Was an diesem Tag ist eigentlich genau heilig?

Sylvia Wage
Das Christkind
trägt Prada
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Schreibwettbewerb
Weihnachtsgeschichten 2015
Erschienen zum 4. Advent 2015
Text: Sylvia Wage
Coverabbildung: © iStockphoto.com
Jury: Hannah Mordhorst, Jessica Küster, Harald Krämer
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Heiligabend
Was an diesem Tag ist eigentlich genau heilig?», stöhnt
Frida, als sie mit Mühe einem Stapel Geschenke für die Kinder ausweicht, der das ganze elterliche Schlafzimmer in Besitz
zu nehmen droht. Im Geiste geht sie zum wiederholten Mal
ihre To-Do-Liste durch: Aufräumen. Gänsebraten und Kartofelknödel zubereiten. Tisch decken. Dafür sorgen, dass alle
ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben. Wie immer. Die
Frida, die macht das schon, – was ist sie nur für eine wunderbare Gastgeberin! Stets freundlich, gut gelaunt – ganz die
perfekte Ehefrau und Mutter.
Den ganzen Vormittag ist sie schon alleine in ihrem Häuschen am Stadtrand von Berlin, das Jan für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte, fünf
Jahre müsste das jetzt auf den Tag genau her sein:
«Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir etwas Größeres.» Sie hat zugestimmt.
Vielleicht hat sie in letzter Zeit etwas zu ot ‹ja› gesagt. Ja, geh
nur vormittags mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt,
ich schafe das hier schon. Ja, laden wir doch Oma Anita und
Opa Bernd an Weihnachten zu uns ein. Klar kann dein Bruder David auch kommen. David, der sich hier wie jedes Jahr
einnistet, keine Geschenke für die Kinder dabei hat und das
ganze Haus durch seine arrogante Art einzunehmen scheint.
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Sie fröstelt bei dem Gedanken an ihren Schwager …
Ihr Blick bleibt an der roten Küchenuhr hängen, die ihre besten Tage hinter sich hat. Im Grunde bin ich wie diese Küchenuhr, sagt Frida laut und erschrickt, als ihre Stimme im leeren
Haus hallt. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn, ganz
so als könnte sie die Gedanken einfach fortwischen.
Das laute Schrillen der Türglocke holt sie abrupt in die
Realität zurück. Ausgeschlossen, dass es schon die Familie
ist. Hierhin verirrt sich doch eigentlich keiner – schon gar
nicht an Heiligabend, seufzt Frida und öfnet langsam die
Tür …
Draußen steht das Christkind, sieht sie an und rut freudestrahlend: «Überraschung!».
Frida macht die Tür wieder zu.
Atmet tief durch.
Und macht dann die Tür wieder auf.
«Hey», sagt das Christkind, «ich dachte, du freust dich.»
«Natürlich freu ich mich», wird Frida nicht müde zu betonen, als sie dem Christkind, das genau genommen nicht das
Christkind, sondern ihre Freundin Stefanie ist, Plätzchen und
Kafee hinstellt. «Ich freu mich total! Aber du weißt doch, wie
das ist an Heiligabend.»
Stefanie sieht Frida über ihre Tasse hinweg an und macht
nicht den Eindruck, als wisse sie, ‹wie das ist an Heiligabend›.
«Hier bricht der Irrsinn aus. Die Familie kommt und will
Gänsebraten, die Kinder drehen total durch – und wie ich
meinen Mann kenne, hat er sie mit Zucker vollgestopt. Und
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dann noch sein furchtbarer Bruder, dieser arrogante … oh
mein Gott, dein Mantel!»
Stefanies weißer, knöchellanger Mantel, aus feiner, seidig
glänzender Wolle liegt achtlos über einem der Küchenstühle.
«Hast du eine Ahnung, was alles an unseren Küchenstühlen klebt? Da sind Ketchup und Marmelade noch das
Harmloseste!» Frida nimmt den Mantel und hängt ihn sorgsam auf einen Bügel.
«Den hab ich aus New York», sagt Stefanie unbeeindruckt.
«Prada. Ist der nicht himmlisch?»
«Du siehst darin aus wie das Christkind. Deine blonden
Locken noch dazu …»
«Du nun wieder!» Stefanie schlägt die langen Beine übereinander, lacht. In Fridas von Weihnachtsvorbereitungen,
Kinderzeichnungen, Terminkalendern und selbst gebasteltem Schmuck überquellender Küche sieht sie auf einmal nicht
mehr aus wie das leibhatige Christkind, sondern eher wie ein
Alien.
«Hör mal, ich muss kochen, aber du kannst erzählen», sagt
Frida und wuchtet die Sieben-Kilo-Gans auf die Arbeitsplatte.
Und Stefanie erzählt. Von ihrem Job als Modebloggerin, Reisen nach Paris, New York und Mailand, von Männern und
Fotografen und Trends – und das alles, während Frida mit
der Hand im Hinterteil der Gans steckt und versucht, die
Reste des Gänseeierstocks und der Gänselunge zu entfernen.
Stefanie ist gerade bei den Katastrophen angelangt; zum Beispiel, wie sie dieses eine Männermodel, den aus der Uhrenwerbung …
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«Welche Uhrenwerbung?», fragt Frida.
Stefanie verdreht die Augen.
«Gott», sagt sie, «ich dachte nicht, dass du mal so ‹ne Vorstadtmutti wirst.»
«Ich auch nicht.»
«Wie ist das denn so? Hier draußen auf dem Land?»
«Ziemlich scheiße ist das», sagt Frida und fängt beinahe
an, auf die Gans zu heulen.
Stefanies Fähigkeiten liegen eindeutig im Bereich Party &
Fun – Trösten, Aubauen und Händchenhalten, das war noch
nie ihre Stärke. Als Frida damals den schlimmsten Liebeskummer ihres Lebens hatte, schleppte ihre Freundin eine
Horde Jungs an und schlug vor, Strip-Poker zu spielen. Frida
redete zwei Wochen nicht mit ihr, sah dann aber ein, dass Stefanie eben Stefanie war.
«Ich hab dir Schuhe als Weihnachtsgeschenk gekaut», sagt
Stefanie. Aber Frida sieht so elend, so unglücklich und so
überhaupt nicht nach Weihnachten aus, nicht einmal als Stefanie ihr die Schuhe zeigt, dass es nur noch eine Lösung gibt.
«Wir tauschen», sagt Stefanie.
«Wie bitte?»
«Wir tauschen. Ich habe 'ne Woche Tenerifa-Wellness
gebucht, aber da liegst du jetzt hin.»
«Äh …»
«Ich wollte schon immer mal Hausfrau und Mutter sein.
Wird eine neue Erfahrung. Der Flug geht in drei Stunden, du
hast genug Zeit, um zu packen.»
«Was?»
«Was du packen sollst? Na, Bikini, Bademantel, vielleicht
'nen Pulli, ein Abendkleid, diese Richtung.»
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«Ähm?»
«Apropos – wie macht man eigentlich eine Gans?»
Stefanie krempelt die Ärmel ihrer weißen Seidenbluse hoch
und betrachtet voller Tatendrang den nackten Vogel.
«Du füllst sie mit Äpfeln, Brot und Beifuß.»
«Füllen?»
«Du schiebst es ihr in den Hintern.»
«Ach so!»
«Dann für sechs Stunden in den Ofen bei …»
Es ist absurd. Das geht natürlich gar nicht. Überhaupt nicht.
Frida kann doch nicht ihre Familie am Heiligabend einfach
allein lassen und nach Tenerifa liegen. Das ist völlig bekloppt. Absolut unmöglich.
Fridas Vernunt brüllt sich heiser in ihrem Kopf – und
doch steht sie jetzt zum Einchecken am Ablugschalter. Sie
und ihr Kofer – auf nach Tenerifa! Eine Woche, eine ganze
Woche nur sie, der Strand, Wellness und Cocktails!
Am ersten Weihnachtstag erwacht Frida. Sie kann es kaum
glauben, sie ist wirklich in Tenerifa, sie hat nicht geträumt,
vor ihrem Fenster der Strand, das Meer …
Das Abendessen, ein wunderbares Drei-Gänge-Menü im
gediegenen Ambiente des Hotels. Die nette Bekanntschat
zweier Frauen, die nur wenig jünger waren, aber noch ungebunden und in Partystimmung. Das Tanzen im Club. Frida
hat alles hinter sich gelassen. Weihnachten, ihren Mann, die
Kinder, Oma Anita und Opa Bernd, den arroganten David,
die Gans.
Einfach ausgeblendet.
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Nun kracht all das förmlich in ihr Bewusstsein zurück.
Tränen schießen ihr in die Augen. Sie hat ihrer Familie Weihnachten kaputt gemacht. Sie hat …
Frida greit zum Smartphone, wählt die Festnetznummer
von daheim – es klingelt:
«Huhu! Frohe Weihnachten». Stefanies Stimme. Sie klingt
wie immer. Also quietschfröhlich und leicht überdreht.
«Stei? Wie lief es?»
«Du hättest die Gesichter sehen sollen!»
«Oh …»
«Ach was ‹oh› – ich hab einfach gesagt: ‹Das Christkind
war da und hat Mama in den Urlaub geschickt. Und es hat
gesagt, wenn ihr nicht allesamt hier für ein tolles Weihnachten sorgt, so dass Mama sich keine Gedanken machen muss,
dann kriegt ihr keine Geschenke.› Basta.»
«Und das hat funktioniert?»
«Bei den Kindern super – nur dein Mann schaute bisschen
bedröppelt.»
«Hm …»
«Den hab ich dann die Gans braten lassen.»
«Aber Jan kann doch gar nicht kochen!»
«Deswegen gab es ja auch Pizza.»
«Pizza!»
«Oma Anita fand das erst nicht so gut, aber ich hab dann
eine Variante mit Camembert und Preiselbeeren gefunden,
die war super. Und Opa Bernd habe ich das Geschirr spülen
lassen.»
«Was? Wir haben doch eine Spülmaschine!»
«Schon, aber der hatte so rumgemeckert wegen der Pizza,
da dachte ich, Strafe muss sein.»
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«Und David?»
«David? So ein charmanter Typ! Warum hast du mir den
vorher noch nicht vorgestellt?»
David, charmant? Frida traut ihren Ohren nicht.
«Jedenfalls haben wir dann Weihnachtslieder gesungen
und Geschenke ausgepackt – ich hab alles geilmt, damit du
es dir anschauen kannst, wenn du wieder da bist. Deine Jungs
bauen jetzt gerade ihr Lego auf, hörst du sie?»
«Nein ...»
«Juuuuungs! Mama ist am Telefon, sagt mal ‹Frohe Weihachten›!»
FROHE WEIHNACHTEN, MAMA … brüllt es im Hintergrund, und dann noch irgendwas von ‹Erhol dich gut und
komm bald zurück›.
Jetzt fängt Frida wirklich an zu weinen, aber es sind ganz
andere Tränen als zuvor.
«Moment, dein Mann will dich … tschühüsss, hab 'ne gute
Zeit, ich mach das hier schon! David bleibt für 'ne Woche da
und hilt mir.»
«David? Bleibt?»
Aber Stefanie ist schon weg und stattdessen Jan am Telefon.
Frida hat einen Frosch gigantischen Ausmaßes im Hals. Aber
ehe sie auch nur ein Wort sagen kann, hört sie seine Stimme.
«Schatz? Schatz, ich liebe dich. Ich verstehe jetzt alles –
wirklich – es tut mir so leid. Ich habe keine, absolut keine
Ahnung, wie du diesen Irrsinn hier auf die Reihe bekommst.
Ich weiß es nicht – aber bitte: Verlass' mich nicht. Bitte! Lass
mich mit dieser Familie nicht allein!»
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