Meret Oppenheims, sowie gemeinschaftlich entstandene Werke und Fotografien gezeigt, um das weitgespannte Netz der freundschaftlichen Beziehungen zu präsentieren. Das Werk Meret Oppenheims kann daher autonom für sich stehen und findet doch seine Verankerung innerhalb wichtiger künstlerischer Tendenzen der Moderne und Nachkriegsmoderne, die durch Arbeiten der Weggefährten vertreten werden. 1 Meret Oppenheim: Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel 1974, am 16. Januar 1975, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 270. 2 Simon Baur: „Die Journalisten fragten nach Beziehungen zu A, zu B, zu C etc.“. Meret Oppenheim und ihre Freunde, in: Gedankenspiegel, hrsg. von Thomas Levy, Bielefeld 2013, S. 65. 2 Die Konzentration auf Zeichnung und Druckgrafik in der Ausstellung beruht auf dem Umstand, dass diese Gattungen innerhalb des Werkes von Meret Oppenheim besonderes Gewicht haben. Diese in der Kunstgeschichte meist unterschätzten Gattungen boten der Künstlerin ein willkommenes Format für künstlerische Experimente, zur Erprobung immer neuer, überraschend einfallsreicher Motive und Stile sowie druckgrafischer Techniken, die sie stets verfeinerte und teils auch gegen den Strich einsetzte. So manche frühe Zeichnung diente dabei als Motivspeicher für die spätere Verwendung als Druckgrafik, als Gemälde oder auch als Objekt. Oftmals lagen Jahre, ja Jahrzehnte dazwischen, bis Meret Oppenheim ein Motiv noch einmal verwendete, variierte und in neue bildliche Zusammenhänge setzte. So spannte sie ein feines Netz der Bezüge, in dem jedes Kunstwerk ihres facettenreichen Schaffens mit allen anderen in einem spannungsreichen Verhältnis steht.3 Häufig sind dabei Motive zu entdecken, die für den steten Wandel alles Lebendigen stehen. So hat Meret Oppenheim sich häufig mit Wolken oder auch mit Nebel beschäftigt, die ja ganz grundsätzlich nicht fassbare, überaus flüchtige, kaum einzugrenzende Phänomene sind. So verwandelt sich Nebel in Landschaften, Wolken in ein Gesicht. Auch Schmetterlinge oder Falter, deren Metamorphose ja sprichwörtlich ist, haben sie zu phantasievollen Bildwelten angeregt. Dass sie sich dabei jeder erkennbaren Handschrift, einem individuell hervorstechenden Stil verweigerte, ist häufig als Beliebigkeit kritisiert worden. Doch handelt es sich um eine bewusste künstlerische Strategie, die Meret Oppenheim mit den Surrealisten teilte: Der beeindruckenden Vielfalt ihres Werkes liegt tatsächlich die Ablehnung von Vorstellungen künstlerischer Genialität und Authentizität zugrunde. Eher fällt die Sparsamkeit ihrer künstlerischen Haltung ins Auge: „Mit ganz enorm wenig viel“, wie es in einem ihrer Gedichte heißt, ging sie daran, Kunst zu machen. 4 Meret Oppenheim bezieht außerdem den Zufall in die künstlerische Arbeit ein, etwa in den Gemeinschaftsarbeiten mit anderen Künstlern, den so genannten „Cadavre exquis“, wörtlich übersetzt den köstlichen Leichen, die man aus der Kindheit kennt: Jeder Künstler beginnt eine Zeichnung, knickt den entsprechenden Teil des Blattes anschließend um, so dass nur noch die Anschlussstellen zu sehen sind, an denen der nächste das Bild fortsetzt, bis die fantastischsten Dinge entstehen. Bildgebend ist für Meret Oppenheim außerdem ihre intensive Beschäftigung mit Träumen, wobei sie keine Illustrationen ihrer Träume erschafft, vielmehr entstehen ihre Bilder nach einer eigenen Logik, wie wir sie aus Träumen kennen: assoziativ, scheinbar sinnlos, aber anspielungsreich. „Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen“, kommentierte Meret Oppenheim ihr intuitives Vorgehen bei der Entstehung ihrer Bildwelten.5 Die meist stille, poetische Kraft ihrer vielfach eher zurückhaltenden Werke rührt aus dieser Innerlichkeit, wie sich bei einem Gang durch die chronologische, also in zeitlicher Reihenfolge angeordnete Ausstellung zeigt. Hier im Erdgeschoss des Neubaus befinden wir uns sozusagen im Paris der Zeit zwischen den Weltkriegen, 3 Vgl. Matthias Frehner: ‚läck mi a.A.‘. Die frühe Meret Oppenheim, die Schweiz und ihre Schweizer Weggefährten, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 59. 4 Meret Oppenheim: „Ohne mich ohnehin ohne Weg kam ich dahin ….“, Gedicht, 1969, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 74. 5 Elisabeth Bronfen: „Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen.“ Über das Verhältnis von Form und Nichts bei Meret Oppenheim, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 35 ff. 3 wohin die 18-jährige Schulabbrecherin Meret Oppenheim zusammen mit einer Freundin reiste, um Künstlerin zu werden. „Es sind die Künstler, die träumen für die Gesellschaft“, sagte Meret Oppenheim 1974 in einem Zeitungsinterview, die seit den späten 1920-er Jahren stets ein Traumtagebuch führte.6 Mit dieser Auffassung war sie bei den Pariser Surrealisten um André Breton, Max Ernst, Alberto Giacometti, Hans und Sophie-Täuber Arp, Man Ray und vielen anderen Anfang der 1930er-Jahre gerade richtig. Mit ihrer radikal antibürgerlichen Haltung traten die Surrealisten für eine über der Realität stehende Wirklichkeit ein, die es galt, zur Befreiung der Gesellschaft aufzudecken. Sie maßen der künstlerischen Idee mehr Gewicht zu als der handwerklichen Ausführung, was sich bei Meret Oppenheim in den 1930er-Jahren etwa in skizzenhaften Zeichnungen zeigt – kurze Notate ihrer vielen sprühenden Einfälle. Statt eine private Kunstschule zu besuchen, für die sie sich eingeschrieben hatte, suchte sich Meret Oppenheim ihre künstlerischen Lehrer und Vorbilder lieber selbst in diesem Kreis, von dem sie bald anerkannt wurde. Nach einem Besuch in ihrem Atelier im Jahr 1933 luden Arp und Giacometti sie zu einer Gruppenausstellung der Surrealisten ein, bei denen sie fortan mit ihren Werken vertreten war. Es ist beachtlich, dass die 20 und mehr Jahre älteren, reifen Künstler sie so rasch als eine der ihren ansahen. Allerdings vertrat Meret Oppenheim schon damals eine eher kritische, kommentierende Haltung zum Surrealismus.7 Die Zeichnung für ihr berühmtes „Ohr von Giacometti“ etwa, zu dem sie später eine Grafik und auch ein Bronze-Objekt als Multiple schuf, verwandelt dieses für Künstler-Mythen so wichtige Organ – man denke nur an van Gogh – auf ironische Weise zu einem anspielungsreichen Körperteil mit einem kleinen Fäustchen als Ohrläppchen und pflanzlichen Teilen, aus denen die Ohrmuschel besteht. So vertrat sie ein eher literarisches, konzeptuelles Verständnis der Kunst und stand damit Künstlerin wie Francis Picabia und Marcel Duchamp nahe. Mit letzterem verband sie eine lebenslange Freundschaft. Auch zur Rolle der Träume vertrat sie eine eigene, von der surrealistischen Lehre verschiedene Haltung. Die Surrealisten bezogen sich auf Sigmund Freud und seine Traumdeutung, um das Individuum von seinen unterdrückten Wünschen zu befreien. Für Meret Oppenheim war dagegen der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung prägend, den sie auch persönlich kannte. Im Sinne Jungs schöpfte sie aus der Vorstellung der Existenz von psychischen Bildern, die alle Menschen miteinander teilen und deren symbolischer Inhalt sich eher intuitiv als intellektuell erschließt. Der Zugriff auf diese archaischen Symbole dient laut Jung der Vervollständigung der Persönlichkeit, gerade auch in Bezug auf fehlende männliche und weibliche Anteile beim jeweils anderen Geschlecht. So träumte Meret Oppenheim anscheinend einmal von einem weiblichen Kentauren, jenem Fabeltier der griechischen Mythologie, das halb Mann, halb Pferd ist. In der zarten, aquarellierten Zeichnung von 1932 begegnet uns eine äußerst leichtfüßige, lächelnde weibliche „Kentaurin auf dem Meeresgrund“, so der Titel. „Geträumt“ hat die Künstlerin neben ihrer Signatur notiert. Den kämpferischen Kentauren hat sie kurzerhand in eine enthusiastisch fortschreitende weibliche Figur verwandelt, deren Gesicht unschwer ein Selbstportrait erkennen lässt. Die Überwindung konventioneller Geschlechterrollen und die Reflektion über 6 7 Isabel Schulz: Die Gegenwart der Träume, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 106. Christiane Meyer-Thoss: Biografie, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 287 f. 4 Rollenzuschreibungen, die hier erkennbar werden, ziehen sich bis zum Schluss durch ihr Leben und ihr künstlerisches Werk. In ihrer schillernden Androgynität, männlich und weiblich zugleich, hat Meret Oppenheim die Surrealisten besonders fasziniert, wie die Portraitfotografien von Man Ray oder Dora Maar und vielen anderen zeigen, die sich hier auf der von mir aus gesehen rechten Seite befinden. Zwar wurde sie damals als perfekte surrealistische Frau bezeichnet. Dem Frauenbild der meist männlichen Künstler entsprach Meret Oppenheim dabei jedoch nicht, wie ein Blick auf die Grafiken von Kollegen wie Max Ernst und Marcel Jean hier auf der linken Wand verrät. In den Aktfotografien von Man Ray aus der Serie „Erotique voilée“ – zu Deutsch: verhüllte Erotik – , die in einer Künstlerzeitschrift veröffentlich wurden und in Paris, noch viel mehr aber in ihrer Heimatstadt Basel einen Skandal hervorriefen, stellte sie keineswegs nur Objekt eines Blickes und Projektionsfläche erotischer Vorstellungen dar. Sie posierte nicht an der Druckerpresse, sondern inszenierte sich vielmehr als selbstbewusste und selbstbestimmte Künstlerin, träumerisch und zupackend zugleich, wie ihr von Druckerschwärze gefärbter erhobener Arm und die ausgestreckte Hand verdeutlichen. So nimmt es auch nicht wunder, dass sie sich 1935 dazu entscheidet, sich von Max Ernst zu trennen, mit dem sie über ein Jahr lang eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verband. An der Seite dieses einflussreichen Künstlers wäre es ihr nur schwer möglich gewesen, einen eigenen künstlerischen Weg einzuschlagen. Zudem wäre von ihr selbstverständlich erwartet worden, zurückzutreten zugunsten seiner Karriere – einer Einschränkung, der sie sich keinesfalls unterwerfen wollte. Max Ernst verfasste dazu die Zeilen: „Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein“, die 1936 als Einladungskarte zu Meret Oppenheims erster Einzelausstellung in einer Galerie in Basel dient. Die Künstlerin war Zeit ihres Lebens gewillt, den Preis zu zahlen, den der Erhalt der künstlerischen Freiheit von ihr forderte. So ist ihrem „Votivbild (Würgeengel)“, einer kolorierten Zeichnung von 1932, ein heftiges Plädoyer gegen das Kinderkriegen abzulesen, das ihren freien Lebenswandel abrupt beendet hätte und einen weit stärkeren Eingriff in ihre Autonomie als Künstlerin dargestellt hätte, als dies für Frauen heutzutage noch immer oftmals der Fall ist. Ausgerechnet mit ihrem berühmtesten Werk, der Pelztasse von 1936, die von André Breton den Titel „Frühstück im Pelz“ verliehen bekam, sollte ihre hochgeschätzte künstlerische Freiheit jedoch einen massiven Dämpfer erhalten. In geselliger Runde mit Pablo Picasso und dessen Gefährtin Dora Maar war ihr die Idee gekommen, in surrealistischer Manier Unvereinbares miteinander zu verbinden, Porzellan mit Pelz zu bekleben und die Tasse damit ihrer eigentlichen Funktion zu entheben. Das sinnliche Objekt wurde vom Direktor des Museums of Modern Art, Alfred M. Barr jr. umgehend für die Sammlung angekauft und ist bis heute dasjenige Kunstwerk, das am häufigsten mit Meret Oppenheim in Verbindung gebracht wird. „Dann“, so die Künstlerin, „war ich unter dieser Etikette von dieser ewigen Pelztasse – kein schlechtes Objekt, finde ich, aber ich hab' ebenso gute andere Objekte gemacht, gleichzeitig.“8 Aus diesem Grund ist die Pelztasse in dieser Ausstellung gleichsam nur in seiner Abwesenheit präsent und nur als Abbildung vorhanden. Jetzt wird auch verständlich, warum die Künstlerin auf der Fotografie von Brigitte Hellgoth aus dem Jahr 1974 anlässlich ihrer ersten Retrospektive in Deutschland im Lehmbruck-Museum in Duisburg regelrecht genervt aussieht. In 8 Zitat aus: http://www.hatjecantz.de/meret-oppenheim-5774-0.html 5 ihrem Blick liegt die Aufforderung, endlich auch einmal ihr weiteres, reichhaltiges Werk zu beachten und zu würdigen. Nach dem frühen Erfolg hätte Meret Oppenheim daran gehen können, den Pelz zu ihrem Markenzeichen zu machen und alles und jedes damit zu bedecken. Dies hat sie mitnichten getan, sondern ihre schöpferische Kraft auch weiterhin herausgefordert und noch im selben Jahr weitere Objekte wie „Ma gouvernante – My nurse – Mein Kindermädchen“ geschaffen, zwei auf einem Silbertablett servierte, miteinander verbundene Stöckelschuhe, an deren hoch aufragenden Absätzen Manschetten prangen, mit denen sonst Geflügel verziert wird. Die aus ihrer Sicht unselige Verstrickung von Weiblichkeit und Haushaltspflichten versinnbildlichend, war es ihr ein wichtiges Werk, das sie als Postkarte in einem Set produzieren ließ, an dem viele weitere Surrealisten-Freunde mitgewirkt hatten. Mitte der 1930er-Jahre musste Meret Oppenheim zunehmend für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen, da der Vater als deutscher Arzt nicht länger in der Schweiz praktizieren konnte. Sie fertigte Entwürfe für Mode und Schmuck, mit denen sie leidlich versuchte, sich über Wasser zu halten. Auch hier kehrte die Künstlerin das Gewohnte auf den Kopf: Handschuhe etwa bedecken nicht die Hände, um ihnen gleichsam eine zweite Haut zu verleihen, sondern sie zeigen schonungslos, was darunter verborgen liegt: die Knochen des Skeletts. Es zeigt sich, dass ihre Ideen viel zu visionär waren und kaum tragbar, so dass nur wenig tatsächlich produziert wurde. So war Meret Oppenheim 1937 gezwungen, Paris zu verlassen und zurück in das vergleichsweise provinzielle Basel zu kehren, wo sie eine Ausbildung als Restauratorin an der Kunstgewerbeschule absolvierte und begann, Möbel zu entwerfen. Der Entwurf des Vogeltischchens von 1939, der im Kapellchen, dem ehemaligen Eingang des Kunstmuseums im Altbau, gleichsam zur Tür hereinspaziert kommt, bleibt dennoch viel mehr ein fantastisches Objekt als ein Gebrauchsgegenstand, wiewohl das Exemplar aus dem Jahr 1983 hier in unserer Ausstellung deutliche Gebrauchsspuren aufweist. Die Freiheit, die Meret Oppenheim in den Pariser Künstlerkreisen genossen hatte, konnte sie in Basel jedoch nicht mehr ausleben. Es begann eine jahrelange Schaffenskrise, in der nur wenige Kunstwerke entstanden und vieles wieder zerstört wurde. Auch wenn sie mit den alten Freunden in Kontakt blieb und zeitweise zu Ausstellungen in die französische Hauptstadt zurückkehrte, vermittelt eine Zeichnung wie die „Einhornhexe“ von 1943, ebenfalls im Übergang zum Altbau, die niederschmetternde Stimmungslage, in der sich die Künstlerin in dieser Zeit befand. Daran änderte zunächst auch ihre Heirat mit dem Kaufmann Wolfgang La Roche im Jahr 1949 nicht viel, mit dem sie bis zum Tod ihres Mannes eine wohlwollende und respektvolle, wiewohl offene Beziehung verband. Erst als Meret Oppenheim 1954 ein Atelier in Bern bezog, war die Krise abrupt überwunden. Hier konnte sie wieder im Kontakt mit einer lebendigen Künstlerszene treten und sich künstlerisch weiter entwickeln. So wirkte sie 1956 an Daniel Spoerris Inszenierung des Theaterstücks mit dem schönen Titel „Wie man die Wünsche am Schwanz packt“ mit, von Pablo Picasso 1941 in surrealistisch-assoziativer Manier überwiegend sinnfrei verfasst, für das sie die Kostüme entworfen und das sie aus dem Französischen übersetzt hatte. Meret Oppenheim übernahm darin die tragende Rolle einer nur leicht bekleideten Gardine. Zu der die Aufführung begleitenden Ausstellung trug sie neuerlich mit einem Schuhobjekt bei: „Das Paar“, bestehend aus einem Paar Schnürstiefel, die an den Spitzen untrennbar miteinander verbunden sind. Hier in 6 dieser Ausstellung sind sie lediglich als Echo vorhanden in den Werken befreundeter Künstler wie von Daniel Spoerri, der das Kunstwerk damals begeistert erworben hatte und von dem im 1. Obergeschoss des Neubaus bronzene Brotschuhe zu sehen sind. Von dem Spanier Eduardo Arroyo, den sie in dessen Pariser Exil traf, werden daneben Collagen aus rauem Sandpapier gezeigt, in deren Zentrum Schuhsohlen stehen. Zwanzig Jahre nach ihren Erfolgen unter den Surrealisten waren es nun die eine Generation jüngeren Kollegen, die sich von Meret Oppenheim anregen ließen und sie im Gegenzug mit den neuen Materialien, die sie verwendeten, zu neuen Ufern aufbrechen ließen. Während Dieter Roth 1969 eine „Schwarze Rose“ aus dickflüssiger Acrylfarbe auf ein quadratisches Holzbrett goss, bildete Meret Oppenheim im selben Jahr eine damit verwandte „Blüte“ als Gipsrelief, deren organische Form zugleich auch an die poetische Bildsprache von Hans Arp erinnert. Die Bezüge der Vertreter des sogenannten Nouveau Réalisme wie Daniel Spoerri und Jean Tinguely zum Surrealismus galten dem Ziel, die Poesie alltäglicher Materialien in das Feld der Kunst zu integrieren. Die jungen Künstler wollten mit in ihren Augen unverständlichen, erhabenen Kunstäußerungen der Nachkriegszeit aufräumen und die Kunst revolutionieren, indem sie mit Alltagsgegenständen vor allem aus der Konsumwelt arbeiteten. Entsprechend gern schufen sie Objekt-Collagen und Assemblagen, durchaus im Geiste Marcel Duchamps. Diese Beziehung zwischen Neuem Realismus und Surrealismus kristallisiert sich gleichsam in der Kunst Meret Oppenheims, die freundschaftliche Kontakte und den künstlerischen Austausch sowohl zu den jüngeren Künstlern als auch zu den alten Pariser Freunden pflegte. Darunter waren auch weibliche Vertreterinnen des Surrealismus wie Toyen, mit der sie in innigem Austausch stand, und Dorothea Tanning, der späteren Frau von Max Ernst. Entsprechend thront Meret Oppenheims „Termitenkönigin“, eine bemalte und mit Augen versehene Auspuffwanne aus dem Jahr 1974, inmitten dieser vielschichtigen Präsentation. Mitte der 1950er-Jahre sagte Meret Oppenheim sich allerdings erklärtermaßen vom Surrealismus los und begann, künstlerisch eigene Wege zu beschreiten. Sie wandte sich der Druckgrafik zu und fertigte erstmals Holzschnitte, wobei sie Motive aus der Natur verwendete und ihren Blättern Titel wie „Gebüsch“, „Baum“ oder „Hügel“ verlieh. Die Arbeiten sind im Vergleich zu ihren vorherigen, surrealistisch motivierten Werken überraschend abstrakt angelegt, selbst wenn die Künstlerin in manchen als Kontrast märchenhafte Insekten hinzugefügt hat. Anders als sonst wird hier die Natur nicht als mythologische Personifikation oder symbolisch aufgefasst. Doch ist auch in diesen Arbeiten spürbar, dass Meret Oppenheim ihr künstlerisches Schaffen in Analogie zu den schöpferischen Kräften der Natur versteht.9 Mit diesen frühen druckgrafischen Blättern gelang es ihr, der spröden, eher harschen Drucktechnik des Holzschnitts unvermutet zarte Bildwelten zu entlocken. So machte sie sich in den folgenden Jahren daran, weitere Druckverfahren wie Radierung und Lithographie für sich zu entdecken und mit ihnen zum Teil zu ganz untypischen Ergebnissen zu gelangen. Die extrem flächig angelegte Arbeit „Kleiner Komet“ von 1968 etwa sieht fast wie ein Siebdruck aus, es handelt sich aber tatsächlich um eine Farblithografie. 9 Vgl. Isabel Schulz: Die Kräfte der Natur, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 124f. 7 Überhaupt explodierte ab Ende der 1960er-Jahre ihre Schaffenskraft, sie war in der Lage, ihren ganzen Einfallsreichtum auszuspielen. Es war die Zeit, in der Harald Szeemann, einer der einflussreichsten Kuratoren der Nachkriegszeit, Direktor des Kunstmuseums Bern war und eine internationale Kunstszene in die Stadt holte. Zwar wurde Meret Oppenheims Werk immer noch von der Pelztasse überdeckt, die in wichtigen Überblicksausstellungen zur Geschichte des Surrealismus wieder und wieder ausgestellt war. Mit ihrem „Eichhörnchen“ von 1969 schuf sie aufmüpfig ein männliches Pendant dazu, indem sie den Griff eines Bierhumpens mit dem pelzigen Schweif dieses putzigen Gesellen ersetzt hat. Ein Jahr später entstand das ironisch-kitschige „Andenken an das ‚Frühstück im Pelz‘“. Mit ihrem Selbstportrait als Röntgenaufnahme, dem „XRay“ von 1964, gelang ihr ein nicht minder ikonisches Werk, berührendes Memento mori. Die oftmals literarische Qualität ihrer Kunst brachte sie in dem verblüffenden Objekt „Wort, in giftige Buchstaben eingepackt (wird durchsichtig)“ – ein Hinweis auf Lautréamont – besonders auf den Punkt, das sie 1970 mit hintergründigem Witz konstruierte. Ihre mit Macht zurück gekehrte Schaffenskraft spiegelt sich außerdem in den zahlreichen Ausstellungen wider, in denen ihr Werk in dieser Zeit zunehmend präsentiert wurde. „Wenn einer in der Art eines anerkannten Meisters arbeitet, eines alten oder zeitgenössischen, dann kann er bald zu Erfolg kommen. Wenn einer aber eine eigene, neue Sprache spricht, die noch niemand versteht, dann muss er manchmal lange warten, bis er ein Echo vernimmt“, sagte sie 1975 in der besagten Rede zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel.10 Nun, mit über 50 Jahren, war es so weit: 1967 fand ihre erste große Einzelausstellung im Moderna Museet in Stockholm statt; endlich wurde ihrem Werk die längst überfällige Würdigung zuteil. Zahlreiche Galerien im In- und Ausland interessierten sich nun für ihre Arbeit. So sah sie sich auch in der Lage, ihren alten Traum zu erfüllen und das einstige Sommerhaus ihrer Großeltern, die Casa Constanza in Carona im Tessin, zu renovieren, teils nach eigenen Entwürfen, wie im Treppenhaus des Altbaus zu sehen ist. Von je her ein Treffpunkt von Anhängern alternativer und künstlerischer Lebensformen, wurde Carona neben Bern und Paris, wo sie ebenfalls ein Atelier bezog, fortan zum dritten wichtigen Ort der Inspiration für sie. Meret Oppenheims enge Verbindungen zu anderen Künstlern äußern sich auch in Gemeinschaftswerken, wie etwa die Reihe der „Steine“, Zeichnungen von 1975, die sie zusammen mit Roberto Lupo erschaffen hat. Die Binnenstrukturen der steinförmigen Gebilde sind akribisch ausgeführt, als ob die feine Maserung von Gesteinen durch die Lupe betrachtet worden wäre. Hier ist wieder, wie schon einmal zwanzig Jahre zuvor, die Natur Anlass für einen ausufernden Formenreichtum, der von den beiden Künstlern so angelegt worden ist, dass sich bei den Blättern nicht wirklich oben und unten, rechts und links unterscheiden lässt. Das Wandelbare der Form manifestiert sich hier vor dem Hintergrund in der soliden Festigkeit der Steine, die auf fast ironische Weise lebendig wirken. Das Motiv der Steine hat Meret Oppenheim später, 1978, noch einmal für eines ihrer Mappenwerke aufgegriffen, das denselben Titel trägt. Drei abstrahierten Steinen, auf unterschiedlich farbigen Papieren als Lithografie gedruckt, sind so genannte Schlangengedichte zur Seite gestellt. Dabei beginnt jedes Wort mit dem letzten Buchstaben des vorangegangenen, so 10 Meret Oppenheim: Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel 1974, am 16. Januar 1975, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 270. 8 dass sich eine unaufhörliche Wort-Kette ergibt, die wiederum aus einer anhaltenden Reihe von nicht zusammen gehörenden Assoziationen besteht. Erst jetzt, Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre, begann Meret Oppenheim, auf ihre suggestiven Gedichte zurückzukommen, die hauptsächlich in der Pariser Zeit in den 1930er-Jahren entstanden und damals einen wichtigen Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis darstellten. Im 2. Geschoss des Altbaus sind diese Mappenwerke und bibliophilen Bücher jeweils in einzelnen Räumen für sich ausgestellt, teils ergänzt durch einzelne andere grafische Arbeiten. Der Salon ist dabei von der Serie „Caroline“ belegt, in der sich Meret Oppenheim auf den Briefwechsel von Karoline von Günderode und Bettina Brentano bezieht, zwei Schriftstellerinnen des 18. Jahrhundert, die unter den restriktiven Geschlechterrollen der damaligen Zeit arbeiteten. Bild und Text stehen hier in einem offenen, poetischen Verhältnis zu einander. Nicht nur verwendete Meret Oppenheim hier alte und auch neuere Gedichte; genauso finden sich Zitate früherer Bildwerke in den sensiblen Radierungen. Mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und Transparenz11 regt Meret Oppenheim darin zum vielschichtigen Spiel möglicher Lesarten an, wie es das Alterswerk einer reifen Künstlerin nicht vermuten lassen würde. Quintessenz eines reichhaltigen Schaffens, entstand die Reihe 1984, ein Jahr vor ihrem Tod. Im Spiegel ausgewählter Fotografien und Portraits der reifen Meret Oppenheim im 2. Obergeschoss des Neubaus zeigt sich schließlich das Antlitz einer Künstlerin, die bis zuletzt zumindest Mitautorin ihrer eigenen Darstellung war. Meret Oppenheim gibt sich in diesen Bildnissen als Künstlerin zu sehen, die frei von gesellschaftlichen Konventionen ist und sich gemäß ihrer Vorstellung, dass Kunst kein Geschlecht habe, als androgyne Figur versteht. Das Spiel mit Identität und Maskerade, Ironie und Aura sowie männlichen und weiblichen Rollenvorstellungen verraten ihre Lust an der selbstbestimmten Inszenierung des eigenen Bildes. Als sie ab den 1970erJahren von feministischen Künstlerinnen als Vorbild entdeckt wurde, lehnte sie es entschieden ab, sich von der Frauenbewegung vereinnahmen zu lassen und pauschal für Kunst von Frauen zu werben. Sie wollte ihr künstlerisches Schaffen nicht in den Dienst einer sozialen Bewegung stellen. Wie die Serigrafie „Meine Fahne“ von 1974 zeigt, das wie kaum ein anderes Bild ihre künstlerische Offenheit, Freiheit und Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt, wollte sie sich buchstäblich nichts auf die Fahne schreiben. Dem Feminismus stand sie kritisch gegenüber, ihrer Ansicht nach gäbe es weder Männer- noch Frauenkunst, sondern nur gute oder schlechte. Sie vertrat vielmehr die Auffassung, dass männliche Künstler ihren weiblichen Anteil in sich entdecken müssten, anstatt ihn auf ihre weiblichen ‚Musen‘ zu projizieren. Weibliche Künstlerinnen dagegen stünden vor der Aufgabe, den in ihrem Inneren angelegten männlichen ‚Genius‘ zu finden und aus ihm zu schöpfen, um die eng gesteckten Grenzen der Geschlechterrollen zu überschreiten und ‚ganz‘ zu werden. Bis zu ihrem Lebensende 1985 nahm Meret Oppenheim konsequent diese Freiheit in Anspruch, die sich auch und besonders vor dem Hintergrund derzeitiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen keineswegs als selbstverständlich erweist und aktueller ist denn je. Damit eine Ausstellung wie diese zustande kommen kann, bedarf es vieler Beitragender, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Mein Dank gilt zuerst Thomas Levy, von dem der Großteil 11 Lisa Ortner-Kreil: „Der schönste Vokal“ – Bild und Text-Interferenzen bei Meret Oppenheim, in: Meret Oppenheim Retrospektive, Ausst.- Kat., Wien/Berlin 2013, S. 270. 256 9 der Arbeiten in dieser Ausstellung stammt, und seiner Mitarbeiterin Marlen Linke, die beide immer ein offenes Ohr für Fragen und Wünsche hatten und schnell und unkompliziert mit ihrer Hilfe zur Verfügung standen. Mein Dank geht außerdem an Franz Mäder aus Basel, der ebenfalls einige spannende Leihgaben zur Verfügung gestellt hat und mir mit seinem umfangreichen Wissen über Meret Oppenheim zur Seite stand. Danken möchte ich auch Lisa Wenger, der Nichte Meret Oppenheims, die zwei frühe Zeichnungen ihrer Tante aus ihrem Privatbesitz zur Verfügung gestellt hat und mich in der Casa Constanza in Carona herzlich und offen empfangen hat, um mir spannende Einblicke in das wundervolle Wohnhaus ihrer Tante zu gewähren. Für ihre tatkräftige Mitarbeit bei den umfangreichen Vorbereitungen zur Realisierung dieser Ausstellung danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen vom ganzen Team des Kunstmuseums Ahlen, vor allem Dominique Pichon und Heinz Düding. Mein besonderer Dank gilt Peter Sagurna, der zusammen mit unserem fleißigen Praktikanten Julian Wiehagen mit seiner gewohnten Umsicht und Sorgfalt diese Ausstellung eingerichtet hat, die mit ihrer Vielzahl von Exponaten einige kniffelige Hürden bereit hielt. Meinen Vorgesetzten Burkhard Leismann und Rüdiger Hartleb danke ich für das Vertrauen, dass sie mir bei den Ausstellungsvorbereitungen geschenkt haben. Und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich jetzt ganz herzlich für’s Zuhören. Susanne Buckesfeld, stellvertretende künstlerische Leiterin Kunstmuseum Ahlen
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