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Reise und Kultur
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Zu wenig Biss
Der Australopithecus sediba war dem Menschen ähnlicher als dem Affen
Wer ist überhaupt der Australopithecus sediba
(übersetzt: ursprünglicher südlicher Affe)? Er ist
eine Art der Gattung des Australopithecus, der
vor rund zwei Millionen Jahren in Südafrika lebte.
Entdeckt wurden die ersten beiden Skelette 2008
in der Malapa-Höhle bei Johannesburg. Bei den
Funden handelt es sich um einen jungen Erwachsenen und eine ältere Frau. Wahrscheinlich gerieten die beiden in einen Erdrutsch, sodass ihre Knochen ungewöhnlich gut erhalten blieben. Auch die
Zähne sind gut konserviert. Ein Forscherteam untersuchte Schädel und Skelette und schrieb über seine
Entdeckung im Fachmagazin „Nature“. Die Ergebnisse liefern Indizien dafür, dass der Australopithecus bereits weitaus moderner war als die etwa
zur gleichen Zeit lebenden Vormenschen Homo
habilis und Homo rudolfensis. So sei die Hand
ähnlich gut entwickelt wie beim Homo sapiens.
Der Vormensch habe auch ein sehr menschenähnliches Becken besessen, berichteten die Forscher. Mit 440 Kubikzentimetern sei sein Gehirn
dagegen eher klein gewesen, es hätte aber bereits
eine relativ moderne Form gehabt.
Ungewöhnliche Essgewohnheiten
2012 erfolgte eine erste Analyse des Zahnsteins.
Sie ergab, dass auf dem Speiseplan des Australopithecus sediba neben Gräsern und Früchten auch
Holz, Baumrinde und Blätter standen. Versteinerte
Überreste dieser Pflanzen im Zahnstein waren für
die Wissenschaftler der Beleg. Der Isotopenanalyse
nach ernährte sich der Vormensch eher wie ein
heute lebender Schimpanse. Auf der Suche nach
Nahrung bewegte er sich mehr in Wäldern und
kleinen Gehölzen als in der grasbewachsenen Savanne. Unterstrichen wurde das Ergebnis durch die
ungewöhnlichen Abnutzungsmuster der Zähne.
Zuvor hatten Forscher bereits 81 andere Vor- und
Foto: Peter Schmid/Lee Berger, University of the Witwatersrand
„Damit Sie auch morgen noch kräftig zubeißen
können“ – das galt nach neuesten Erkenntnissen
offenbar nicht für den Australopithecus sediba.
Denn zum Nüsse knacken, Baumrinde oder harte
Blätter kauen waren sein Kiefer und seine Zähne
nicht gemacht.
Der Australopithecus sediba nutzte seine Hände noch zur Fortbewegung in Bäumen, verfügte aber zugleich bereits über die Fähigkeit des menschlichen Präzisionsgriffs, eine Voraussetzung zur
Werkzeugherstellung.
Frühmenschen untersucht. Keiner entsprach dem
neuen Muster, das sich durch mehr Furchen und
Rillen als üblich auszeichnet. „Die meisten Australopithecinen besaßen erstaunliche Anpassungen
ihrer Zähne, Kiefer und Gesichter, die es ihnen ermöglichten, auch Nahrung zu essen, die schwer
zu kauen oder zu knacken war“, erklärte David
Strait von der Washington University in St. Louis.
„Unter anderem konnten sie mit enormer Kraft
zubeißen.“ So lautete der wissenschaftliche Stand
vor vier Jahren.
Schwachstelle Kiefer
Nun nahmen sich Forscher der University of New
England nochmals des Australopithecus sediba
an, genauer gesagt: seines Kiefers. Dabei kamen
sie zu einem überraschenden Ergebnis. Zwar nahm
er Nüsse und Baumrinde zu sich, aber das war wohl
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Foto: Brett Eloff/Lee Berger, University of the Witwatersrand
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Der Schädel eines der in der Malapa-Höhle gefundenen Vormenschen wurde in den vergangenen zwei Millionen Jahren gut konserviert.
Das 3-D-Modell zeigt die Belastung während eines Bisses.
Foto: Lee Berger, University of the Witwatersrand
eher die Ausnahme als die Regel. Denn er war
schlicht und ergreifend für diese Art der Ernährung nicht angepasst. Sein Kiefer war recht grazil, sodass er auf Dauer nicht so kraftvoll zubeißen hätte können, wie es für diese Nahrung erforderlich gewesen wäre. Außerdem hatte er im
Anthropologe Lee Berger mit seiner Entdeckung, dem Skelett eines
Australopithecus sediba
Vergleich zu anderen Arten des Australopithecus
kleine Molaren und Prämolaren. Zudem waren
die Muskelpartien nur schwach ausgeprägt und
wiesen nur einige Merkmale auf, die die das Gesicht stützende Hebelwirkung erhöhen würden, so
die Einschätzung der Forscher. „Wenn er seine Backenzähne mit der vollen Kraft seiner Kaumuskeln zusammengebissen hätte, dann hätte er sich
den Kiefer ausgerenkt“, fasste es der Anthropologe
Justin Ledogar zusammen. Ein „Nussknacker“, wie
der Australopithecus auch genannt wird, war er
wohl eher nicht.
Australopithecus sediba ein enger Vorfahr?
Die neuen Erkenntnisse könnten ein weiteres Rätsel lösen. Denn bis dato galt der Australopithecus sediba als „rätselhafter Vormensch“. Denn er
konnte nicht genau in den Stammbaum des Hominini eingeordnet werden. Folglich wurde er einem
Seitenast des modernen Menschen zugeordnet.
Das könnte sich nun ändern, denn die begrenzte
Beißkraft ist auch ein Charakteristikum des Menschen. Nach Ansicht der Anthropologen könnte
das Wissen um den Speiseplan unserer Vorfahren
und dessen Änderungen dabei helfen herauszufinden, wie diese Vormenschen begannen, sich zum
Frühmenschen zu entwickeln. Fragen bleiben dennoch viele offen: Seit wann existierte die Art? Wie
lange existierte sie? Und warum ist sie ausgestorben? Ob diese Fragen beantwortet werden können, ist ungewiss. Denn bisher wurden erst vier
Skelette entdeckt.
Ilka Helemann