Kistenpass - Neue Zürcher Zeitung

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Samstag/Sonntag, 27./2S. August 1983
WOCHENENDE
Nr. 199
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Äfjcr peilung
Seit April hat Alex die Herde Stufe für Stufe in die Höhe
getrieben, hinaus aus den Brigelser Ställen zuerst auf das Vorsäss, immer bis knapp unter die Schneegrenze, von dort auf die
Bündner Alpen, und morgen soll sie, was das moderne, leistungsorientierte Zweinutzungsrind nicht mehr ohne Schaden
schafft, hinüber über den Pass. Heute muss die weit verzettelte
Schar gesammelt werden.
Doch vorher noch Rast auf der Alp Rubi Su, wo den zweiten
Sommer Ma Ananda aus Samaden haust, eine Sanyasin, als
Bhagwan Shree Rajneeshs Jüngerin erkennbar an der altlila Hirtenkutte und am Porträt des Meisters, das in der Kultecke der
Hütte hängt. Tagsüber besorgt Ma Ananda 130 meist trächtige
Rinder und eine Milchkuh, letztere zur Selbstversorgung;
abends feiert sie bei Kerzenlicht und Radio 24 die Einsamkeit.
Ma Anandas Käse pfeift zwar furchtbar durch die Zähne, denn
weil es gedonnert hat, als sie die Harfe durch das Kessi zog, ist
die Milch versauert; aber unter die Hörnli gerieben, schmecken
die Laiblein ganz gut.
Jahrtausendelang, mag sein auch nur Jahrhunderte, haben
Paarhufer Kuhtritte in die Rutschpartien getrampelt, ein dichtes
Netz von Fältchen, wie Runzeln auf dem Gesicht eines Alten.
Seit drei Wochen haben sich die Schafe auf der Alp Frisel verkrochen, als suchten sie Zuflucht in diesem uteralen, steilwandigen Sack, durch dessen enge Oeffnung silberngleissende Wässerchen über den Geröllkegel Richtung Alp Rubi mäandrieren.
Kein Tier ist zu sehen, manches jedoch zu hören. Die Hänge
ringsum: glasig grüngelbe Wände aus goldenem Klang, endlose
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Aufstieg vor Sonnenaufgang von der Biferlenhüiie (Bändner Seile) aus Richtung Kistenpass.
Texturen aus Glocken und Bäh.
Nachdem vor einem Jahrzehnt so schwer der Julischnee fiel,
dass ein Dutzend Stück Galtvieh über das Felsband abstürzte,
wird die Alp Frisel nur noch mit Schafen geladen, und die Hütte
von damals ist zum Jagdstand ausgebaut, ein steinernes Bollwerklein am Rande schmelzwasserschwitzenden Lawinenschutts.
Mit 700 Schafen über den Kistenpass
Von Markus Mäder (Text) und Heinz Baumann (Aufnahmen)
Zehnstündige Marsche, um über Schierer und Schnee eine
unwirtliche Alp zu beladen
das war nie eine gute Lösung,
weder für Mensch noch Tier; aber eine bessere hat Brigels bis
gefunden.
Zwanzig
heute nicht
Franken Sömmerungsgeld pro
Tier und im Gegenzug fünf Franken bis fünf Franken fünfzig
pro Lebendkilo Lammfleisch im Frühjahr, das ist eine Rechnung, die per saldo immer noch recht vorteilhaft aussieht.
Als am 23. Januar 1866 die Bündner Gemeinde Brigels die im
Glarnerland gelegene Alp Limmern für 8000 Franken von Alleinbesitzer Andreas Zweifel aus Linthal käuflich erworben hatte, weil sie diesem nicht mehr rentierte, zogen noch im gleichen
Jahr, zum erstenmal Anfang Juli, Bündner Schafe über den Kistenpass ins Glarnerland zur Sömmerung und Anfang September wieder zurück ins Vorderrheintal.
Aber es stürzten Hirten zu Tode, wurden von Lawinen verschüttet, im Schnee begraben; Brigels beschloss im Jahre 1912,
die Alp für 22 000 Franken und eine zusätzliche Entschädigung
von drei Rappen je erzeugte Kilowattstunde an die Firma Motor
AG für angewandte Elektrizität Baden, die heutige NOK, zu
veräussern, die dort später einen Stausee baute. Seither wird die
Alp nur noch in Pacht genommen, für 200 Franken im Jahr. Die
Schafe werden noch immer hinübergetrieben, wenn auch nicht
mehr in Herden von 2000 Stück wie in der Anfangszeit, auch
nicht mehr zu 1200 wie noch in den vierziger Jahren, doch auch
700 sind noch eine stattliche Zahl.
Schon seit 16 Sommern hütet Alex Degonda Schafe; im Winter hütet er die Seilbahn-Bergstation auf dem Piz d'Artges nebenan. Zum Treiben heute und morgen begleiten ihn Michael
Friberg, Lehrer in Brigels, und Augustin Cavegn, der sonst in
den Emserwerken Polyesterfäden spinnt. 37 Brigelser halten
noch Kleinvieh. Bauern sind darunter, aber auch der Schlosser,
der Schreiner und solche, welche zur Arbeit ins Rheintal hinunterpendeln. Cavegn hat 18 Tiere auf der Weide. Mit etwas Glück
schaut etwas heraus Ende Jahr. Fribergs Vater hält 15 Schafe,
weil sie im Winter aus der Krippe fressen, was seine 35 Stück
Grossvieh sogar als Streu verschmähen.
Wie Wattebäuschchen kleben die «Weissen Alpenschafe»
() W A S an den senkrechten Wänden, und bis zum Einnachten
dauert die Arbeit, graue, zuckende Schatten über graue, schlüpfrige Schieferplatten zu scheuchen. Alex, der Hirt, mit Gamaschen wie ein Springpferd, aber kurzatmig, weil er es gewohnt
ist, bis auf den Filter in die Lunge zu inhalieren, muss hoffen,
dass sie ihm horizontal davonhasen, sonst kommt er bös ins
Keuchen, kriegt nie mehr alle über den Flab-Zielhang hinaus in
die Senke unterhalb der Bifertenhütte.
In der Bifertenhütte auf zweivier ungrad war vor einer Woche
noch das Wasser eingefroren; jetzt kann man die Zähne putzen
und das Paket UP-Milch aus dem Rucksack warmmachen, während Bobby, der einzige Bergsteiger dieser Nacht, einen Heftliroman durchbisst und über Aehnlichkeiten zwischen einer Steilwand und seiner Honda Bol d'Or philosophiert: Am Karabiner
hängen und am Gaskabel ziehen sind fast dasselbe
Hobbies
für Lebensmüde wie das Fixen, nur dass Alpinisten und Fixer
weder Lizenz noch Nummer zu lösen brauchen. Im übrigen auch
hier: Kerzenlicht und Radio 24. Roger Schawinski berieselt das
Alpenland; dank sei dir, gelobter Sender; jeder hier oben empfängt deine Spenden, denn wo eine Hütte steht, steht auch ein
Transistorradio. Dazu Gespräche über Schafe, und je tiefer die
Nacht, desto mehr über Böcke.
Durch die erste Morgendämmerung, weisslich ist sie, mit roten Schlieren durchzogen wie Brieschmilch, beissen jenseits des
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Auf der Glarner Seite
des Kistenpasses. Nach einem beschwerlichen Abstieg über rutschige Schneefelder erreicht die Herde die frischen Weiden der Limmemalp.
Neue Zürcher Zeitung vom 27.08.1983
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SunsUa/SonnUg, 27728. August
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Tates die Zähne des Rheinwaldhorns. Noch haken die Enziane
die Blütendeckel zu. Hüttenwart Felix hisst die Fahne, und Alex
zieht los, als heisse er Heiri, habe ein Kalb verkauft und im Niederdorf Ausgang: Mit Zipfelmütze, marineblauem Veston und
vielkarätiger Goldplaque-Uhr. Die Schafe haben sich verteilt in
der Senke unten über Nacht, helle Punkte auf einem blökenden,
bimmelnden Feld, das beim ersten Nahen der Treiber unversehens auf doppelte Grösse expandiert und stets dort ausfranst, wo
einer ordnend Hand anzulegen versucht. Man könnte auch einen Sack Flöhe dressieren: Wer es schafft, dass sich die Herde
allmählich zusammenknäuelt, um sich alsbald in langen Schnüren den Kistenpass emporzuwinden, ist halb Appenzeller, halb
Bergamasker: Zitta, der Bastard, der Alex Schritt für Schritt die
Schnauze in die Kniekehle bohrt, auf Befehl bellt, sich löst von
seinem Herrn und davonwieselt, um den widerspenstigen Objekten den Galopp beizubringen. Arme Lämmlein, keine zwei Wochen alt, noch baumelt ihnen die Nabelschnur am Bauch. Mit
der Büroschere hat Alex ihnen soeben die Ohren geschlitzt. Nun
schauen sie aus blutigen Köpfen, ob Zitta nicht bald das Zeichen
zum Beissen bekommt.
Wie das erste Sonnenlicht aufs Rheinwaldhorn fällt, ist der
Kistenpass schon bald erreicht. Pass ist gut. Ein verschafkegeltes
Sulzschneefeld, saharafarben, markiert mit weiss-rot gestreiften
Aluminiumstangen, die windschief die Wegspur im Zickzack
steil aufwärts markieren, steil genug, dass Alex piano, piano
stöhnt und die Hand aufs Knie stützen muss für eine geraume
Zeit. Man braucht gar nicht zu treiben vorläufig, nur zu achten,
dass die Schnur nicht abreisst, und Friberg soll endlich stehen
bleiben, Geduld haben, auf keinen Fall hetzen, keine Nerven
ansägen, er hat es hier nämlich mit Schafen und nicht mit seinen
Schülern zu tun.
Ach, wenn man es zu deuten verstünde, dieses vielstimmige
Blöken, hoch und tief, ausdrucksstark und doch modulationsein siebenhundertstimmiger, chaotischer Chor, der so
arm
schrecklich menschlich stets dasselbe schreit: unmissverständlich
und rk l a Bäh.
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Kurie Rast auf der
Passhöhe. Die Tiere suchen die aperen Stellen vergeblich nach Kräutern ab.
frisch verschneiten Hängen ziehen mussten, 15 Stück pro Fang,
während am Landeplatz der Metzger stand, um den vor Angst
Verendeten das Blut abzulassen. Ueber SO Lämmer hat das gekostet, und wenn die zwanzig Widder April und Mai jeweilen nicht
in den Ställen eingesperrt wären, damit die Zahl der Alpgeburten niedrig bleibt, wären die Verluste noch grösser gewesen.
Bäh blökt Alex ein Felstrümmerfeld empor, Bäh ruft's zurück. Dort stehen drei, eins, das lahmt, und eins mit einem
Lämmlein, kaum fähig zu stehen, ein ungenügend aufgepumptes
Gummitierchen auf zu hohen Beinen. Mag Zitta noch so die
Haare sträuben, noch so bärbeissig hinaufbellen, die Antwort
tapfer allervon oben beschränkt sich auf einen milden Blick
dings die Mutter, wie sie der Gefahr die Stirn bietet, wie sie
schützend über das Kleine hinweg ihren Schafskopf dem Hundebiss offeriert. So bleiben einige halt immer zurück, ohne verlorenzugehen deswegen, treffen doch welche noch zwei bis drei
Wochen später als Nachzügler ein.
Oben auf zweiachthundert hat die Erosion das Gestein zersetzt. Hier verwaschener Schiefer, vielschichtig dünn und brüchig wie Blätterteig, dort als schmierig schwarzer Schlick, wie
mit Altöl getränkt. Auf der kantigen Krete schwänzeln Föhnfischchen den Steinböcken zwischen den Hörnern durch. Scherenschnitte vor einem veilchenblauen Firmament, aber man
muss den Kopf sehr stark nach hinten in den Nacken werfen, als
sitze man Sperrsitz vor. der Breitleinwand, und den Feldstecher
sehr scharf fokussieren, damit man sie erlinst als zitternde Chimären über der Felsriegelbarrikade, wie sie sich aufblähen zum
Postkartensujet, drei, vier, fünf Stück aufs Mal, wie sie mit
ihrem Kopfputz kokettieren, um wieder abzutauchen
ob vor
Schräge Schneefelder, fast eine Stunde lang ein aussichtsloses
Patt zwischen Locken und Blöken. In harten Jahren muss man
das Eis wegpickeln in dieser Traverse auf der andern Seite des
Passes. So weich wie heuer war es noch selten. Trotzdem will
keines der Tiere den ersten Schritt hinab tun, sie haben schon
g e n u Schnee geschnüffelt, wollen nicht noch einmal hinein,
mag sich Zitta die Stimmbänder zu Schmirgeltuch bellen. Was
soll ein Schaf in dieser bleichen Mulde unten suchen. Lieber ein
Fangzahn im Bein als einsinken bei jedem Schritt, dass die nackten Zitzen Spuren in die kalte Oberfläche ritzen. Der Muttsee am
Boden der Mulde gibt sich nur als flache Stelle mit hellblauen
Abbrüchen an den Rändern zu erkennen.
Treiber Augustin Cavegn und Hirt Alex Degonda. Nur mit dem Feldstecher
sind die Tiere an den gegenüberliegenden Hängen auszumachen.
Das Bäh ist allmählich zu einem larmoyanten Gewimmer
geworden, bis unversehens der erste Strahl der milden Bergsommer-Morgensonne eine Entscheidung bringt: Dunkelblaue
Schatten fallen ins Tal, und mit Salz ist das Leittier jetzt auf den
Schnee zu locken: In zwei dünnen Rinnsalen rieselt die Herde
nun zum Muttsee hinab. Augustin voraus mit Glocke, Salz und
Hirtenstab, hinten Alex, dazwischen Michael Friberg. Zu sol-
(
Uebemachten in der Bifertenhütte. Die Schafe weiden unbeaufsichtigt unterhalb der Hütte.
Mit einer Büroschere schneidet Alex Degonda den Lämmchen Marken in
die Ohren.
oder hinter die Krete, ist nicht auszumachen bei vier Blenden
Differenz zwischen Schatten und Licht.
Kaum ist die Herde passwärts verschwunden, stossen von
oben der Steinbock und die Gemse auf den verlassenen Etappenplatz herab, um zu holen, was noch zu holen ist. Flabgagel
sind es vor allem, in den verschiedenen Stadien der Korrosion.
Denn zivilisatorisch ungenutzt sind auch die abgeschiedensten
Landstriche nie in unserer Heimat. Auf Schafe, Steinböcke und
Touristen folgen die Soldaten, welche von Brigels aus ballistische Parabeln an den Himmel zeichnen. Dazwischen kommen
die Patentjäger
das wäre noch, wenn die Flabkanoniere mit
ihrem 20-mm-Kaliber im Bogenschuss vom Tal aus einem Grattier den Blattschuss applizierten; in der Regel aber perforieren
sie nur Disteln und Flechten.
Die Limmernalp ist eine schwer zugängliche Alp. Steil ist es
wie am Säntis. Gefährlich eigentlich nicht, aber tückisch, unheimlich heimtückisch: man braucht nur einmal zu rutschen,
,
fasst keinen Tritt mehr
und ein für allemal ist das Zahnweh weg,
kuriert im tausend Meter tiefen Hexenkessel, in dem, nie von
einem Sonnenstrahl erhellt, quecksilbergrau schimmernd im
Grau der Felsen der Limmernstausee verschlingt, was übrig
bleibt von einem im freien Fall. Zitta, Diabl, Huere Idiot
Romanisch von handlicher Uebersetzbarkeit
, was hetzest du
das Lämmchen fort vom Weg, hinab ins Desasterl Fast jedes
Jahr gehen weiche kaputt, meistens mehr als eins aufs Mal, weil
sie einander vertrauend folgen, blind für Gefahr.
Wenige Jahre ist's her, dass vier Helis der Armee die Herde
im Herbst mit Netzen wie einen Schwarm Sardinen aus den
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Die Herde in Brigels. Sobald im Frühjahr der Schnee schmilzt, werden die
Tiere der verschiedenen Besitzer auf gemeinsamen Weiden aneinander
gewöhnt.
chen Bildern drängt sich Allegorisches auf: Verlorene Seelen,
von Todesengeln ins Jenseits geködert. Wenn diese Wesen doch
mehr als Bäh sagen könnten, man könnte sie fragen. Wer weiss,
vielleicht verstehen sie uns, Wort für Wort.
Kaum sind die ersten Kräuter eine halbe Stunde voraus in
Riechdistanz, haben auch die Schwächsten ihren Hungerast
überwunden, hüpfend vermögen sie plötzlich wieder der Stärkern Hinterhand zu halten, saure Muskeln hin oder her, und für
den Rest der Strecke braucht Alex nicht mehr zu folgen.
Der peilt die Muttseehütte an, steckt sich eine Parisienne an
und sagt «So!», während Hüttenwart Heini Caduff in Stars-andStripes- Hosenträgern und Cowboyhut den Touristen, die vom
Tierfehd aus über das Muttseewändli heraufgekraxelt sind,
«Heini Caduff Muttsee Bergvagabunden»-Fan-T-Shirts verkauft
und allen eine echte Muttsee-Suppe mit Schüblig und 2Sjähriger
Erfahrung serviert
Alex hat da oben von Anfang Juli bis Anfang September gratis Kost, TV und Logis, schaut, dass keins seiner Schafe über die
Kreten den Blicken entschwindet und führt die Sprungkarten
nach. Er muss ja nicht täglich hinter allen her sein. Die Tiere
sind abgerichtet, dass sie selber Salz (ecken kommen. Wenn Alex
ausser seiner Geröllhaldenakrobatik genügend Hüttendienst leistet, entschädigt ihn Heini nicht nur zusätzlich, sondern schaut
auch in beider Interesse, dass er nicht zu viele Raschen höhlt.
Mangel muss keiner leiden in diesem Lokal, denn es wird ja wie
die meisten anderen per Heli versorgt. Der disloziert auch die
Kompanie Pavagsäcke, die im Hüttenschatten Zweierkolonne
übt, zur Verbrennung ins Tal.
Neue Zürcher Zeitung vom 27.08.1983